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Veröffentlicht am 09.09.2019

Ein Buch als Stolperstein

Vergesst unsere Namen nicht
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Mit "Vergesst unsere Namen nicht" hat der norwegische Autor Simon Stranger gleich in doppelter Hinsicht eine norwegische Familiengeschichte aus dem Zweiten Weltkrieg erzählt - zum einen die einer jüdischen ...

Mit "Vergesst unsere Namen nicht" hat der norwegische Autor Simon Stranger gleich in doppelter Hinsicht eine norwegische Familiengeschichte aus dem Zweiten Weltkrieg erzählt - zum einen die einer jüdischen Familie und ihrer Erfahrung von Verfolgung, Exil und Flucht, zum anderen die eines norwegischen Kollaborateurs und Nazi-Spions. Der Zufall will es, dass die Familie eines von den Deutschen ermordeten Juden ausgerechnet in das Haus in Trondheim zieht, indem die "Rinnan-Bande" nicht nur ihr Hauptquartier, sondern auch ihren Folterkeller hatte.

Es ist eine Stolperstein-Zeremonie, die den Erzähler erkennen lässt, dass das Schicksal des Urgroßvaters seinen Kindern nicht gleichgültig sein darf, dass jedes Opfer der Nazis ein zweites Mal stirbt, wenn sein Name vergessen wird. Und so wie die Stolpersteine auf den Straßen die Namen der ermordeten Nachbarn in Erinnerung rufen, so wird die Schilderung der Familiengeschichte zum literarischen Stolperstein, zut Erinnerung nicht nur an den Ermordeten, sondern das Schicksal der Familie, die zum großen Teil überlebte dank Helfern, die den Söhnen bei der Flucht nach Schweden halfen.

Kaleidoskopartig, in vielen kleinen Episoden, scheinbar zufällig gewählten Begriffen erzählt Stranger, seine Kapitel sind den Buchstaben des Alphabets nachempfunden. Dabei geht es nicht nur um Familiengeschichte und individuelle Schicksale, sondern auch um die Frage, was den einen dazu bewegt, sein Leben und seine Freiheit für fremde Mitmenschen zu riskieren und wie ein anderer Mensch mit ähnlichem Hintergrund Verrat und Kollaboration wählt. Wie kam es, dass der Schustersohn Rinnan, der wegen seiner geringen Größe schwer unter Komplexen litt, zum Spion und Menschenschlächter wurde?

Die Erzählweise mit den vielen kleinen Mosaikstückchen macht einen Reiz des Buches aus, ist aber auch sein Problem. Denn so richtig "auserzählt" werden die Charaktere dabei eben nicht, es fehlt an der Tiefe der beschriebenen Menschen. Doch vielleicht hat Stranger dies ganz bewusst gemacht: die vielen Textversatzstücke erinnern ein wenig an alte Familienfotos und -episoden, zu denen jeder in der Runde etwas beizutragen hat, bis aus den vielen Details ein Gesamtbild entsteht. So funktioniert es auch bei "Vergesst unsere Namen nicht".

Veröffentlicht am 08.09.2019

Letzte Tage eines schwierigen Patriarchen

Otto
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Die "jiddische Mamme" ist vielleicht ein klischeeüberladenes Stereotyp, aber in der überbehütenden, überfordernden, übernahen Übermutter steckt häufig auch ein Kernchen Wahrheit, schließlich sind es die ...

Die "jiddische Mamme" ist vielleicht ein klischeeüberladenes Stereotyp, aber in der überbehütenden, überfordernden, übernahen Übermutter steckt häufig auch ein Kernchen Wahrheit, schließlich sind es die Mütter, die nicht nur die Hüterinnen der Sabbatkerzen sind und die Trägerinnen der Religion im Sinne der Halacha, sondern als Mittlerinner der Tradition auch die Hüterinnen von Erinnerungen und Trauma.

In "Otto", dem mitunter gleichzeitig zum Lachen und zum Weinen treibenden Roman von Dana von Suffrin geht es nur ganz am Rande um Mütter. Hier ist es Otto, der gebürtige Siebenbürger, der "jiddishe Tate", der sich ungefragt in das Leben seiner erwachsenen Töchter einmischt, der Liebe, Besuche, Präsenz, Versorgung einfordert, der zwar einerseits seit Jahren im Dauersiechtum zwischen Krankenhaus und Eigenheim hin- und herwechselt, sich aber hartnäckig gegen den Tod behauptet - vielleicht eine späte Genugtuung für einen, der in seinem Städtchen zwischen Ungarn und Rumänien entgegen aller Wahrscheinlichkeiten davon gekommen ist, der noch nicht einmal eine in den Unterarm eintätowiertte Nummer als ständige Erinnerung an die durch Massenmord zusammengeschrumpfte Familie sein eigen nennt.

