Von Beginn an war ich total eingenommen von dieser suppigen, etwas düsteren Atmosphäre, die durch die Ungewissheit ob der Täterschaft des Sohnes von Pia hervorgerufen wird. Sprachlich subtil, im Austausch ...
Von Beginn an war ich total eingenommen von dieser suppigen, etwas düsteren Atmosphäre, die durch die Ungewissheit ob der Täterschaft des Sohnes von Pia hervorgerufen wird. Sprachlich subtil, im Austausch mit ihrem Partner mehr explizit und drängend, versuchen sie, den Sohn zum Reden zu bringen, doch ohne Erfolg. Die Gegenwart wird immer öfter von der Vergangenheit gekreuzt, Erinnerungen an Pias Kindheit, ihre drei Schwestern, denn sie waren immer "Eins bestehend aus drei Teilen", bis ein schrecklicher Unfall sie auseinander riss. Und auch hier: die Frage nach Schuld und Unwissenheit, nach psychischem Missbrauch und Stille, blinde Flecken, die bis in die Gegenwart reichen. Pia versucht zu rekonstruieren, was war, um zu verstehen, warum ihr Sohn ist, wie er ist. Warum sie die ist, die sie ist.
Ein intensiver Roman über Mutterschaft, über vermeintliche Mutterliebe und Abhängigkeiten, über Wahrheit und Lüge und die graue Zone dazwischen. Während mich die erste Hälfte unheimlich mit sich riss, verlor mich die Geschichte im letzten Drittel, und ich weiß nicht, wieso. Etwas fehlte, fühlte sich nicht mehr konsistent an? Ich weiß es nicht, aber mein Bauch spricht eine andere Sprache als der Kopf. Dennoch: ein beeindruckender Text.
Bintang Estate Malaya, 1945. Jede Bewegung fühlt sich an, als müsse sie einem unsichtbaren Widerstand trotzen; alles fühlt sich schwer an in diesen Tagen. Einer der Nachbarsjungen verschwindet, ...
Bintang Estate Malaya, 1945. Jede Bewegung fühlt sich an, als müsse sie einem unsichtbaren Widerstand trotzen; alles fühlt sich schwer an in diesen Tagen. Einer der Nachbarsjungen verschwindet, aber ein paar Tage später erwähnt schon niemand mehr sein Fehlen. Doch er bleibt nicht der einzige. Immer mehr Jungen verschwinden plötzlich spurlos. Und schließlich auch der älteste Sohn von Cecily. Abel war gerade fünfzehn geworden, alt genug, der Familie zu helfen, der ganze Stolz seiner Eltern. Cecilys Brust schmerzt, die Ungewissheit macht sie mürbe, die Angst lässt sie nachts nicht mehr einschlafen, und auch ihre beiden Töchter können mir der Situation nur schwer umgehen. Was ihre Familie jedoch nicht weiß: dass Cecily seit Jahren ein Geheimnis hat. Und dass dieses Geheimnis der Grund für Abels Verschwinden ist, dessen ist sie sich sicher: Seit der Besetzung Malayas durch britische Truppen sehnte sie sich nach einem besseren Leben für sich, wollte nicht nur Hausfrau und Mutter sein, sie wollte… mehr. Wollte wieder Frau sein, ihre Träume verfolgen. Als sie den japanischen General Fujiwara bei einem Dinner, an der Seite ihres Mannes sitzend, kennenlernt, eröffnet er ihr eine Chance, diesen Träumen näherzukommen. Frei zu sein.
Aus Sicht von Cecily und ihren drei Kindern erzählt Vanessa Chan in ihrem Debütroman „Nach uns der Sturm“, aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit, leidenschaftlich die Geschichte einer Familie zu Beginn des 20. Jahrhunderts, deren Leben vom Krieg auseinander gerissen wird. Von portugiesischen Einwanderer abstammend, hatten sie „weiße Tupfer in ihrem Namen und ihrem Blut“ (S. 23), doch während Cecilys Mutter stolz auf ihre Herkunft war, ihr „Weißsein“, litt Cecily in jungen Jahren darunter, fühlt sich nicht zugehörig - weder in der Gesellschaft noch in ihrer Familie. Auch ihre Kinder, Jahre später, sind Opfer rassistischer Bemerkungen. Feinfühlig arbeitet Chan die jeweiligen Gedanken und Charakterzüge der vier Protagonist:innen heraus, verwebt ihre Lebenslinien zu einem engmaschigen Teppich miteinander, der die Jahre zusammenhält. Doch für mich ist dieser Handlungsteppich zu grobmaschig, das Erzähltem langatmig und die Perspektivwechsel teilweise irritierend inkonsequent aufeinander aufbauend, sodass ich schnell den Faden und damit die Motivation verlor, weiterzulesen, auch wenn mich die Sprache und die Feinheiten zu Beginn sehr begeisterten und ich so sehr etwas über dieses Kapitel der Geschichte Asiens lernen wollte. Es hat nicht sollen sein.
