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Veröffentlicht am 04.06.2021

Familienepos und Nahostkonflikt

Der große Wind der Zeit
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Joshual Sobol ist vor allem als Dramatiker (Ghetto) bekannt. Mit "Der große Wind der Zeit" hat der israelische Autor nun aber auch einen epischen Roman geschrieben, der über vier Generationen einer Familie ...

Joshual Sobol ist vor allem als Dramatiker (Ghetto) bekannt. Mit "Der große Wind der Zeit" hat der israelische Autor nun aber auch einen epischen Roman geschrieben, der über vier Generationen einer Familie hinweg die Geschichte Israels wie auch des Nahostkonflikts erzählt und vor allem mit zwei starken Frauenfiguren beeindruckt.

Da ist zum einen Libby, eine junge israelische Soldatin, wegen ihrer exzellenten arabischen Sprachkenntnisse als Verhörspezialisin eingesetzt. Sie ist eine, die mit ihren Hinhörqualitäten Terroristen "geknackt" hat, ganz ohne Gewalt. Im letzten Verhör ihrer Armeezeit trifft sie auf Adib - Palästinenser, Historiker, in Großbritannien aufgewachsen. Er ist zum Begräbnis seiner von israelischen Soldaten erschossenen zwölfjährigen Cousine nach Israel gekommen und den Sicherheitsbehörden gewissermaßen qua Geburt suspekt.

Dass die Frau mit Kopftuch, die in seine Zelle geführt wird, ihm eigentlich Informationen entlocken soll, ist Adib sofort klar. Doch zwischen ihm und Libby kommt es zu einem Gespräch, bei dem sich zwei kritische Geister begegnen - heimlich schiebt er ihr seine email-Adresse zu, und Libby meldet es nicht, sondern erklärt ihn ihren Vorgesetzten gegenüber für harmlos. Ihre Diskussionen und Streitgespräche werden sie später fortsetzen.

Und da ist Eva, Libbys Urgroßmutter, Tochter einer großbürgerlichen Wiener Familie, die sich aus Protest gegen ihr Elternhaus dem Zionismus zugewandt hat und in den 1920-er Jahren zu den Mitbegründern eines Kibbuz gehört. Eva und ihre Gefährten sehen sich als Pioniere, als Revolutionäre, als Vertreter einer neuen Gesellschaft, die bürgerlichen Regeln trotzt, freie Liebe pflegt. Selbst unter den anderen Kibuzzniks ragt Eva mit ihrem Freiheitswillen noch heraus. Sie verlässt nicht nur ihren Gefährten, sondern auch ihren kleinen Sohn, um in Berlin Ausdruckstanz zu studieren und voller Lebenslust in die Metropole einzutauchen.

Als Libby nach ihrer Entlassung aus der Armee ihren Großvater in eben jenem Kibbuz besuchen will, findet sie sein Haus verlassen vor: Auch mit über 80 ist er, ähnlich wie seine Mutter, ein Freigeist, der auch nachts mit seiner Harley Davidson durch die Wüste donnert, auch durch die besetzten Gebiete. Statt ihres Großvaters findet Libby die Tagebücher ihrer Großmutter und taucht ein in deren wildes Leben wie in einen Film.

Als Leser begleitet man aber nicht nur Libby und Eva, sondern auch Großvater Dave, dessen Söhne und andere Familienmitglieder - ein Onkel Libbys lebt in einer Siedlung in den besetzten Gebieten, zweifelt aber immer mehr am Sinn der Siedlungspolitik. Libbys Vater ist ein rechtsgerichteter Politiker, ein anderer Onkel stellt sich nach dem Verlust seines Jobs die Frage, was er eigentlich mit seinem Leben anfangen will. Religiöse und säkuläre, politische Ränkeschmiede und Freigeister, Intellektuelle und Lebenskünstler - Sobol präsentiert wie in einem Mosaik Facetten der modernen israelischen Gesellschaft. Manchmal sind es nur kleine Szenen, was mitunter den Lesefluss auf den immerhin 520 Seiten erschwert. Doch immerhin: Gleich zu Beginn des Buches gibt es eine Auflistung der handelnden Personen zur besseren Übersicht.