Die Zahl der Verwandten ist seit dem Zweiten Weltkrieg gleichwohl überschaubar und auch die Töchter Timna und Babi spüren sie immer wieder mal, die Last, die auf den Nachgeborenen lastet, die die unerfüllten Versprechen der Ermordeten einlösen müssen. Dennoch geht in Otto nicht um die Schuldgefühle des Überlebens, sondern um die höchst lebendige Gegenwart, in der Otto dem Tod, der Krankheit und Alzheimer trotzt,

"Pro Krankenhausaufenthalt beschloss mein Vater genau einmal, fast zu sterben; vielleicht auch, um unser Pflichtbewusstsein, das sich langsam in Trägheit verwandelt hatte, zu erneuern", konstatiert die Ich-Erzählerin, die sich bemüht, den Wunsch ihres Vaters zu erfüllen, und eine Familienbiografie zu verfassen. Doch ach, nicht nur wegen der Alzheimer-Erkrankung ist Ottos Geist sprunghaft, und so bleiben Mosaikstücke und eigene Erinnerungen, um den mal nervtötenden, mal liebenswerten Familienpatriarchen und die untergegangene Welt, aus der er stammte, zu beschreiben.

Er ist schon ein Charakter, dieser Otto, ein Mensch eben, wie er sicherlich bekräftigen würde. Dieser Mann vieler Länder, der ein halbes Dutzend Sprachen mehr oder weniger korrekt beherrscht und auch im Deutschen zu einigen prächtigen neuen Wortschöpfungen neigt - etwa die kaum abzuschlagende "schöne Bitte".

Ja, es ist anstrengend, einen Elternteil wie Otto zu haben, einen der ständig Grenzen verletzt, die die längst erwachsenen Kinder um das eigene Privatleben gezogen haben. Timna ist gestresst, genervt - wer kann es ihr verdenken? Und dennoch ist "Otto" eine Liebeserklärung an diesen überfordernden, überfürsorglichen, Vater und seine mal melancholischen, mal überoptimistischen Weltsichten und Weisheiten: "Das Leben ist so schwer, wenn es aufhört, und so schön, wenn es anfängt."

"Otto" strotzt vor dunklem Humor, vor Sarkasmus und liebevoller Nähe, die gerade durch die Endlichkeit des Lebens an Tiefe gewinnt.

Veröffentlicht am 02.09.2019

Psychothriller um eine verhängnisvolle Liebe

ATME!
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Nile glaubt, endlich das große Los getroffen zu haben mit Ben: Er ist ihr Seelengefährte, der Mann, mit dem sie zusammengehört, mit dem sie sich ein gemeinsames Leben aufbauen will. Sie planen die Hochzeit, ...

Nile glaubt, endlich das große Los getroffen zu haben mit Ben: Er ist ihr Seelengefährte, der Mann, mit dem sie zusammengehört, mit dem sie sich ein gemeinsames Leben aufbauen will. Sie planen die Hochzeit, auch das perfekte Kleid ist gefunden, doch just als sie es anprobiert, verschwindet Ben spurlos. Nile kann es nicht fassen, dass keiner das Verschwinden, ja den wartenden Ben bemerkt haben will. Die Polizei hält sie für hysterisch, an Bens Arbeitsplatz macht sich niemand Sorgen und Bens Freunde, die in letzter Zeit ohnehin rar geworden sind, blocken ab oder verweigern den Kontakt zu Nile.

Im Glück der beiden gibt es nämlich einen Schönheitsfehler: Damit sie heiraten können, muss Ben erst einmal von seiner ersten Frau Flo geschieden werden. Für Nile ist Flo die Feindin, die Frau, auf deren Seite sich alle von Bens Freunden gestellt haben. Doch sei´s drum: In ihrer perfekten Zweisamkeit genügen sich die beiden vollkommen.

Oder ist vielleicht alles ganz anders? In der Konfrontation mit Flo zeigt Nile, nach einer Jahre zurückliegenden Vergewaltigung zu Panikattacken neigend und dann auch schwere Medikamente schluckend, ein ganz anderes Gesicht. War die traute Zweisamkeit von beiden gewollt, oder leidet Nile unter Kontrollzwängen? Was hatte es seinerzeit mit Bens blauem Auge auf sich, als er Flo besuchte? Ist es nur die zunehmende Panik, die Nile zu einer Besessenen macht, oder ist hier eine schwer gestörte Frau, die ihren letzten Halt verloren hat?

