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Veröffentlicht am 02.07.2024

Undercover im Bayou

Weg vom Schuss
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Mit schrägen Charakteren und überdrehtem Plot erinnert "Weg vom Schuss" von Jana deLeon ein bißchen an die Romane von Carl Hiaasen. Es gibt darin zwar weniger Kritik an Umweltzerstörung und sie spielen ...

Mit schrägen Charakteren und überdrehtem Plot erinnert "Weg vom Schuss" von Jana deLeon ein bißchen an die Romane von Carl Hiaasen. Es gibt darin zwar weniger Kritik an Umweltzerstörung und sie spielen nicht in den Everglades von Florida, sondern in den Bayous von Luisiana, aber Alligatoren und Waschbären gibt es auch dort.

Dabei hätte sich Fortune, CIA-Agentin und erfahren in allen möglichen Techniken des Tötens, nie vorstellen können, dass es sie einmal in ein verschlafenes Südstaatenstädtchen namens Sinful verschlagen könnte, und dann auch noch als angebliche Nichte ihres Chefs. Da ein Waffenhändler aus dem Nahen Osten jedoch einen Hit auf sie angeordnet hat und es peinlicherweise bei der CIA einen Maulwurf zu geben scheint, muss Fortune vorgeben, eine Ex-Schönheitskönigin und Bibliothekarin zu sein, dabei kann sie weder mit Büchern noch mit Mode viel anfangen.

Als Sandra-Sue soll sie angeblich das Haus ihrer verstorbenen Tante inventarisieren, vor allem aber weit weg sein von allen Gegenden, in denen Auftragsmörder nach ihr suchen könnten. Und das dürfte in Sinful nicht der Fall sein, denn trotz des sündigen Namens ist das Städtchen fromm: Sonntags Kirchgang, die Frauen stricken und backen Kuchen, in die Kneipen außerhalb des Ortes gehen nur die Männer. Aufregung gibt es höchstens nach dem Kirchgang zwischen Baptisten und Katholiken bei Wettlauf um die begrenzen Bananenpuddingvorräte in Francine´s Diner.

Kurzum, Fortune ist sicher, dass sie vielleicht nicht ermordet wird, sich aber zu Tode langweilen dürfte. Dass es dann ganz anders kommt, liegt zum einen an zwei alten Damen, die einige bemerkenswerte Talente haben und eine eigene Agenda zu verfolgen scheinen. Und zum anderen an dem Knochen, den der altersschwache Hund Bones, der ebenfalls zum Erbe von Sandra-Sues Tante gehört, ausgebuddelt hat. Ein Menschenknochen, wie Fortune auf Anhieb erkennt, auch in leicht angekautem Zustand.

Damit wird Fortune in die Ermittlungen der alten Damen hineingezogen, denn die Knochen dürften einem vor fünf Jahren verschwundenen Ekelpaket namens Harvey gehören. Hauptverdächtig ist natürlich die Ehefrau - und die ist eine Freundin der alten Ladies und plötzlich verschwunden. Klar, dass die die Ermittlungen nicht dem örtlichen Deputy überlassen wollen!

Dank der Seniorinnen gerät Fortune in allerhand haarsträubende Situationen, macht unfreiwillig Bekanntschaft mit Sumpfwasser, Dobermännern und Harveys unsympathischen Cousin Melvin. Von wegen also, weit weg vom Schuss! Nicht nur scheint in der überalterten Südstaatenkleinstadt jeder eine Waffe zu haben, trotz sonntäglichem Kirchgang gibt es ein ziemliches Gewaltpotenzial. Blutig geht es in diesem Cozy dennoch nicht zu, vielmehr stellt die Autorin genüsslich Agentenroman-Klischees auf den Kopf. Das Buch ist eher ein Angriff auf die Lachmuskeln und sollte nicht zu ernst genommen werden. Spaß hatte ich beim Lesen jedenfalls reichlich.

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Veröffentlicht am 01.07.2024

Saudade und steile Hügel

Gebrauchsanweisung für Lissabon
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Das schöne an den Reisebänden "Gebrauchsanweisung für..." ist, dass sie weniger klassische Reiseführer als vielmehr persönliche Bekenntnisse, Erzählungen, Geschichten sind und ebensoviel über die Beziehung ...