Am eindringlichsten empfand ich dabei allerdings Eva und Libby. Eva als extrovertierte, lebenshungrige und völlig unabhängige Frau, die keine Berührungsängste hat und nicht nur trotz der Spannungen zwischen Neusiedlern und Beduinen eine leidenschaftliche Affäre mit einem Beduinen hat, sondern die auch in Berlin nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten Umgang mit Nazis hat. Dabei weigert sie sich zunächst, die Zeichen der Zeit als bedrohlich wahrzunehmen, auch als sie Zeugin der Bücherverbrennung wird:

"das ist alles Theater. Ein riesiges Theater. Überwältigend. Hitler ist eine theatralische Figur. Alles, was hier geschieht, einschließlich der Bücherverbrennung, ist ein gigantisches theatralisches Schauspiel, wie es noch nie in der Geschichte vorkam." Sie müsse unbedingt dabei sein, wenn dieses Ereignis seinen Höhepunkt erreicht.

Als ihr klar wird, dass das Theater zum tödlichen Ernst wird, versucht sie vergeblich, ihre Eltern zur Auswanderung zu überreden. Doch in ein Land ohne Theater, ohne Oper, ohne das, was sie als Zivilisation verstehen? Beide weigern sich. Sie werden die Shoah nicht überleben,

Steht Eva für die Gründerzeit Israels, steht Libby für die Gegenwart - eine nachdenkliche junge Frau, deren Freund bei einem Militäreinsatz ums Leben gekommen ist. Einen offenen Blick hat sie sich trotz dieses persönlichen Verlusts bewahrt. So ist der Dialog trotz aller gegensätzlichen Positionen zwischen Libby und Adib möglich. Jeder kennt die Argumente der anderen Seite auswendig, und erkennen die scheinbar auswegslose Situation, die Adib mit zwei streitenden Nachbarn, jeder mit einem halben Seil, auf dem Dach eines brennenden Hauses vergleicht:

"Sie haben die Wahl, entweder die beiden Seile zu verknüpfen, sich nacheinander vom Dach hinunterzulassen und heil au den Boden zu gelangen, oder zu versuchen, sich gegenseitig umzubringen, um die Seilhälfte, die fehlt, mit Gewalt an sich zu bringen, um sich vom Dach des brennenden Hauses abzuseilen."

Wird es eine Verknüpfung der Seile geben? Libby ist innerlich und äußerlich frei. Vielleicht ist sie eine von denjenigen, die einen Wandel herbeiführen. der letzte Satz lässt alles offen: "Kein Schluss - und nicht das Ende".

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Veröffentlicht am 03.06.2021

Tödlicher pilgerpfad

Achtsam morden am Rande der Welt
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Er kann nicht nur schreiben, er kann auch sprechen: Das stellt Kasten Dusse in "Achtsam Morden am Rande der Welt" unter Beweis. Darin schickt er nicht nur den achtsamen Anwalt Björn Diemel zum nunmehr ...

Er kann nicht nur schreiben, er kann auch sprechen: Das stellt Kasten Dusse in "Achtsam Morden am Rande der Welt" unter Beweis. Darin schickt er nicht nur den achtsamen Anwalt Björn Diemel zum nunmehr dritten Mal auf Abenteuer und lässt Alltagssituationen zu haarsträubenden, mörderischen und die Lachmuskeln attackierenden Begebenheiten werden, er hat die Hörbuchversion auch selbst eingesprochen und muss sich dabei keineswegs hinter den Leistungen von Profi-Sprechern mit Schauspielerfahrung verstecken. Dass es für die Hörer wieder neue Achtsamkeitsregeln und -ratschläge gibt, versteht sich dabei von selbst.

