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Veröffentlicht am 19.07.2024

Verschüttete Erinnerungen

Blick in die Angst
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"Blick in die Angst" von Chevy Stevens ist ein Thriller, in dem es buchstäblich um psychologische Spannung geht. Denn Nadine, die Protagonistin, arbeitet als Psychiaterin in einem Krankenhaus auf Vancouver ...

"Blick in die Angst" von Chevy Stevens ist ein Thriller, in dem es buchstäblich um psychologische Spannung geht. Denn Nadine, die Protagonistin, arbeitet als Psychiaterin in einem Krankenhaus auf Vancouver Island an der kanadischen Westküste. Doch das Leben im eigentlich idyllischen Victoria hat Schattenseiten für die Mittfünfzigerin, die seit mehreren Jahren verwitwet ist: Ihr Tochter Lisa ist ihr zunehmend entglitten, lebt als Drogenabhängige auf der Straße. Als Therapeutin findet Nadine zwar den Zugang zu ihren Patientinnen und Patienten, aber offenbar nicht zur eigenen Tochter.

Ein Fall in der Notaufnahme nach einem Selbstmordversuch wird für Nadine unerwartet persönlich: Ihre Patientin Heather, die mit den Folgen einer Fehlgeburt nicht fertig wird, gibt sich selbst die Schuld an dem Unglück: Vielleicht hätte sie das "Zentrum" nicht verlassen dürfen. Als sie Einzelheiten nennt über eine Art Yoga-Retreat, wird Nadine hellhörig: Zum einen erinnern sie die Zuständen eher an eine Sekte mit psychologischer Gehirnwäsche.

Zum zweiten weckt der Name des Leiters Erinnerungen an acht Monate, die sie als 13-jährige mit ihrem älteren Bruder und ihrer labilen Mutter in einer Kommune verbrachte. Seit jener Zeit leidet Nadine unter Klaustrophobie. Auch eine Hypnosetherapie hat in der Vergangenheit nicht geholfen, die Ursache ihrer Ängste zu ergründen. Die Gespräche mit Heather wecken allerdings nach und nach verschüttete Erinnerungen. Nadine ist sich nicht sicher, ob sie authentisch oder eine "Übertragung" sind, doch zunehmend ist sie überzeugt - damals ist etwas Schlimmes passiert.

Als die Erinnerungen klarer werden und Nadine sie nicht auf sich beruhen lassen will, weckt das gewissermaßen die Geister der Vergangenheit. Und während Nadine die Konfrontation mit den Dämonen der Gefangenheit aufnimmt, gerät nicht nur sie in Gefahr.

Stevens schafft Spannung, obwohl über weite Strecken des Buches keine Gewalt im Spiel ist, arbeitet mit viel Suspense. Nadine ist sowohl empathisch als auch emotional, macht trotz ihrer Erfahrungen als Therapeutin im Umgang gerade mit denjenigen, die ihr am Herzen liegen, immer wieder Fehler. Auch das komplizierte Mutter-Tochter-Verhältnis sorgt für eine zusätzliche Dynamik in diesem Kriminalroman, den ich in einem Rutsch weggelesen habe.

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Veröffentlicht am 14.07.2024

Tote Ehemänner im Lockdown

Ein Mann zum Vergraben
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Femizide, sogenannte Ehrenmorde, physische und psychische Gewalt oft über Jahre Hinweg - Wenn es um Gewalt in einer Beziehung geht, sind die Täter fast immer männlich, die Opfer ihre Ehefrauen, Partnerinnen, ...

Femizide, sogenannte Ehrenmorde, physische und psychische Gewalt oft über Jahre Hinweg - Wenn es um Gewalt in einer Beziehung geht, sind die Täter fast immer männlich, die Opfer ihre Ehefrauen, Partnerinnen, Töchter. Die Statistiken von Organisationen wie Terre des femmes sind ernüchternd und schockierend. Damit ein so ernstes und hartes Thema Gegenstand eines durchaus humorvollen Kriminalromans ist, braucht es vermutlich den berühmten schwarzen britischen Humor - und genau das funktioniert in "Ein Mann zum Vergraben" von Alexia Casale ziemlich gut.