Das schöne an den Reisebänden "Gebrauchsanweisung für..." ist, dass sie weniger klassische Reiseführer als vielmehr persönliche Bekenntnisse, Erzählungen, Geschichten sind und ebensoviel über die Beziehung des Autors oder einer Autorin zu einer Stadt erzählen wie über die Sehenswürdigkeiten. Als Vorbereitung zu einem Besuch lassen sie sich lesen, viel mehr aber, um die Zeit zum nächsten Besuch in einer Stadt oder einem Land, das man selbst ins Herz geschlossen hat, zu überbrücken. "Gebrauchsanweisung für Lissabon" von Martin Zinggl bildet da keine Ausnahme.

Zinggl schildert das, wofür Lissabon berühmt ist: Fado, Pasteis de nata, die hügeligen Altstadtviertel. Er verbindet das aber stets mit Episoden und Menschen, die dem Ganzen noch zusätzlich Leben einhauchen. Nach 19 Jahren von Besuchen in Lissabon beobachtet er auch die Veränderungen: erst der verfallene Charme, dann die zunehmende Entdeckung durch den Tourismus, Overtourism, Gentrifizierung, Hipstergizierung. Die Ein-Tages-Invasion von Kreuzfahrttouristen und die Verwandlung historischer Stadtviertel in Airbnb-Hochburgen, in denen sich die Einwohner nicht mehr die Miete leisten können.

Auch da Umland von Lissabon findet einen Platz in diesem Buch, seien es die Wälder von Sintra oder die Strände rund um die portugiesische Hauptstadt mit ihren Buchten und Wellen, die so viele Surfer anziehen. Und zwischen aller Kommerzialisierung ist sie doch noch gelegentlich zu finden, die saudade, dieses melancholische Lebensgefühl der Stadt mit ihren steilen Kopfsteinstraßen, Treppen und miradouros, mit ihrem wunderbaren Licht und einem Charme, der -noch - an versteckten Orten der Vereinnahmung durch den Massentourismus trotzt.

Für mich weckt dieses Buch jedenfalls Erinnerungen an die "Stadt des Lichts" und der blau-weißen Fliesen, die bis zum nächsten eigenen Besuch Lissabon-Feeling wecken.

Veröffentlicht am 30.06.2024

Jagd nach einem Fußballtalent

Godwin
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Mit "Godwin" hat Joseph O´Neill eigentlich zwei Romane in einem geschrieben, die sich zunächst nur flüchtig berühren und erst am Ende zusammenfinden. So flüchtig, dass ich zunächst gar nicht merkte, dass ...

Mit "Godwin" hat Joseph O´Neill eigentlich zwei Romane in einem geschrieben, die sich zunächst nur flüchtig berühren und erst am Ende zusammenfinden. So flüchtig, dass ich zunächst gar nicht merkte, dass der Ich-Erzähler gewechselt hatte. Büro-Intrigen und zerplatzende Träume von einem Arbeitskollektiv, in dem solidarisch an einem Strang gezogen wird einerseits, eine atemlose Suche nach einem großen Fußballtalent irgendwo in Westafrika einerseits. Passt das zusammen? Nachdem sich die erste Verwirrung darüber gelegt hat, wer hier eigentlich erzählt, durchaus. Gier und Opportunismus spielen in beiden Plots eine Rolle.

Da ist einmal Lakesha, die Co-Gründerin einer Genossenschaft von technischen Redakteuren in Pittsburgh. Sie ist durchaus Idealistin - Teilzeitgehalt für vollen Einsatz, doch sie glaubt an die Idee des Kollektivs, in dem sie als Enddreißigerin viel Fluktuation erlebt. Doch die Stimmung ändert sich, als sich eine der jüngeren Kolleginnen als Intrigantin entpuppt und die alte Struktur der Genossenschaft zusehends zerbricht.

Auch Wolfe, der andere Ich-Erzähler, arbeitet in der Genossenschaft, auch wenn er sich dort nicht viel blicken lässt. Von seinen linken Idealen hat er sich weitgehend getrennt, als Familienvater spielt Geld plötzlich eine viel wichtigere Rolle und überhaupt ist die Kleinfamilie für ihn wie ein schützender Kokon angesichts des schwierigen Verhältnisses zu seiner Mutter, die ihn und den mittlerweile verstorbenen Vater verlassen hat, als er fünf Jahre alt war.