Doch worum geht es diesmal, nachdem Diemel doch eigentlich die Leichen allmählich ausgehen müssten? Und nicht nur das, der Anwalt hatte Morden und Leichen ja schon im zweiten Band der Reihe abgeschworen. Beides bedrohten sowohl sein inneres Gleichgewicht als auch das seines inneren Kindes. Doch natürlich kommt alles wieder ganz anders. In „Achtsam morden am Rande der Welt.“ gelangt Diemel zwar zu mancherlei neuen Einsichten, doch Tote säumen einmal mehr den Weg des Juristen, der zugleich der Vorstand zweier Mafiagruppen ist.

Diemels Achtsamkeitstrainer Joschka Breitner reichte eine zusätzliche Verspätungsminute, um zu erkennen, dass sein Klient allen Atemübungen zum Trotz mal wieder unterwegs zu einer inneren Krise ist, sich zu oft fremdbestimmen lässt und seine eigenen Wünsche ignoriert. Eine Pilgertour auf dem Jacobsweg soll dem Anwalt helfen, die innere Balance wieder zu finden. Einen Pilgerratgeber mit den üblichen sanften Lebenstipps gibt er ihm auch noch mit auf dem Weg. Diemel muss nur noch seiner kleinen Tochter übersetzen, wie lange so ein Pilgermonate umgerechnet in Bibi und Tini-Folgen ist.

Wie bereits in den beiden Vorgängerbänden lässt Dusse seinen achtsamen Helden von einer Krise in die nächste taumeln. Zwar startet die Wanderung nach Santiago de Compostela vielversprechend, ein sympatischer Mit-Pilger entpuppt sich als ehemaliger Staatsanwalt, der sich mit dem Weg einen letzten Wunsch erfüllt. Andere Weggefährten sind weniger angenehm, wie der Möchtegern-Hemingway, der andere Pilger erpresst, weil er die Briefe der Pilgerpost aufgebrochen hat. Wie dumm, dass auch Diemel, wenn auch unter Pseudonym, in seinem Pilgerbrief zu viel über seine Rolle am frühzeitigen Ende mehrerer Leben geschrieben hat, als ihm lieb sein kann. Muss er seinem Vorsatz, nicht mehr zu töten, untreu werden?

Zuvor allerdings muss Diemel sein eigenes Leben erhalten. Denn gleich zu Beginn seines Weges häufen sich Vor- und Todesfälle, die kein Zufall mehr sein können. Wer versucht, ihn ins Jenseits zu befördern – chinesische Triaden, ein verrückter Serienmörder, der es auf Pilger abgesehen hat, oder wer sieht rot auf dem Jacobsweg? Traurige Nachrichten erreichen ihn auch aus der Heimat: Die Kaninchen seiner kleinen Tochter sind vergiftet worden. Droht auch seinen Lieben Gefahr?

Die Parallelhandlungen zwischen Jacobsweg, Diemels Mafia-Verbindungen und der Beziehung zu seiner Ex und ihrem neuen Freund führen zu einigen Längen und Staus im Lesefluss. Trotzdem geht die launige Mischung wieder auf: Achtsamkeit einerseits, der tödliche Wahnwitz, mit dem sich der pilgernde Anwalt auseinandersetzen muss andererseits. Lösungsorientiert und mit liebevoller Achtsamkeit muss sich Diemel ans einstige Ende der Welt begeben, ehe er zur finalen Erkenntnis gelangen kann. Bis dahin warten auf die Leser reichlich schwarzer Humor und auch ironischer Umgang mit mancherlei politischer Korrektheit – und natürlich Achtsamkeitsratschläge am Beginn jedes Kapitels.

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Veröffentlicht am 03.06.2021

Vielversprechender Beginn einer neuen Triologie

Der Tod ist ein Tänzer
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Liegt es an "Babylon Berlin"? Historische Kriminalromane, die im Deutschland der 20-er Jahre des vergangenen Jahrhunderts spielen, scheinen derzeit en vogue zu sein. Und, Modewelle oder nicht, im Fall ...