Es war ein Unfall. Als Ehemann Jim sie in einem seiner Wutanfälle einmal wieder mit kochendheißem Wasser übergießen will, greift die englische Hausfrau Sally, Mutter zweier erwachsener Kinder, zum erstbesten Gegenstand, um ihn abzuwehren. Dass die gusseiserne Pfanne, ein Erbstück ihrer Oma, derart fatale Wirkung hat, merkt sie erst, als Jim tot auf dem Küchenboden liegt.

Nach einem Schaumbad und einer Eis- und Kuchen-Orgie ringt Sally mit sich selbst: Sollte sie nicht die Polizei rufen? Würde ihr Notwehr angerechnet? Doch andererseits findet sie, sie hat jede mögliche Strafe in ihrer mehr als 20 Jahre dauernden Ehe verbüßt. Bleibt die Frage: Wie entsorgt man einen toten Ehemann, ohne eine Festnahme zu riskieren? Dass gerade Corona-Lockdown herrscht, macht es einerseits komplizierter, andererseits einfacher.

Zwischen Schuldgefühlen und Plänen für ein anderes, glücklicheres Leben muss Sally feststellen: Sie ist nicht allein. In ihrer eigentlich überschaubaren Nachbarschaft lernt sie weitere Frauen in ählnicher Situation kennen. Als "Club der heimlichen Witwen" und unter Beachtung der Abstandsregeln planen sie die Entsorgung ihrer toten Ehemänner. Ein Plan muss her, der das Verschwinden der vier Männer so erklärt, dass kein Verdacht auf die Frauen fällt.

Immer haarscharf am Rande eines Nervenzusammenbruchs stellen sich die Frauen Grenzsituationen, erleben aber auch Sisterhood, Solidarität und Zuspruch. Und vor allem: Endlich können sie über das reden, was sie jahrelang aus Scham Freundinnen und Angehörigen verschwiegen haben.

Die Autorin hat sich jahrelang für misshandelte Frauen engagiert und besonders glaubwürdig ist das Buch dort, wo es der Frage nachgeht: Warum beenden so viele Frauen eine toxische Beziehung nicht einfach, die für sie ganz offensichtlich auch tödlich enden könnte? Warum werden Hilfsangebote, so sie denn kommen, abgelehnt und heile Welt vorgespielt? Bei allem Humor und seinen sympathischen Protagonistinnen wird das ernste Thema häuslicher Gewalt nicht heruntergespielt oder verharmlost. Gleichzeitig hilft der britische Humor, mit einem Lächeln durch das Buch zu gehen. Zugleich weckt Casale Sensibilität für ein Thema, das immer noch in der Öffentlichkeit zu sehr verharmlost wird.

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Veröffentlicht am 14.07.2024

Auf der entlegensten Insel der Welt

Willkommen auf Tuga
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Charlotte Walker, introvertierte upper class-Veterinärin aus London, versteht viel von Schildkröten, aber der Umgang mit anderen Menschen war für die zurückhaltende Frau, die auch als Studentin und Nachwuchswissenschaftlerin ...

Charlotte Walker, introvertierte upper class-Veterinärin aus London, versteht viel von Schildkröten, aber der Umgang mit anderen Menschen war für die zurückhaltende Frau, die auch als Studentin und Nachwuchswissenschaftlerin nicht das Haus ihrer Mutter verlassen hat, schon immer eine Herausforderung. Und trotzdem bricht sie gewissermaßen aus ihrem Schneckenhaus aus, trotzt Seekrankheit und Schüchternheit, um für ein Jahr nach Tuga zu reisen, die entlegenste Insel der Welt. Ein Jahr lang will sie eine seltene Schildkrötenart und ihre Bedeutung für das Ökosystem erforschen.

Doch Charlotte hat noch einen zweiten Punkt auf ihrer Agenda. Sie ist ziemlich fest davon überzeugt, dass ihr Vater, den sie nie kennengelernt hat, von Tuga stammen könnte, diesem britischen Überseegebiet, das zwar mittlerweile unabhängig ist, in vielem aber an das Großbritannien der 1950-er Jahre erinnert.

"Willkommen auf Tuga" von Francesca Segal beschreibt Charlottes Inseljahr, die Faszination der farbenfrohen tropischen Pracht, die ganz eigene Inselgesellschaft, in der man nie so wirklich allein sein kann, Freundschaften und Konflikte. Mit ihrer Faszination für Schildkröten ist Charlotte so ziemlich alleine, dagegen sind viele Insulaner an Charlottes Fähigkeiten als ausgebildete Tierärztin interessiert. Also Kaiserschnitt beim Mutterschaf statt Forschungsexkursion, Behandlung von Euterentzündungen statt Brüten über Daten und Statistiken.