Ein "Urlaub", der im nach einem unerfreulichen Auftritt im Büro nahegelegt wurde, führt Wolfe nach London zu seinem Halbbruder Geoff, der ihn um Hilfe bei der Suche nach einem jungen Fußballtalent irgendwo in Afrika anfleht. Die beiden Brüder sind sich nicht sonderlich nahe, Wolfe fühlt sich von dem Jüngeren übervorteilt und mit falschen Versprechungen angelockt, doch nichtsdestotrotz unternimmt er die Fahrt - Geoff ist durch einen Gipsfuß nicht reisefähig - nach Le Mans, um einen alten afrika-erfahrenen Fußballscout zu treffen. Ist der Junge auf Geoffs Telefonvideo der Spieler, den der Franzose einmal in Togo zufällig sah und der nach dem Spiel verschwunden war, ein Junge, der wie Messi ist?

Fußball steht in diesem Buch sowohl für Aufstiegsträume als auch für eine Form von Kolonialismus, gleichzeitig schimmert die Liebe zum Spiel immer wieder durch die Dialoge. Namensgeber Godwin, der talentierte junge Spieler, dessen mutmaßlichen Aufenthalt Wolfe dank eines speziellen Computerprogramms ausfindig machen kann, erscheint lange wie eine Fata Morgana. Die Jagd nach dem Fußballtalent vertieft die Risse in Wolfes disfunktionaler Ursprungsfamilie eher noch.

Mit disfunktionalen Familien kennt sich auch Lakesha aus, die in prekären Verhältnissen in einem Schwarzenviertel von Wisconsin aufgewachsen ist. Die Mutter starb früh, ihre ältere Schwester, als Vormund mit 19 Jahren überfordert, traf falsche Entscheidungen und die falschen Männer. Ein Studienberater, der Lakesha ein Vollstipendium für die angesehene Universität in Pittsburgh verschaffte, half ihr dabei, die Weichen ihres Lebens neu zu stellen.

O´Neill lässt angesichts der flüchtigen Zusammenhänge zwischen den Erlebnissen LaKeshas und Wolfes lange Zeit offen, was außer der Genossenschaft der gemeinsame Nenner der beiden Erzählstränge ist. Wie es dann doch zu einer Verbindung kommt, hat mich überrascht. Man braucht beim Lesen ein bißchen Durchhaltevermögen, aber im letzten Abschnitt führt der Autor die Fäden gekonnt zusammen.

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Veröffentlicht am 24.06.2024

Tod eines Polizisten in einem zerrissenen Land

In einem fremden Land
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Kinny Glass arbeitet zwar bei der Polizei, mit Ermittlungen hat sie allerdings in der Regel wenig zu tun: Als Psychologin ist sie mehr für Supervision zuständig, aber auch Ansprechpartner für Polizeibeamte ...

Kinny Glass arbeitet zwar bei der Polizei, mit Ermittlungen hat sie allerdings in der Regel wenig zu tun: Als Psychologin ist sie mehr für Supervision zuständig, aber auch Ansprechpartner für Polizeibeamte in schwierigen Lebenslagen, nach traumatischen Einsätzen usw. In Alfred Bodenheimers "In einem fremden Land" betätigt sie sich dann aber doch als Detektivin, denn der Chef der Bereitschaftspolizei, der sie noch wenige Tage zuvor aufsuchte und über Schlafstörungen klagte, die auch ein Hinweis auf Depressionen sein könnten, ist tot: Während eines Urlaubs auf Zypern stürzte er in eine Schlucht und sowohl die zypriotischen wie auch die israelische Polizei legen sich schnell auf einen tödlichen Unfall fest.

Nach einem Gespräch mit der Witwe stößt Kinny allerdings auf Auffälligkeiten. Eine junge Polizistin, die einen autistischen jungen Palästinenser erschossen hat, sagt im Gespräch mit Kinny, sie habe den Anweisungen des nun toten Chefs gefolgt, proaktiv zu schießen, um Terrorangriffe zu verhindern - also auch dann, wenn noch keine tödliche Bedrohung vorliegt.

Das fremde Land im Buchtitel ist allerdings nicht Zypern, sondern Israel selbst: Wie viele ihrer Landsleute fühlt sich Kinny angesichts der Regierungskoalition Netanyahus, als sei ihr Land plötzlich ein anderes. Als Polizistin kann sie nicht an den Demonstrationen teilnehmen, doch sie fühlt sich den Menschen nahe, die gegen die Justizreform und die Schwächung der Gerichte auf die Straße gehen.