„Ich würde alles tun, um die Zeit zurückzudrehen. Ich würde alles tun, um die Zeit zurückzudrehen, und dann alles anders machen." (S. 207)
Niemals wird Ida den Tag vergessen, als sie sie fand, die letzten ...
„Ich würde alles tun, um die Zeit zurückzudrehen. Ich würde alles tun, um die Zeit zurückzudrehen, und dann alles anders machen." (S. 207)
Niemals wird Ida den Tag vergessen, als sie sie fand, die letzten Worte, die sie ihr an den Kopf warf, ihre Wut. Seit zwei Monaten war ihre Mutter tot, und sie alleine mit ihrer Trauer, der Scham, den Erinnerungen. Das einzige, was ihr hilft, ist Schreien, denn ihre Finger haben verlernt zu schreiben, haben sie der einzigen Sprache beraubt, die es vermochte, sie dem Alltag entfliehen zu lassen. Sie muss raus, weg aus der Kleinstadt, in der sie ihr ganzes bisheriges Leben verbracht hatte.
„In mir tobt ein Sturm, ein Orkan, ein Tornado, der alle Fragen aufwirbelt, die ich immer im Boden zertrete, wenn sie auftauchen.“
Sie steht am Strand und starrt auf die Wellen. Sie hatte sich keine Gedanken darüber gemacht, wohin sie fahren sollte, wollte nur weg, wollte Abstand gewinnen, strandet auf Rügen. Ein Meer zwischen sich und allem, was war, allem, was ist. Am liebsten wäre sie direkt in die Wellen gesprungen, doch die Angst, dass jemand ihren Koffer und ihren Laptop klauen könnte, überwiegt; dann hätte sie gar nichts mehr auf dieser Welt. Ida streift über die Insel, ihr Handy auf Flugmodus, ihre Gedanken in den Wolken, bis sie Knut kennenlernt, den Besitzer der Inselkneipe „Zur Robbe“. Eins führt zum Anderen, und statt im Viererzimmer in der Jugendherberge wacht Ida mit dem Duft frischen Brotes in der Nase auf, das Marianne, Knuts Frau, jeden Morgen backt. Tagsüber spielen sie Karten, spazieren durch den Wald und essen Botinchen, abends hilft Ida Knut in der „Robbe“. Die Tage vergehen, und die Routine und Geborgenheit lassen Ida atmen, doch der Knoten in ihrer Brust schmerzt noch immer. Und dann lernt sie Leif kennen, und alles fühlt sich ein bisschen erträglich an. Doch es dauert nicht lange, bis es wieder wehtut.
„Ich dachte, wenn ich weit weg bin, dann sind die Gedanken leiser. Aber sie sind laut, und sie tun weh.“
Diese ersten Seiten, sie taten weh; all den Schmerz zu spüren, der sich unaufhörlich in Ida aufbaut, ihre Verlorenheit, alles, was ihr etwas bedeutete, ihre Träume, zu verlieren, und schließlich: ihre Kapitulation. Es sind ein paar Jahre vergangen zwischen dem Punkt, an dem „22 Bahnen“, der Debütroman von Caroline Wahl, endet und Idas Geschichte, „Windstärke 17“, beginnt, doch der Sound ist derselbe: melancholische Schwere meets lakonisch freche Dialoge und poetische Wortspielerei plus ein bisschen Liebes- und Lebenskummer. Ohne Kitsch, teilweise vielleicht ein bisschen zu pathetisch, ein bisschen wishful thinking - aber brauchen wir das nicht alle mal?
.
Je weiter Ida sich von ihrer Heimatstadt entfernt, von den Erinnerungen, die ständigen Nachfragen ihrer Schwester und ihrer besten Freundin Samara über den Flugmodus ausgeschaltet, desto mehr weichen die grauen Donnerwolken zärtlichen Wolkenschlieren, die ab und an sogar ein wenig Sonne hindurchlassen: Sie findet bei Marianne und Knut den Halt, den sie nach dem Tod ihrer Mutter so dringend braucht, findet Ablenkung, Fürsorge und eine Routine, und sie lernt, wieder auf ihre Stärken zu vertrauen, an sich und ihre Wünsche zu glauben. Und gleichermaßen gibt sie den beiden durch ihre Anwesenheit, ihre Suche um Wärme eben auch das zurück.