Liegt es an "Babylon Berlin"? Historische Kriminalromane, die im Deutschland der 20-er Jahre des vergangenen Jahrhunderts spielen, scheinen derzeit en vogue zu sein. Und, Modewelle oder nicht, im Fall von Veronika Ruschs "Der Tod ist ein Tänzer" ist das richtig gut, denn der Auftakt einer Triologie um Variete-Star Josephine Baker ist richtig gut und fängt die einzigartige Atmosphäre des Berlins jener Jahre auf faszinierende Weise ein. Schon der Titel weckte meine Aufmerksamkeit - da denke ich doch gleich an Exilliteratur ("Deutschland, dein Tänzer ist der Tod") wie an Paul Celans Todesfuge ("Der Tod ist ein Meister aus Deutschland")

Und damit wird ganz klar ein Setting gesetzt - die 20-er Jahre nicht als die goldenen, die Zeit des vielversprechenden Aufbruchs, sondern eben der Anfang einer Entwicklung, die damals die meisten nicht sehen wollten. Der Tanz auf dem Vulkan, voll hysterischer Lebenslust, auch Dekadenz - das ist aus der Sicht von uns Nachgeborenen ja eben nicht nur die Bewältigung der Traumata des Ersten Weltkriegs. Mit den Schlägertrupps der SA, mit dem Kampf der Deutschnationalen gegen die ihnen verhasste Weimarer Republik zeichnet sich ja bereits der Aufstieg der Nationalsozialisten ab, das Vorspiel eines noch viel größeren Grauens.

Mit ihren beiden Protagonisten hat die Autorin diese Extreme gut eingefangen: Da ist einmal Josephine Baker, der aufstrebende Star, gerade mal 19 Jahre alt und hat schon Paris mit ihrem "danse sauvage" begeistert. Nun will die Varietétruppe Berlin erobern. Und da ist Tristan Nowak, einer der gebrochenen Überlebenden des Ersten Weltkriegs, der zusammen mit seinen verlorenen Idealen auch seinen alten Namen abgelegt hat, als Boxer und Schieber in der Berliner Halbwelt unterwegs ist und von seinem aristokratischen Onkel als Beschützer von Josephine Baker anheuert wird. Denn Henry von Seydlitz, der "rote Graf" und Diplomat, hat von einer Verschwörung reaktionärer Kreise gehört, die der schwarzen Tänzerin gilt.

Dekadenz und Lebenslust, aber auch Armut und Arbeitslosigkeit, Drogenrausch und illegale Boxkämpfe prägen das Berlin, das die junge Tänzerin erlebt und das ihr noch spektakulärer als Paris erscheint. Für die junge Frau, die die Rassismuserfahrungen aus ihrer Heimat mit sich trägt, ist die Welt, in der die schwarzen Künstler die Hotels durch die Vordertür betreten können, zunächst voller Hoffnung und Versprechen. Erst nach und nach erkennt sie, dass auch hier Bedrohungen lauern.

"Der Tod ist ein Tänzer" ist ein fulminanter Auftakt, der gleich Lesehunger auf die beiden verbleibenden Teile der Triologie weckt, mit interessanten, vielschichtigen Figuren, gewalttätig und dennoch vielschichtig. Manches wäre angesichts der hohen Dynamik gar nicht mehr nötig gewesen, etwa die Vorgeschichte und Entfremdung zwischen Tristan und seinem Onkel, aber möglicherweise werden hier ja Erzählfäden in den kommenden Büchern wieder aufgenommen. Spannend bleibt es jedenfalls bis zuletzt und die Erzählweise lässt den Leser eintauchen in das wilde Berlin vor gut 100 Jahren. Mit der Bedrohung durch Rassismus und Nationalismus, die zu lange übersehen wird, ist "Der Tod ist ein Tänzer" zugleich höchst aktuell.

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Veröffentlicht am 01.06.2021

Väter, Söhne, Kriege

Der Freiwillige
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In seinem Mehrgenerationenroman "Der Freiwillige" schafft es Salvatore Scibona gleich mehrfach, seine Leser mit immer neuen Wendungen zu überraschen und dem Text eine neue Richtung zu geben. Das beginnt ...