Die Sichtweisen von Nile und Flo prallen gegeneinander, nahezu unversöhnlich, und dennoch müsen sich die beiden Frauen widerwillig verbünden, um auf eine Spur von Ben zu stoßen. Liebe und Loslassen, Klammern und Ausbrechen, die Vergangenheit begraben oder einen Neuanfang wagen? Jeder Schritt der beiden gegensätzlichen Frauen scheint neue Entscheidungen zu erfordern, stellt das fragile Miteinander, diesen brüchigen Waffenstillstand auf eine neue Probe. Dabei steht für Nile fest, dass es für Ben ohnehin nur eine geben kann und so ganz will sie Flo die Beteuerung, sie wolle jetzt endlich die Scheidung, um das Kapitel Ehe hinter sich zu lassen, nicht abnehmen.

Verletzlichkeit, Wut, besessene Liebe, Angstzustände und euphorische Hoffung - Judith Merchant lässt in diesem Psychothriller ihre Protagonistin durch ein Wechselbad extremer Gefühle gehen und sorgt mit zahlreichen falschen Fährten und Winkelzügen für Überraschungseffekte. Den Ausgang ahnt man zwar weit vor Schluss, das aber ändert nichts am Lesevergnügen. Große Gefühle können manchmal zu einem Drama auf Leben und Tod eskalieren - verhängnisvolle Leidenschaft eben. Spannung mit einer Extradosis ziemlich komplizierter Gefühle!

Veröffentlicht am 25.08.2019

Liebevolles Außenseiterporträt in der schottischen Wildnis

Sal
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Sal und Peppa sind so etwas wie zeitgenössische Schwestern von Huckleberry Finn: Auch die beiden Mädchen aus Schottland wachsen auf der Schattenseite der Gesellschaft auf: Die alkohol- und drogenkranke ...

Sal und Peppa sind so etwas wie zeitgenössische Schwestern von Huckleberry Finn: Auch die beiden Mädchen aus Schottland wachsen auf der Schattenseite der Gesellschaft auf: Die alkohol- und drogenkranke Mutter liebt ihre Töchter von verschiedenen Vätern zwar, ist aber nicht in der Lage, sie wirklich zu versorgen. Dass ihr Freund die 13-jährige Sal seit Jahren missbraucht, hat sie im Alkoholnebel nicht mitbekommen. Sal ist diejenige, die Verantwortung für die kranke Mutter übernimt, den Haushalt schmeißtt, die kleine Schwester beschützt, indem sie einen Innenriegel an ihrer Tür anbringt. Doch sie weiß, es ist nur eine Frage der Zeit, dann wird der Stiefvater auch Peppa missbrauchen.

Zur Polizei will Sal nicht gehen - sie misstraut den Behörden, dem Sozialsystem, dass die Schwestern trennen und bei verschiedenen Pflegefamilien unterbringen würde. Die dunkelhäutige Peppa würde dann zu einer afrikanischen Familie kommen, fürchtet Sal, die ihre kleine Schwester über alles liebt. Da gibt es nur eins: Sie müssen fliehen.

Was für Huck Finn das Floss auf dem Missisippi ist, das ist für Sal und Peppa in Mick Kitsons Debütroman "Sal" das schottische Hochland. Die beiden sind zwar Stadtkinder, aber Sal hat die Flucht akribisch vorgeplant: Auf Youtube gibt es schließlich Informationen zu so ziemlich allem, einschließlich Überleben in der Wildnis. Die notwendige Ausrüstung ist teils geklaut, teils über Amazon bestellt, dank der geklauten Kreditkarten, die der Freund der Mutter ständig bei sich hat.

Kitson erzählt diese Geschichte von der Liebe zweier Schwestern und ihrem Kampf gegen schwierigste Umstände aus der Perspektive von Sal, einem toughen, selbstbewussten Mädchen, das sich nicht unterkriegen lässt und alles tut, um ihre kleine Schwester zu beschützen. Für junge Leserinnen ist sie so eine starke Identifikatonsfigur, auch wenn "Sal" wohl eher etwas für etwas ältere Jugendliche ist, da es doch ein paar harte Szenen gibt.

Kitson, der erst Journalist und dann Englischlehrer war, ehe er seinen ersten Roman schrieb, hat mit Sal und Peppa zwei schnoddrig-sympatische Romanheldinnen geschaffen, die ähnlich wie ihr literarischer Bruder Huck Finn außerhalb des Systems stehen, auf ihrer Autonomie beharren und auf ihrer Reise in die Wildnis auf eine unerwartete Verbündete stoßen. "Sal" ist sowohl coming of age-Story als auch liebevoll gezeichnetes Außenseiter-Porträt. Mit diesem Debüt macht Kitson neugierig auf mehr.