.
Wärme findet Ida auch bei Leif, dem Enkel von Knut und Marianne, aber es wäre zu einfach, liefen sie einfach Hand in Hand in den Sonnenuntergang, fair enough, stattdessen sind da: Sehnsucht, Unbeständigkeit und wieder: Angst. Ich mochte die klugen, atemlosen Dialoge zwischen den beiden sehr, auch wenn mich Idas teilweise Gen Z-ige Art manchmal ein bisschen genervt hat - da merk’ ich dann doch, dass ich nicht mehr achtzehn bin. Aber Leif, der hat’s auf meine Book Boyfriend-Liste geschafft; ebenso wie all die neuen Facetten, die Ida zu einer so besonderen Protagonistin machen - die mir auch viel lieber ist als Tilda, herrje -, ist auch Leif mit all seinen Licht- und Schattenpunkten toll gezeichnet. Der Verlauf des Plots, ja gut, der war teils durchaus erwartbar, auch wenn Idas Beziehung zu Leif keine klischierte High School-Romance ist, wie sie sagt, aber ich hab’s einfach gefühlt. Gefühlt, gemocht, gelacht und geweint.
„Chị hai, wir sind nur Wasserhyazinten, die auf einem Fluss treiben. Lass dich von der Strömung nicht nach unten ziehen. Schütze dich, denn da kann niemand außer dir.“ (S. 251)
Vietnam, 1969: ...
„Chị hai, wir sind nur Wasserhyazinten, die auf einem Fluss treiben. Lass dich von der Strömung nicht nach unten ziehen. Schütze dich, denn da kann niemand außer dir.“ (S. 251)
Vietnam, 1969: Trang richtet sich auf, blickt zum rot glühenden Horizont und wischt mit dem Arm die feinen Schweißperlen von ihrer Stirn. Ihr Traum ist es, Medizin zu studieren und in die große Stadt zu gehen, doch seit sie durch die Tú-tài-Prüfung gefallen war, ist ihr Traum in weite Ferne gerückt. Gemeinsam mit ihrer jüngeren Schwester Quỳnh arbeitet sie auf dem Reisfeld ihrer Eltern, seit der Vater als Invalide von der Front zurückgekehrt ist. Um wieder laufen zu können, benötigt er eine Operation, aber das Geld ist knapp. Es sind schwierige Zeiten, aber die Verse ihres Lieblingsbuchs „Das Mädchen Kiều“ geben ihr Kraft, weiterzumachen. Als Trangs Freundin Hân den Schwestern anbietet, mit ihr nach Sài Gòn zu kommen, um dort als Barmädchen zu arbeiten, ergreifen sie die Chance - und damit die Möglichkeit auf ein besseres Leben für ihre Familie. Eines Abends lernt Trang einen amerikanischen Soldaten kennen; er ist anders als all die anderen Männer, die sich leeren Blicks allabendlich in die Bar kommen. Seine Augen strahlen Wärme aus, scheinen ihr schlagendes Herz hinter der Maske zu sehen, die sie in der fremden Stadt aufgesetzt hat. Ein fragender Blick, eine zarte Berührung, ein Kuss – und Trangs Leben soll sich für immer verändern.
Sein Leben lang hat Phong im Schatten der Gesellschaft gelebt; er ist ein Bụi đời, Staub des Lebens. Seine Mutter ist Vietnamesin, sein Vater ein Schwarzer GI, doch er kennt weder ihre Namen noch ihre Gesichter. Kurz nach seiner Geburt wurde er in einem Waisenhaus abgegeben, aber alsbald musste er seinem Nest entfliehen, obgleich ihm niemand gezeigt hatte, wie man fliegt. Dabei wünscht er sich doch nur, dass er gesehen wird, eine Hand, die ihn hält, und: heimzukehren.
Dan war Anfang zwanzig, als er eingezogen wurde. Auch vierzig Jahre später sieht er immer noch seine Kameraden vor sich, hört das Kommando, das sie ihm zurufen, als - er schluckt. Vieles hat er seiner Frau Linda erzählt von seiner Zeit in Vietnam, aber da ist etwas, das er verdrängt, etwas, das immer lauter wird, ihm keine Ruhe mehr lässt. Er kehrt zurück nach Ho-Chi-Minh-Stadt, ins ehemalige Sài Gòn, um Antworten zu finden, Gewissheit, und vielleicht eine alte Schuld wiedergutzumachen.
.
