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Veröffentlicht am 31.08.2022

Voller Wärme und Hoffnung

Schlangen im Garten
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Bereits nach dem ersten Satz wusste ich: Dieses Buch, das wird was ganz Fantastisches. Und der erste Eindruck sollte nicht täuschen. Mit ihrer so markanten, schwerelosen Art, selbst die banalsten Handlungen ...

Bereits nach dem ersten Satz wusste ich: Dieses Buch, das wird was ganz Fantastisches. Und der erste Eindruck sollte nicht täuschen. Mit ihrer so markanten, schwerelosen Art, selbst die banalsten Handlungen in etwas Magisches zu verwandeln, erzählt Stefanie vor Schulte in „Schlange im Garten“ eine Geschichte vom Abschiednehmen, vom Trauern und Erinnern, von Zusammenhalt und unendlicher Liebe. Und vom Loslassen, Erwachsen werden, Heilen und Geheilt werden. Es ist dieses Spielerische, die kindlich-fantasievolle Nuance, die sie nebenbei in die Sätze einfließen lässt, die der getrübten, schmerzvollen Atmosphäre etwas Märchenhaftes verleiht, die so bitter nötige Hoffnung. Einfühlsam gibt sie den Kindern und ihrem Vater Raum, ihr Innerstes, ihre persönlichen Erinnerungen, Ängste und Wesenszüge, zu entfalten, und ermöglicht es ihnen so, gerettet zu werden. Und nicht zuletzt auch, dem ihnen ungefragt auferlegtem Stigma zu entheben, den Erwartungen der Nachbarn, der Gesellschaft, wie sie zu trauern haben, die von ihnen immer als „die Familie mit der toten Mutter“ reden wird.

Es ist eine Geschichte, die das Herz in der Faust der Worte eng macht, gleichzeitig aber eine alles erstrahlende, wärmende Hoffnung innehat, die bis in die Zehenspitzen kriecht. Und glücklich macht. Unfassbar glücklich und hoffnungsvoll.

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Veröffentlicht am 31.08.2022

Liebe und Fall

Jahre mit Martha
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Einfühlsam erzählt Martin Kordic in „Jahre mit Martha“ nicht nur die ungewöhnliche und berauschende Liebesgeschichte eines jungen Mannes und einer älteren Frau, nein, diese Geschichte ist so viel mehr ...

Einfühlsam erzählt Martin Kordic in „Jahre mit Martha“ nicht nur die ungewöhnliche und berauschende Liebesgeschichte eines jungen Mannes und einer älteren Frau, nein, diese Geschichte ist so viel mehr als das: Feinfühlig und bedrückend lässt er in Nebensätzen immer wieder anklingen, wie es um Željkos soziale Herkunft bestellt ist, dass er von klein auf lernt, für seine Familie, seine Geschwister zu sorgen, selbstlos ist; wie er seiner Mutter beim Putzen zur Hand geht, für sich und seine Geschwister Zeitungen aus alten Containern sammelt; den reichen Kindern von nebenan zeigt, wie man „arm sein“ wirklich spielt. Dem gegenüber stehen Željkos Fluchtversuche aus der Armut, die geprägt sind vom Alters- und Klassenunterschied und deren Auswirkungen auf seine Beziehung zu Martha. Was folgt, ist ein ungleiches Machtverhältnis, das an Ausnutzung und Gefügigkeit grenzt. Doch Željko muss sich in immer wieder seinem Gegenüber kniend wiederfinden, geschlagen; Martha, die er vergöttert und ihm finanzielle Unabhängigkeit durch emotionale Abhängigkeit ermöglicht; seinem Dozenten Alex Donelli, dem Starprofessor, der ihn hintergeht und durch sein Licht für andere unnahbar macht.
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Es sind die immer wiederkehrenden Muster in Željkos Leben, die mürbe machen, ihn, das Kind einer bosnischen Einwanderer- und Arbeiterfamilie jedoch anspornen, denn er weiß, was er kann, er weiß, wer er ist und was er will. Und all das – seine zuversichtliche Einstellung allen Widrigkeiten zum Trotz, die Vorurteile und den Hass (let’s say it: Rassismus) deutscher Beamter mit Worten (und manchmal auch mit Fäusten) dementierend, seine Hartnäckigkeit – hält ihn am Leben. Er durchlebt eine unkonventionelle Heldenreise, fliegt hoch und stürzt tief, gerät auf die schiefe Bahn. Und er schreibt, schreibt und liest über und von der Liebe, von Hertha Kräftner, seiner Schutzpatronin – und landet sanft, als sich der Kreis und damit ein Kapitel seines Lebens schließt.
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Innerhalb weniger Seiten hat die Geschichte von Željko aka Jimmy mit seiner sanften Rauheit und der multithematischen Herangehensweise, die gleichermaßen als gesellschaftliches Psychogramm, als Coming of Age-, Liebes- und Bildungsgeschichte gelesen werden kann, mein Herz erobert. Ich habe gelacht und geweint, gelitten und gebangt – vor allem aber: geliebt. Was für ein grandioses Buch!