Veröffentlicht am 04.07.2019

Liebe, Doppelspiel und Verrat im Zweiten Weltkrieg

Die Frau aus Oslo
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Eines vorneweg: Ein Agentenkrimi im Sinne von James Bond ist Kjell Ola Dahls “Die Frau aus Oslo” nicht. Statt rasanter Verfolgungen und viel Dramatik geht vieles hier subtiler, bedächtiger und ruhiger ...

Eines vorneweg: Ein Agentenkrimi im Sinne von James Bond ist Kjell Ola Dahls “Die Frau aus Oslo” nicht. Statt rasanter Verfolgungen und viel Dramatik geht vieles hier subtiler, bedächtiger und ruhiger zu. Um Agenten und doppeltes Spiel, um Liebe und Verrat auf mehreren Ebenen geht es gleichwohl, ebenso um die Frage, wie Kriegs- und Gewalterfahrungen Menschen verändern.

Statt eines Überagenten gibt es in dem norwegischen Kriminalroman gleich mehrere Zeit- und Handlungsebenen, die von der Gegenwart bis in die Zeit der deutschen Besatzung Norwegens im Zweiten Weltkrieg führen. Nicht immer ist die Verbindung zwischen den Punkten allerdings geglückt.

Anfang und Ende – und hier wirkt die Handlung ein wenig konstruiert ist ein Armband, das die Norwegerin Turid in einem Zeitungsartikel über eine Auktion sieht und als das ihrer ermordeten biologischen Mutter erkennt. Turid will die Versteigerung stoppen, läuft dabei jedoch gegen Wände. Und schon findet sich der Leser im Oslo der deutschen Besatzungszeit, wo die Jüdin Ester in der Widerstandsbewegung aktiv ist. Als ihr Vater verhaftet wird, flüchtet sie zunächst zu ihrer besten Freundin, der jungen Mutter Ase. Auch Ases Geliebter Gerhard ist im Widerstand aktiv.

Von Turid und dem Armband ist dann erst mal wenig die Rede – statt dessen springt die Handlung munter zwischen 40-er und späten 60-er Jahren vor und zurück. Ase wird nach einer Liebesnacht mit dem Mann, der später ihre Tochter Turid adoptiert, ermordet, die Gestapo und die mit ihr zuammenarbeitende norwegische Polizei gibt den früheren Spanienkämpfer Gerhard schnell als Tatverdächtigen aus. Doch wer hat Ase getötet? Wer war das Leck in der Widerstandsgruppe, das fast zu einer Festnahme Esters führte? Welche Verbindungen unterhält Gerhard, ist er Opfer oder Täter?

Das sind die Fragen, mit denen sich der Leser herumschlagen muss und zu denen Dahl mehr Mutmaßungen als Antworten bereithält. Denn als die Beteiligten von damals im Jahr 1967 wieder aufeinander treffen, herrscht zwischen den einstigen Kampfgenossen vor allem Misstrauen. Von altem Verrat ist die die Rede, von Abrechnungen wird gemutmaßt, jeder belauert jeden und nimmt erst einmal nur das Schlimmste an.

Das hat ein paar Längen, doch wer sich auf das Buch einlässt, wird von der düsteren und paranoiden Stimmung durchaus gefesselt. Einige Fragen bleiben unbeantwortet, wenn die Puzzlestücke spät zusammenfallen und es dann doch noch recht dramatisch wird. Wenn auch auf eine unterkühlte, unaufgeregte nordische Weise. Am Ende hat auch Turid ein paar Antworten, auf die sie ein Leben lang gewartet hat – womöglich mit ein paar neuen Fragen.

Mitunter ist an diesem Roman unbefriedigend, dass sich Dahl nicht so recht zwischen Kriegsroman und Krimi zu entscheiden scheint. Letztlich ist “Die Frau aus Oslo” beides, und wer sich auf das zurückhaltende Tempo einlässt, wird nicht enttäuscht sein. Vieles erschließt sich hier eben erst auf den zweiten oder dritten Blick, muss hinterfragt und beobachtet werden. Gerade mit Ester hat “Die Frau aus Oslo” eine interessante und vielschichtige Protagonistin. Die mitunter spröde Art der Erzählweise hat durchaus ihren Reiz. Es muss halt nicht immer James Bond sein.

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