“Ganz gleich, wer den Krieg gewinnt, die Menschen verlieren immer. [Man] wird den Krieg nicht los.“ (S. 327)
.
Lange ist der Vietnam-Krieg vorbei, doch in den Menschen lebt er weiter: Noch heute erleben die Kinder vietnamesischer Veteranen Diskriminierung, werden nicht zum Studieren zugelassen, finden keine Arbeit. Und anders als die ehemaligen Soldaten der US Army erhalten sie keine Unterhaltszahlungen, kein Denkmahl erinnert an ihren Schmerz, schlaflose Nächte, die Paralyse des allgegenwärtigen Todes, die sie mit Alkohol und Selbstverletzung zu verdrängen versuchen, PTBS. Im Jahr 1989 wurde der Amerasian Homecoming Act verabschiedet, der es in Vietnam geborenen Kindern amerikanischer Soldaten und ihren nahen Angehörigen ermöglichen sollte, als Flüchtlinge in den USA zu emigrieren, und der gegenwärtigen Armut, den Anfeindungen zu entkommen.
.
In ihrem Roman „Wo die Asche blüht“ verwebt Nguyễn Phan Quế Mai die Lebenswege einer jungen Vietnamesin, eines amerikanischen Veteranen und eines Waisenkindes miteinander, und bildet, in poetischer, die Schwere tragender und Räume öffnender Sprache über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten unterschiedliche, kritische Perspektiven auf den Vietnam-Krieg und seine Folgen ab; für das Land und seine Menschen. Claudia Feldmann bildet in ihrer Übersetzung all die emotionalen und individuellen Facetten der Protagonist:innen und die unterschiedlichen Farben ihrer jeweiligen Sprache hervorragend ab, stellenweise aber schlägt die Poesie allzu schnell in Pathos über.
.
„Ein Leben ohne Fantasie [war nur] ein Existieren und ein Leben ohne Bücher die größte Strafe.“ (S. 346)
.
Ein zentrales Thema des Romans ist neben den historischen Kämpfen die Rolle der Literatur, die insbesondere Trang und Dan miteinander verbindet. Sie ziehen Kraft aus den Geschichten, lässt sie sie ihr jeweiliges Leben mit anderen Augen und neuer Hoffnung betrachten. Kritisch betrachtet sie auch das Ansehen und die Rolle der Frau in der vietnamesischen Gesellschaft zur Zeit des Krieges: Sie gelten als schmutzig, minderwertig gegenüber männlichen Nachkommen; Bildung wird ihnen versagt, bedeutete sie Macht und die Eröffnung neuer Lebensperspektiven, die für sie nicht vorgesehen waren. In der Öffentlichkeit geht es um das Ansehen, Prestige und Eleganz, Makellosigkeit in Erscheinung und Vita.
.
Die Geschichte hat mich auf vielerlei Weisen ungemein bewegt und mitgerissen, der Verlauf der Handlungsstränge immer wieder überrascht. Nguyễn Phan Quế Mai schafft es, mit Leichtigkeit eine Vielzahl intensiver Themen nahbar und feinfühlig miteinander zu einer Geschichte zu verbinden, deren Bilder einem noch lange im Gedächtnis bleiben. Eine große Empfehlung!
"Es war ein Wetter ohne Jahreszeit: vierzehn Grad und ein schwerer Himmel. ... Es war, als hielte alles hier die Luft an, oder vielmehr: als würde vorher nochmal Luft geholt. Marlene schaute ...