In seinem Mehrgenerationenroman "Der Freiwillige" schafft es Salvatore Scibona gleich mehrfach, seine Leser mit immer neuen Wendungen zu überraschen und dem Text eine neue Richtung zu geben. Das beginnt schon mit der Hauptfigur. "Der Freiwillige" startet in der Gegenwart, auf dem Hamburger Flughafen: Ein kleiner Junge, bitterlich weinend, wird auf einer Flugzeugtoilette gefunden. Das Kind spricht kein Deutsch, weigert sich, seinen Namen zu nennen und nachdem niemand den Suchaufrufen gefolgt ist, scheint die Schlussfolgerung naheliegend, dass es hier ausgesetzt wurde. Also ein Buch über das Schicksal dieses Kindes?

Nicht wirklich - als Leser weiß man zu diesem Zeitpunkt schon mehr als die Figuren des Buches. Der kleine Junge heißt Janis, Sohn einer estnischen Kellnerin und des amerikanischen Soldaten Elroy, der an allen möglichen Fronten in Krieg gegen den Terrorkämpft. Das Kind sieht er nur unregelmäßig, die Beziehung ist längst auseinandergebrochen. Doch nun will die Mutter des jungen ein neues Leben in Spanien beginnen und Elroy soll den Jungen nehmen. Also doch eher ein Buch über einen Soldaten mit einer Vorgeschichte von Drogen und Gewalt?

Erst wenn Elroy, alleine, im Haus seines Vormunds Twilly in New Mexico ankommt und ein weiterer Rückblick dessen Kindheits-Spitznamen "Vollie" für Volunteer erläutert, wird klar: Hier ist die zentrale Figur eines Textes, in dem es um Vater-Sohn-Beziehungen, um echte und falsche Identitäten und um Weichenstellungen geht. Denn Tilly, einziger Sohn alter Eltern, hat mehr als ein Leben gelebt, nachdem er als minderjähriger Teenager mit gefälschter Unterschrift seines Vaters zu den Marines ging und prompt in den Vietnamkrieg geschickt wurde.

Die Schrecken des Krieges bleiben abstrakt, sowohl das, was der Volunteer erlebt als auch das, was die Amerikaner in dem südostasiatischen Land einrichten. Als der junge Soldat, der damals noch einen anderen Namen trägt, in Kambodscha an einem verdeckten, inoffiziellen Einsatz teilnimmt, wird er gefangengenommen, schafft es mehr als ein Jahr lang in den Tunnelverstecken zu überleben, während seine beiden Mitgefangenen sterben. Diese Überlebensqualitäten wecken das Interesse einer Organisation, die vage bleibt, aber nachrichtendienstlich unterwegs ist. Als sie den jungen Unteroffizier anwerben, ist für ihn die verlockendste Aussicht die einer neuen Identität, eben als Tilly.

Letztlich verrät der Autor nicht, warum Tilly sich so konsequent von seiner alten Identität trennen will, warum er um jeden Preis die Anonymität sucht, Spuren zu vermeiden versucht. Der knorrige Mann ist auf jeden Fall eine Figur, die in Erinnerung bleibt, eindrücklicher und prägnanter gezeichnet als Elroy, dessen Ziehvater er wird, als er die Kommune eines alten Kriegskameraden sucht. Auch Elroys Gewaltproblem bleibt letztlich unaufgeklärt, hat er doch seine Kindheit in einer von freier Liebe und Gewaltlosigkeit geprägten Welt verbracht.

Der Kreis zwischen den Generationen scheint sich zu schließen, als ein Priester des Waisenhauses, in dem der kleine Janis heranwächst, einen Brief an Tilly schreibt, nach langer Recherche und Abgleich von Passagierlisten. Doch dann kommt wieder alles ganz anders....

Mit "der Freiwillige" hat Scibona einen manchmal verstörenden, immer wieder überraschenden Roman mit einem ruhigen Erzählfluss geschrieben. Man muss sich angesichts der immer neuen Wendungen schon intensiv auf diesen Text einlassen, sollte das Buch nicht mal eben nebenher zwischen Haltestellen im Bus lesen. Sprachlich beeindruckt er immer wieder mit Details der kleinen Dinge, die eine geradezu magische Atmosphäre schaffen, den Geschmack des Wassers oder den Geruch eines Holzfeuers greifbar machen. Ein Buch voller Überraschungen.