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Veröffentlicht am 27.08.2022

Ein großes kleines Buch

Svendborg 1937
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Mit zarten, leisen Worten erzählt Tanja Jeschke in „Svendborg 1937“ die Geschichte der jüdischen Familie Dinkelspiel, die Anfang 1937 nach Dänemark flüchtete. Im Fokus der Erzählung steht Meret, damals ...

Mit zarten, leisen Worten erzählt Tanja Jeschke in „Svendborg 1937“ die Geschichte der jüdischen Familie Dinkelspiel, die Anfang 1937 nach Dänemark flüchtete. Im Fokus der Erzählung steht Meret, damals gerade siebzehn Jahre alt. Distanziert und vorsichtig schildert die Autorin zunächst aus einer auktorialen Perspektive Merets Misstrauen ob der vermeintlichen Sicherheit, die das Leben in Dänemark bieten soll, ihre Sorge um das Wohlergehen der Eltern und ihrer Schwester Ricarda besorgt – und ihre Rastlosigkeit. Trotz all der Freuden des Lebens, die sie wiederentdeckt – den Tivoli, die Strandbesuche, verliebte Blicke zu den jungen Männern in Kopenhagen –, bleibt aber doch immer eine gewisse Traurigkeit, die durch ihre immer weiter kreisenden Gedanken ob des Status der Juden in der Gesellschaft und dem Sinn des Lebens im Exil zum Ausdruck gebracht wird. Es ist wahrlich nicht einfach für sie, unter solchen Bedingungen aufzuwachsen und eine eigene Persönlichkeit zu entwickeln.
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Mit dem Eintritt der Frauen Brechts in ihr Leben und dem ihr zugewandten Rücken des großen Autors, der für sie symbolisch für das Leben steht, das er – ebenso wie die Familie Dinkelspiel – in Deutschland hinter sich ließ, beginnt sie, ihre Erlebnisse und Gedanken aufzuschreiben; die Erzählperspektive wandelt sich, wird persönlicher, intimer, mein Herz zog sich ob der sich zuspitzenden Situation immer mehr zusammen, eine Eisenfaust in meiner Brust. Es sind die leisen Töne, in denen der Roman seine Stimme entfaltet, kleine Dinge, vermeintlich alltägliche Beschreibungen und Charakterisierungen, die im Kleinen wirken und betroffen machen: die Geschichte hinter dem Bild von Mitsch-Forch, Friedrichs Behinderung, die Salzschale der Tante. Eingebettet in das Kriegsgeschehen Ende der 1930er Jahre, wenn auch einer anderen Perspektive, als man sie aus dem Geschichtsunterricht kennt, erzeugt die Autorin durch die Einbindung und Nennung großer Literaten und Künstler eine besondere Art des Wiedererkennens und der Verbundenheit. Trotz der unendlich schmerzhaften und schweren Thematik erzeugt sie durch ihre liebevollen, empathischen Worte so viel Wärme, dass ich gerne noch viel länger, detaillierter Merets Leben gefolgt wäre. Eine große, kleine Geschichte, die im Herzen bleibt.

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Veröffentlicht am 09.08.2022

Große Enttäuschung

Die Ewigkeit ist ein guter Ort
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Gemeinsam mit ihrem Freund Jan wohnt die Pfarrerstochter Elke in Köln. Sie studierte Theologie und arbeitet im Hubertusstift, begleitet Menschen auf ihrem letzten Weg an der Hand Gottes; später ...