"In einem fremden Land" ist im Sommer vergangenen Jahres entstanden, als noch niemand ahnen konnte, wie der 7. Oktober und der Gazakrieg, die Sorge um die Geiseln das Land noch mehr zerreißen würden. Doch auch so sind die aktuellen Bezüge groß - die Inflation und die Lebenshaltungskosten, mit denen die Israelis zu kämpfen haben, die innere Zerrissenheit und Sprachlosigkeit zwischen Orthodoxen und Säkularen, rechten Siedlern und Linken, die in der neuen Regierung eine Katastrophe sehen.

Zerrissenheit erlebt Kinny auch in ihrer Familie: Sie hat sich zwar schon lange von der orthodoxen Lebensweise ihrer Eltern abgewandt, nun aber wieder stärker Kontakt mit ihnen. Ihr in New York lebender Bruder dagegen zeigt sich unversöhnlich und verweigert jedes Gespräch mit den Eltern, vor allem mit dem Vater. Immerhin kann sich Kinny darauf freuen, zum ersten Mal Großmutter zu werden. Ihr Freund und Immer-mal-wieder Lover aus der Tübinger Studentenzeit kann sie daher nicht so recht in seine Stuttgarter Praxis locken, die er ihr als Ausweg aus der depremierenden politischen Realität in ihrer Heimat anbietet.

"In einem fremden Land" hat zwar einen Krimi-Plot, vor allem aber ist das Buch eine Bestandsaufnahme des modernen Israels und seiner Einwohner, die um die Zukunft ihres Landes ringen - eine Zukunft, über die allerdings immer weniger Einigkeit herrscht. Wie der Chef der Bereitschaftspolizei nun ums Leben kam, wird zwar geklärt, scheint aber angesichts des Gesamtsettings fast schon nebensächlich.

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Veröffentlicht am 24.06.2024

Sektenthriller aus den Südstaaten

Die gehorsame Tochter
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Abigail ist in einer streng konservativen, isoliert lebenden Baptistengemeinde aufgewachsen, man könnte sie auch als Sekte bezeichnen. Dort werden traditionelle Werte gepflegt: Die Männer sind die Ernährer ...

Abigail ist in einer streng konservativen, isoliert lebenden Baptistengemeinde aufgewachsen, man könnte sie auch als Sekte bezeichnen. Dort werden traditionelle Werte gepflegt: Die Männer sind die Ernährer der Familie, geben auch sonst den Ton an, die Frauen kennen nur die Rolle als Ehefrau und Mutter. Eine Berufstätigkeit von Frauen wird abgelehnt, Abtreibung und Homosexualität sind streng verpönt. Abigail hat nie gegen dieses Leben rebelliert, sie kennt es ja nicht anders.

Ihre Welt gerät in dem Thriller "Die gehorsame Tochter" von Laure van Rensburg ins Wanken, als ihre Eltern beim Brand des Wohnhauses ums Leben kommen. Abigail ist die einzige Überlebende, die drei Jüngeren Geschwister waren zum Zeitpunkt des Unglücks im Haupthaus der Gemeinde. Doch war es ein Unglück? Abigail kann sich an nichts erinnern, hat einen Blackout, der mehrere Wochen zurückgeht. Sie wirkt wie versteinert, kann ihrer Trauer keinen Ausdruck geben. Und dann sind da noch die Flashbacks und Alpträume, in denen Feuer, Blut und ein Messer eine Rolle spielen...

Ist Abigail Zeugin eines Verbrechens gewesen - oder hat sie selbst etwas mit dem Tod der Eltern zu tun? Und welche Rolle spielt Summer, die junge Frau, die ein so ganz anderes Leben als Abigail führt, aber immer wieder Kontakt zu ihr sucht, um für einen Podcast über ihre Glaubensgemeinschaft zu sprechen?

Die Autorin spielt in diesem in den amerikanischen Südstaaten angelegten Thriller mit Suspense und Hinweisen, die in die eine wie auch in die andere Richtung gehen können. Zusammen mit Abigail, die in ihrer Gemeinschaft zunehmend in Isolation gerät, suchen die Leser*innen nach der Wahrheit, die nur ganz langsam ans Licht kommt. Es gibt sowohl äußere Dramatik als auch inneren Aufruhr, während Abigail längst vergessen geglaubten Erinnerungen auf die Spur kommt.

"Die gehorsame Tochter" ist ein spannender Thriller, setzt sich aber auch mit Misogynie und Religion als Mittel der Unterdrückung gerade von Frauen auseinander. Dabei wird auch deutlich, wie sehr das Leben in einer streng reglementierten Gemeinschaft Individuen verbiegen oder brechen kann.

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