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Veröffentlicht am 30.05.2021

Liebe, Lust und Frust

Leute wie wir
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Welche Erwartungen sind an eine gemeinsame Zukunft als Paar zu stellen - wenn der erste Hormonrausch des Dauerverliebtseins verflogen ist, wenn der Alltag Einzug gehalten hat, wenn Kinder aus der Zweisamkeit ...

Welche Erwartungen sind an eine gemeinsame Zukunft als Paar zu stellen - wenn der erste Hormonrausch des Dauerverliebtseins verflogen ist, wenn der Alltag Einzug gehalten hat, wenn Kinder aus der Zweisamkeit eine Familie mit ihrer ganz speziellen Dynamik gemacht haben? In "Leute wie wir" spürt die britische Autorin der Geschichte zweier Paare nach, die mit Alltag und Beziehungsfrust zu kämpfen haben, vier Enddreißiger, denen die Träume ihrer Jugend noch in frischer Erinnerung sind und die sich fragen, ob der Zug für Träume schon abgefahren ist.

Michael etwa, der langjährige Freund der Modejournalistin Melissa, sehnt sich nach der Ungebundenheit der frühen Jahre. Flirten, keine Verpflichtungen haben, die Leichtigkeit, die es einst in der Beziehung gab. Melissa dagegen, seit der Geburt des zweiten Kindes zu Hause und nur noch dann arbeitend, wenn das Baby schläft, ist frustriert mit ihrem Leben und fühlt sich von Michael nicht ausreichend gestärkt. Hinzu kommt, dass das Haus, in das die Familie vor kurzem gezogen ist, ihr immer unheimlicher wird. Geht hier ein Nachtwesen um, das von ihr und ihren Kindern Besitz ergreifen will? Ihre nigerianische Mutter empfiehlt traditionelle Methoden, mit Geisterwesen umzugehen, die für Michael, der jamaicanische Wurzeln hat, nichts als irrationaler Aberglauben sind. Melissas Bitte, das Haus aufzugeben und außerhalb Londons aufs Land zu ziehen, lehnt er aber auch ab: Er will, dass seine Kinder in einer Gegend leben, in der schwarze Gesichter nicht die seltene Ausnahme sind.

Die Frage schwarzer Identität ist ein Nebenthema, nicht aber das Leitmotiv des Buches, auch wenn die Überlegungen zu Geisterwesen an die nigerianisch-amerikanische Autorin Akwaeke Emezi erinnern. Mehr noch symbolisiert das unheimliche Haus den Kollaps der Beziehung und der einstigen großen Liebe, gelten Melissa und Michael doch in ihrem Freundeskreis als das absolute Traumpaar.

Von der Romantik, die noch vor gar nicht langer Zeit "M&M" in den Augen ihrer Freunde umgab, sind Shirley und Damian weit entfernt. Shirley sieht sich als Vollzeit-Mutter, der Mann als Teil der Familie ist in ihren Augen eher das unvermeidliche Übel. Damian, der immer von einem Erfolg als Schriftsteller träumte, hatte schon immer eine Schwäche für Melissa.

"Leute wie wir" ist eine unspektakuläre Alltagsgeschichte, eingewoben in die Dynamik des modernen Londons mit seinen vielen Facetten. Die vier Protagonisten stehen dabei für unterschiedliche Wünsche, Visionen und Entscheidungen, Möglichkeiten oder eben auch der Mangel an Möglichkeiten. So wie der Geisterzug zum Crystal Palace im Tunnel steckengeblieben ist, sind auch Beziehungen nicht immer auf richtige Gleis zu bringen. Wer viel Leidenschaft und Drama erwartet, dürfte enttäuscht werden. Doch die unprätentiöse und unaufgeregte Erzählweise hat auch ihren Reiz. Mehr arthouse als romantic comedy.

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