Authentisch, echt, bewegend
22 Bahnen22 BAHNEN war für mich ein ganz besonderes Buch und definitiv ein Jahreshighlight. Zu Beginn musste ich mich erstmal an den Schreibstil und die fehlenden Anführungszeichen gewöhnen, war jedoch schon bald ...
22 BAHNEN war für mich ein ganz besonderes Buch und definitiv ein Jahreshighlight. Zu Beginn musste ich mich erstmal an den Schreibstil und die fehlenden Anführungszeichen gewöhnen, war jedoch schon bald derart gefesselt, dass ich es fast in einem Rutsch lesen musste. Caroline Wahl wurde zurecht für ihr Werk mit einem Preis honoriert. Sie versteht es, die Leserschaft so tief in das Geschehen zu ziehen, als wäre man mitten darunter, als wäre es genau so passiert. Dies gelingt ihr beispielsweise durch den Einbezug von Alltagsmarkennamen beim Essen, wodurch man sich ganz leicht mit den Figuren identifizieren kann.
Die Geschichte selbst hat es wirklich in sich. Man leidet, bangt und hofft so sehr mit Tilda und der kleinen Ida, wobei man gar nicht mehr so richtig hoffen kann - nur, dass zumindest die beiden eines Tages frei von all ihrem Schmerz sind. Und dieser Schmerz ist wirklich greifbar, fühlbar und hängt noch lange nach Beenden des Buches nach. Der schwere Alkoholismus der Mutter, die Gewalt, die Vernachlässigung, wenn plötzlich die Rollen zwischen Eltern und Kindern tauschen. Und vor allem die innere Zerrissenheit, sich zwischen seinem eigenen Seelenwohl und dem Schutz der Liebsten wählen zu müssen.
Dabei finde ich es besonders beeindruckend und wünschenswert, dass Tilda nicht als lost girl next door dargestellt wird, sondern sie zu einer der Besten in ihrem Mathematikstudium zählt und ihr sogar eine Promotion in Berlin angeboten wird. Dass eine solche Situation jeden treffen kann und man sich irgendwie daraus befreien kann, mit viel Zeit, Nerven und Mut. Herzerwärmend ist, wie Tilda alles dafür gibt, ihre kleine Schwester zu einer mutigen, selbstbewussten Frau "auszubilden", für deren Rolle sie mit ihren 10 Jahren eigentlich viel zu jung ist. Dennoch ist man unglaublich stolz auf die Kleine, wie sie an sich wächst, sich entwickelt, ihre Stimme findet und sie für sich einsetzt.
Die Liebesgeschichte ist subtil, aber unglaublich tief und bewegend, das Ende unglaublich schön, vor allem im Teaser zu Band 2. Viktor hat es nicht leicht, er kämpft sich allein durch seinen Schmerz, seine Trauer. Und dann sind da Ida und Tilda und plötzlich ist er nicht mehr allein und die drei finden durch eben diesen geteilten Schmerz zusammen zu einer kleinen found family, die sich gegenseitig Halt gibt und letztlich rettet.
Der Roman ist realistisch, authentisch, einfach echt. Es wird nichts beschönigt, nichts ausgeschmückt, sondern alles auf den Punkt gebracht, wodurch es umso tiefer trifft. Er geht derart unter die Haut, dass er mich noch lange begleiten wird.
In wenigen Tagen erscheint der viele Jahre später spielende Folgeband, der die Geschichte Idas beleuchtet.
5 ⭐