Gemeinsam mit ihrem Freund Jan wohnt die Pfarrerstochter Elke in Köln. Sie studierte Theologie und arbeitet im Hubertusstift, begleitet Menschen auf ihrem letzten Weg an der Hand Gottes; später soll sie einmal die Gemeinde ihres Vaters übernehmen. Für Jan, Atheist durch und durch, eine lapidare Freizeitbeschäftigung, ein Aufschub, bis Elke etwas „Richtiges“ gefunden hätte. Da scheint es fast ein böses Omen, als Elke am Karnevalsdienstag einer alten Dame am Sterbebett das Vaterunser sprechen soll – doch nach drei Zeilen bar jeder Worte ist. Irgendwas mit Brot, Himmel, Schuld; es will ihr nicht mehr einfallen. Sämtliche Gebete, alles weg. Als habe sie plötzlich Demenz. Gottesdemenz? Sie wird vom Leiter der Gemeinde suspendiert und versucht, durch eine Reise an den Ort ihrer Heimat, im Haus ihrer Eltern, Klarheit zu erlangen. Aber alles erinnert sie an früher, nichts ist mehr so, wie es mal war. Der vierte Stuhl am Tisch wird immer leer bleiben, da, wo ihr Bruder immer saß. Und dann trifft sie Lukas, einen Motoradkünstler. Er ist Teil einer Gruppe von Steilwandfahrer, schwebt täglich mit seinem Motorrad zwischen Himmel und Erde. Plötzlich findet sie sich als Ansagerin im Ring – und innerhalb eines Sekundenbruchteils fällt ihr Leben auseinander.

"In meinem Kopf geriet alles durcheinander. Erinnerungen wandelten sich in Fantasien, Gebete deformierten sich zu Beschimpfungen, Worte, die mir lieb
waren, verschwanden. Als würden die schönen Dinge sich von mir abwenden und dabei ihre hässlichen Rückseiten offenbaren."
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Was für eine spannende Idee: Gottesdemenz. Kann man eine Lebenseinstellung, das, wonach man sein Leben lang gelebt hat, einfach vergessen? In ihrem Debütroman „Die Ewigkeit ist ein guter Ort“, für welchen sie in Auszügen bereits 2019 den Hamburger Literaturpreis gewann, ergründet Tamar Noort, was es zwischen Himmel und Erde braucht, um glücklich zu sein, sich angekommen zu fühlen, abzuschließen und nach vorne zu schauen. Meine anfängliche Begeisterung legte sich leider sehr schnell. Bereits nach einer Handvoll Seiten wurde mir die Protagonistin zunehmend unsympathisch; sie nervte mich regelrecht mit ihren unüberlegten, fragwürdigen Handlungen, ihrer Verschlossenheit gegenüber ihrem Partner und der mangelnden Selbstreflexion, fügte sich nicht ins große Bild ein. Insgesamt wirkte der Handlungsverlauf sehr konstruiert und langatmig, überraschte ab und an mit ausgefallenen Ideen – Motorrad, Steilwand, Gottesbezug? –, doch auch hier verlor es sich schnell ins Voraussehbare. Sprachlich hingegen: richtig gut. Die Autorin schreibt leicht und lautmalerisch, lässt immer wieder humorvolle und nachdenkliche Nuancen einfließen und lässt so auch eine gewisse Tiefe durchblicken, die sich im Zusammenspiel mit den Protagonisten und der Handlung leider nicht manifestieren konnte. Schade, das hatte wirklich Potential! Macht aber dennoch gespannt auf alles, was von Tamar Noort noch kommt.

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Veröffentlicht am 28.07.2022

Hätte mehr erwartet

An den Ufern von Stellata
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Vor mehr als zweihundert Jahren lebte in dem kleinen Dorf Stellata in der Lombardei ein Mann von schwerem Gemüt, ein Einzelgänger und Träumer, der dachte, mit seinen Erfindungen großen Ruhm erlangen ...