Auch Charlottes Gefühlsleben wird auf Tuga ziemlich aufgewühlt. Denn schon auf der Überfahrt fühlte sie sich von dem neuen Inselarzt Dan Zerki durchaus angezogen. Bei der Landung auf Tuga stellt sich dann heraus, dass er ihr seine Verlobte verschwiegen hat, die in einem halben Jahr mit dem nächsten Schiff nach Tuga kommen will. Ziemlich irritierend ist auch ihr Vermieter, der gutaussehende Levi mit seinen Macho-Sprüchen.

Kurz, Charlottes Zeit auf der Insel verläuft ein bißchen anders, als sie sich das vorgestellt hat, während die Suche nach ihrem Erzeuger zu Hinweisen führt, die Charlotte zutiefst erschüttern werden.

"Willkommen auf Tuga" ist mit leichter Hand geschrieben und entführt die Leser*innen in ein tropisches Inselparadies mit so manchen exzentrischen Bewohnern, einem liebenswerten Charme und einem ganz eigenen Lebenstempo. Ein humorvoller, warmherziger Wohlfühlroman, der Fernweh weckt und auch nachdenkliche Momente hat.

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Veröffentlicht am 08.07.2024

Geheimnis der Unsterblichkeit

Relight My Fire
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Wenn C. K. McDonnell die Redaktion der "Stranger Times" in Manchester auf einen neuen Fall loslässt, steht eines von vornherein fest: Die bunte und trotz aller Gegensätze aufeinander eingespielte Gruppe ...

Wenn C. K. McDonnell die Redaktion der "Stranger Times" in Manchester auf einen neuen Fall loslässt, steht eines von vornherein fest: Die bunte und trotz aller Gegensätze aufeinander eingespielte Gruppe hat es mit übernatürlichen Gegnern zu tun. Nach Vampiren müssen sie sich in "Relight my Fire" einer Armee von Zombies stellen, nachdem eine durchgeknallte Wissenschaftlerin das Geheimnis der Unsterblichkeit lüften will. Und es ist einmal mehr eine echte Herausforderung für das Redaktionsteams, ihr jüngstes Mitglied (wobei das niemand so recht weiß) Stella vor der Neugier der auf jeden Fall unsterblichen Begründer und anderer finsterer Gestalten zu schützen. Zumal Stella als Studentin den sicheren Zufluchtsort der Redaktion verlässt - das Küken wird flügge.

Clubbing, studentische Trinkrituale und wokes Bewusstsein sind für Stella, die an das schräge Team der Redaktionskolleg*innen gewohnt ist, noch einmal eine ganz neue Herausforderung. Immerhin - während sich im Nachtleben von Manchester übernatürliche Phänomene häufen, ist sie vielleicht nicht mehr ganz so außergewöhnlich?

Doch die Stranger Times Crew treibt sich diesmal weniger in Nachtklubs als auf Friedhöfen um, während der gewohnt cholerische Chefredakteur Vince Banecraft alles tun will, um nicht binnen weniger Tage in einer ziemlich unangenehmen Hölle zu landen. Seine Stellvertreterin Hannah wiederum trifft auf einen Schwarm ihrer Jugend und gerät dabei vorübergehend aus dem Gleichgewicht. Krisenmanagement schafft sie natürlich trotzdem.

McDonnell präsentiert einmal mehr ein Sammelsurium exzentrischer und schräger Gestalten, von denen nur ein Teil übernatürlich ist. Turbulent, gewalttätig, und gewohnt unberechenbar geht es auch in diesem Band um die Abenteuer der Stranger Times Crew zu, sehr britisch und überdreht-witzig.

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Veröffentlicht am 08.07.2024

Auswandererschicksal zwischen Irland und New York

Brooklyn
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Eilish Lacey lebt mit ihrer verwitweten Mutter und der älteren Schwester Rose in einem kleinen Städtchen nahe der irischen Ostküste. Auch in der Mitte des 20. Jahrhunderts durchlebt die Familie die für ...