"Es war ein Wetter ohne Jahreszeit: vierzehn Grad und ein schwerer Himmel. ... Es war, als hielte alles hier die Luft an, oder vielmehr: als würde vorher nochmal Luft geholt. Marlene schaute aufs Wasser, in der Erwartung, dass es etwas in ihr auslösen würde. Aber das Meer glich dem Himmel darüber, bloß auf den Kopf gestellt." (S. 9) Nach dem Abschluss ihres Studiums sehnt Marlene sich nach Halt, doch in ihr ist eine große Leere: Sie fühlt sich eingeengt von den Erwartungen der Gesellschaft an sie als junge Frau, und gleichzeitig verloren in ihrer Erwartungslosigkeit an eine mögliche Zukunft. Sie braucht Abstand. Von den fragenden Blicken, von ihrem Leben und beschließt daher, für den Sommer in einem Erlebnisdorf im nordfriesischen Wattenmeer zu arbeiten. Auf der Insel Strand scheint die Zeit stillzustehen: In altertümlichen Trachten, die sie innerhalb der „Kostümgrenze“ zu tragen haben, bewirten die zahlreichen Saisonkräfte die Urlaubsgäste, verkaufen authentische Handwerkskunst und frisch geräucherten Fisch. Marlene ist für die Zeit ihres Aufenthalts im Hofladen eingeteilt; jeden Morgen versteckt sie ihre Haare unter einer Spitzenhaube, bindet sich die schweren Schnürstiefel, streift Bluse und Rock über, und verkauft Kekse, Inselhonig und Sanddornbonbons, bis die Abenddämmerung den Horizont färbt. Bald lernt Marlene Janne kennen, die auf der Insel aufgewachsen ist. Es kribbelt in ihrer Brust, wenn sie an sie denkt, ihr Herz klopft schneller, wenn sie sie unter der Traufe der Räucherei stehen sieht. Je näher sie einander kennenlernen, ihre Geschichten und Körper erkunden, desto mehr verändert sich Marlenes Wahrnehmung der Insel und ihrer Bewohner:innen. Sie beginnt, sich für das Unsichtbare zu interessieren, das, was hinter alldem liegt, was den Urlauber:innen tagtäglich vorgespielt wird. Aber auch Janne hat Geheimnisse, die sie nicht greifen. „[Durch die Glasscheibe sah Marlene] eine in Packpapier eingewickelte Makrele [auf der Fensterbank liegen]. Auf dem Papier stand mit Edding ‚Bis nächste Woche‘ geschrieben. Nervös zählte sie an den Fingern die Nächte bis Johannisnacht ab: Es waren sechs.“ (S. 180) Diese ersten Seiten, das fühlte sich an wie das Betreten einer anderen Welt, wie Urlaub: salziger Wind, Sand zwischen den Zehen, Wellenrauschen. Am liebsten wäre ich direkt in die Bahn gestiegen und ab ans Meer, im Handgepäck: „Leute von früher“ von Kristin Höller. Von Urlaub kann Marlene in diesen ersten Tagen auf Strand nur träumen. Ihre Gedanken wiegen schwer, der Geburtstagskuchen knistert in der Plastikfolie, als sie ihr Zimmer für den Sommer bezieht, doch die Neugier über das, was sie erwartet, tritt mit jedem Schritt in den Vordergrund. Und mit der Neugier auch die Beklemmung. Ich lerne Marlene als eine rastlose, emphatische junge Frau kennen, die zuhört und anpackt, uneitel und pragmatisch ist, und von sich selbst sagt, dass sie „absichtlich unachtsam“ sei, und nie gelernt hätte, in sich hineinzuhören. Eng an ihrer Seite: ihre besten Freund:innen Luzia und Robert. Sie hatten sich zu Beginn des Studiums kennengelernt und sind einander Ohr und Schulter. Und Kühlpack-Halter, Wartezimmer-Begleitung, In-den-Schlaf-gleit-Beschützer. Wir alle brauchen einen Robert in unserem Leben. Das Verhältnis zu ihren Eltern hingegen ist distanziert, angespannt; wie ihre Großmutter, der sie jede Woche eine Postkarte schreibt, wissen sie nichts von Marlenes Sommerjob.
.
"Die tun ja nichts. Das sind nur Leute von früher." (S. 301)
.
Als Marlene Janne kennenlernt, verändert sie sich. Sie wird offener, sich selbst und ihrer Gefühle bewusster, verletzlicher. Ihre Beziehung beginnt leise, ein heimliches Kribbeln wird zu einem klopfen Herzen, zärtlich schwebend ist ihre Annäherung, gewinnt immer mehr an Konturen, bis auch diese unter der Anziehung verschmelzen. Sie sind fühlbar aufregend wärmend und gleichermaßen subtil tastend neugierig, diese Blitze zwischen ihnen, die Worte, die Kristin Höller für das Zwischenmenschliche findet, beklemmend die Atmosphäre, die auf der Insel vorherrscht. Immer satter wird das Bild des Urlaubsdorfes und seiner Schausteller:innen, der Strukturen des Tourismus und die Auswirkungen des Klimawandels auf das Inselleben und seine Menschen. Doch kein Licht ohne Schatten. Vielleicht wollte ich festhalten an dem Zauber, diesem Leben in der Schwebe, denn, nachdem ich mich auf den ersten zweihundert Seiten komplett verloren habe, quasi auf der Insel gelebt habe, hat mich das Ende verloren. Something was off, die Magie war weg. Und ich ziemlich gefrustet. Vielleicht kam es zu schnell, vielleicht habe ich es auch einfach nicht verstanden? In meinem Kopf bleibt das Bild der schwankenden Fähre, der ersten unsicheren Schritte auf dem sandigen Boden - und diese zarte Liebe.