Vor mehr als zweihundert Jahren lebte in dem kleinen Dorf Stellata in der Lombardei ein Mann von schwerem Gemüt, ein Einzelgänger und Träumer, der dachte, mit seinen Erfindungen großen Ruhm erlangen zu können. Doch immer wieder scheiterte Giacomo Casadio, wurde zum Gespött des Dorfes. Als er auf dem alljährlichen Dorffest einer der seit mehreren Monaten am Fluss lebenden zigaras begegnete, einer jungen Schönheit mit langem, schwarzem Haar und von biegsamer Gestalt, war es um ihn geschehen. Er war hingezogen und gleichzeitig eingeschüchtert von ihrer Grazie, doch die Frau bestand darauf, ihm aus der Hand zu lesen: Und sie sah in den Linien, dass er der Mann ist, auf den sie jahrelang wartete. Wenige Monate später heirateten Viollca und Giacomo entgegen dem Willen ihrer beider Familien; eine Ehe, die von Beginn an unter keinem guten Stern stand - und deren Nachkommen Generation um Generation immer wieder mit Herausforderungen zu kämpfen haben werden. Sie sind einerseits Traumtänzer, nicht ganz am Boden und der Wirklichkeit behaftet, andererseits strebsame und kluge Köpfe, unglücklich verliebte, arme wie wohlhabende Menschen. Und doch besteht die größte Aufgabe darin, weder den Kopf in den Wolken zu verlieren noch in den Fluten unterzugehen.

Voller Magie begleitet Daniela Raimondi in ihrem Debütroman "An den Ufern der Stellata" (OT: La casa sull'argine. La saga della famiglia Casadio, aus dem Italienischen von Judith Schwaab) die Geschichte der Familie Casadio, die ihren Anfang im 19. Jahrhundert findet. Leichtfüßig verbindet sie bis hin zur Neuzeit sieben Generationen miteinander, lässt jeweils den nächsten Protagonisten, dessen Schicksal im Fokus steht, sanft und fließend, wie die Stellata in ihrem Flussbett dahinwogt, in das neue Jahrzehnt hinübertreten und seine Geschichte weitertragen. Sie sind eingebettet in das jeweilige Zeitgeschehen und die örtlichen Gegebenheiten Italiens und Brasiliens, in Kriege und Aufstände, Wind und Wetter, und über allem wogt die Prophezeiung ihrer Urahnin Viollca, das wiederkehrende Symbol der Schlange und das Unheil, das sie bedeutet.

Die Sprache ist eingängig und expressiv, der jeweiligen Zeit in Ausdruck und Rhythmik angepasst. Positiv hervorzuheben ist, dass Judith Schwaab in ihrer Übersetzung das italienische Wort "zingara" beibehalten hat, um die Nennung der "Z-Wortes" zu umgehen, was abgesehen von den naheliegenden Gründen auch eine gewisse mystische Note in die Geschichte bringt. Der Verlauf der Geschichte folgt einer immer wiederkehrenden Spirale aus Geburt und einem besonderen Vorkommnis, das zum Tod oder einem Schicksalsschlag führt; über die Jahrzehnte hinweg dasselbe Lied mit kleinen Variationen und angepasster Sprache, das sich leider immer mehr hinzieht, langatmig und eintönig wird, atmosphärisch eher flache Wellen schlägt. Die meisten Charaktere sind aufgrund der doch relativ kurzen Zeit, die man sie begleitet, eher eindimensional und häufig übermäßig klischiert gezeichnet; eine Bindung oder näheres Einfühlen ist aufgrund der kurzen Abschnitte kaum möglich. Lediglich für Donata, die Mitte der 1950er Jahre lebte, konnte ich mich erwärmen. Sie strahlt eine unglaubliche Kraft und Selbstbewusstsein aus, weiß, für ihre Belange einzustehen und zu kämpfen - wenngleich ihr Leben auf tragische Weise zu Ende geht.

Ich hatte mich sehr auf den Roman gefreut, darauf, in eine große, intensive Familiengeschichte einzutauchen, die mich alles andere vergessen lassen würde, doch schnell musste ich merken, dass das Buch und ich nicht zusammenfinden würden. Das wiederkehrende Motiv aus Verdruss und Mystifizierung in Verbindung mit den blassen Charakterzeichnungen ermüdete mich schnell, mir fehlten die Ecken und Kanten, der Biss, der mich vor Erwartung und Spannung aufmerken lässt. Doch das ist nur meine Meinung.

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