Eilish Lacey lebt mit ihrer verwitweten Mutter und der älteren Schwester Rose in einem kleinen Städtchen nahe der irischen Ostküste. Auch in der Mitte des 20. Jahrhunderts durchlebt die Familie die für die Insel typischen Migrationsschicksale: Zu Hause gibt es keine Arbeit. Rose hat Arbeit als Sekretärin, doch für Eilish gibt es höchstens Gelegenheitsarbeiten. Die älteren Brüder sind schon in England, arbeiten in Fabriken in Birmingham. Mit Hilfe eines Priesters und unter gutem Zureden von Rose bekommt Eilish eine unbefristete Arbeitserlaubnis für die USA und eine Stelle als Verkäuferin in einem Kaufhaus in Brooklyn - das ist der Ausgangspunkt von Colm Toibins Roman "Brooklyn".

Es ist durchaus nicht Abenteuerlust, die Eilish auf die weite Reise führt. Ein wenig hat sie ein schlechtes Gewissen, denn sie weiß: Wenn sie weg geht, hat Rose, die ohnehin bereits 30 ist, die letzte Chance verpasst, eine eigene Familie zu gründen. Die Mutter und die Gemeinschaft werden von ihr erwarten, dass sie als letztes vor Ort verbliebenes Kind der Familie bei der Mutter bleibt und sich um sie kümmert, wenn sie im Alter auf Hilfe angewiesen ist. Ist das fair? Oder einfach der Tatsache geschuldet, dass Rose eine feste Arbeit hat, Eilish aber nicht?

Es sind durchaus zwiespältige Gefühle, mit denen Eilish in die Ferne aufbricht. Die Reise in der dritten Klasse bei stürmischer See entspricht so gar nicht dem glamoureusen Bild der Atlantiküberquerungen in modernen Kreuzfahrtkatalogen. Und auch die Ankunft ist nicht leicht, denn von großer Freiheit kann keine Rede sein: Eilish lebt in einem möblierten Zimmer bei einer irischen Witwe, die ein strenges Auge auf Eilish und ihre ebenfalls irischen Mitbewohnerinnen hat. Herrenbesuch wäre undenkbar. Die soziale Kontrolle funktioniert ähnlich wie in der Kleinstadtgesellschaft.

Auch die Arbeit als Verkäuferin füllt Eilish nicht wirklich aus. Sie beschließt, auf Abendcollege zu gehen, um Buchhaltung zu studieren. Das soziale Leben bewegt sich zwischen Kirche, Küche und Tanzsaal. Die ethnischen Communities sind weitgehend für sich, doch bei einer Tanzveranstaltung lernt Eilish den Italo-Amerikaner Tony kennen, die beiden werden ein Paar. Doch dann gibt es schreckliche Nachrichten aus Irland - Rose ist im Schlaf gestorben, sie hatte einen Herzfehler, von dem sie Mutter und Schwester nie erzählt hat.

Eilish ist mit ihrer Trauer allein, an der Beerdigung kann sie nicht teilnehmen - schließlich dauert die Ozeanüberquerung eine knappe Woche. Doch sie beschließt, für einen Monat unbezahlten Urlaub zu nehmen und in die Heimat zu reisen, um ihre Mutter in dieser schwierigen Zeit zu unterstützen. Dass sie dort dem örtlichen Pub-Besitzer näherkommt, hätte sie nicht erwartet. Plötzlich steht Eilish zwischen zwei Männern - und hat niemanden, dem sie sich anvertrauen kann, denn nur Rose hatte sie von Tony erzählt.

Toibin nimmt die Leser*innen mit langsamer Erzählweise mit in die Auswanderungsgeschichte, von Katja Danowski als Sprecherin in der Hörbuchversion mit ebenfalls ruhigem Erzähltempo passend umgesetzt. Es sind die Beschreibungen der kleinen Dinge, der Menschen, die eine ganz andere Zeit entstehen lassen, die gerade mal zwei Generationen zurückliegen dürfte. Scheinbar ereignisloser, unaufgeregter, in einem entschleunigterem Tempo, aber nicht ohne innere Konflikte und schwere Entscheidungen. Es wird deutlich, wie anders das Leben war in einer Zeit, als nicht mals schnell ein Transkontinentalflug gebucht werden konnte, Briefe wochenlang unterwegs waren und selbst ein Telefongespräch mit hohem Aufwand und Kosten verbunden war.

"Brooklyn" ist der Auftakt einer Triologie, zu der auch der vor wenigen Monaten erschienene Band "Long Island" gehört.

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