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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 24.11.2020

Toll!

Ich fühl’s nicht
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Sich zu verlieben bedeutet ja, dass man völlig machtlos ist, ohne Arme und Beine, sozusagen wie Dönerfleisch, dass (sic!) sich in einer fettigen Imbissbude immer im Kreis dreht (…).

Wieso hat der eigentlich ...

Sich zu verlieben bedeutet ja, dass man völlig machtlos ist, ohne Arme und Beine, sozusagen wie Dönerfleisch, dass (sic!) sich in einer fettigen Imbissbude immer im Kreis dreht (…).

Wieso hat der eigentlich andauernd ‘ne Neue? Alles beginnt bei Leonardo DiCaprio, der der Boulevardpresse nach in den letzten Jahren unzählige Beziehungen mit immer demselben Typ Frau hatte – doch nie hielt es für länger. Ausgehend von einer heteronormativen Liebesbeziehung geht Liv Strömquist in ihrer neusten Graphic Novel „Ich fühl’s nicht“ den möglichen Ursachen für die Kurzweiligkeit und sprunghaften Entscheidungen moderner Beziehungen im Zeitalter des Spätkapitalismus auf den Grund.
Sie zieht kluge Vergleiche zu früheren Epochen, in denen Männer* noch Gefühle zeigten und um die Gunst der Dame buhlten, während diese heutzutage eher verkopft sind, sich über jede Aussage und Geste den Kopf zerbrechen. Und was tun bei Liebeskummer, wenn die Beziehung zu scheitern droht? Anhand von Beyoncés „Irreplaceable“ analysiert sie, wie mit Herzschmerz umgegangen sollte und wie nicht, plädiert dafür, dass jede Frau zu sich selbst stehen, ihren Prinzipien treu bleiben sollte. Kritisch beäugt die Autorin Aussagen verschiedener PhilosophInnen, AutorInnen und DenkerInnen vergangener Zeiten, eine bunte Mischung aus der griechischen Antike bis hin zum viktorianischen Zeitalter, aus Lyrik und Prosa. Doch so schwerwiegend und tiefgründig die behandelten Themen auch klingen mögen, mit ihren großartigen Zeichnungen, kecken Kommentaren und popkulturellen Anspielungen transportiert sie ihre Message eindrucksvoll und voller Lockerheit und Selbstbewusstsein. Natürlich hat sie viele Aspekte verallgemeinert und überspitzt dargestellt, fordert den Leser zum Reflektieren und Diskutieren auf, trifft damit aber den aktuellen Zeitgeist und die junge Gesellschaft effektvoll. Insgesamt eine grandiose Graphic Novel – „oh the love, I feel it!“

Herzlichen Dank an den @avant_verlag!

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Veröffentlicht am 24.11.2020

Berührend und wichtig!

Herzfaden
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Wohin gehen, wenn es keinen Weg gibt? Welche Richtung schlägt man ein ohne Ziel? (S. 103)

Jeder sollte einmal reisen in das schöne Lummerland… Allerdings hatte sich das ein kleines Mädchen so nicht vorgestellt: ...

Wohin gehen, wenn es keinen Weg gibt? Welche Richtung schlägt man ein ohne Ziel? (S. 103)

Jeder sollte einmal reisen in das schöne Lummerland… Allerdings hatte sich das ein kleines Mädchen so nicht vorgestellt: Durch Zufall gerät sie nach einer Vorstellung der Augsburger Puppenkiste auf einen geheimnisvollen Dachboden, der von den hölzernen Darstellern, den Marionetten, bewohnt wird. Doch sie sind nicht alleine, denn Hatü Oehmichen, die sie alle gemeinsam mit ihrem Vater geschnitzt hat, ist bei ihnen und erzählt die Geschichte ihrer Familie und der Entstehung des transportablen Theaters. Mitten im Zweiten Weltkrieg lernte Walter, ihr Vater und Schauspieler des Augsburger Stadttheaters, in der Kriegsgefangenschaft einen Puppenschnitzer kennen und baute gemeinsam mit ihm ein Marionettentheater für die eigene Familie – bis es in der Bombennacht 1944 zerstört wird. Nach dem Krieg bauen sie es gemeinsam wieder auf, lassen die Puppenfamilie wachsen und gehören schon bald zum Kulturgut, als die Augsburger Puppenkiste die erste TV-Serie im westdeutschen Fernsehen wird.

Einfühlsam und liebevoll einerseits, erschütternd und mit intensiven Bildern auf der anderen Seite erzählt Thomas Hettche von der Entstehung des wohl bekanntesten deutschsprachigen Marionettentheaters, dem Aufwachsen und den zeitgeschichtlichen Ereignissen inmitten des Zweiten Weltkriegs. Schon früh wurde Hannelore von ihren Eltern Empathie und Wärme gelehrt, und so setzte ihre Familie inmitten all dem Elend und der Armut des Krieges alles daran, den Menschen Aufmunterung und Ablenkung zu verschaffen.
Von der Entstehung der Puppenkiste, den damals herrschenden Umständen und der zugrunde liegenden Intention der Familie Oehmichen zu erfahren, hat mich bewegt und begeistert. Der Schreibstil ist rhythmisch, angenehm zu verfolgen und der Wechsel zwischen Vergangenheit und Gegenwart und die sich so aufbauende Spannung erzeugen eine eingehende Grundspannung. Die liebevollen Zeichnungen von Matthias Beckmann haben die Lektüre ungemein bereichert und aufgelockert. Insgesamt hat mir der Roman besonders seiner geschichtshistorischen Tragweite und künstlerischen Elemente, aber auch der sprachlichen Gestaltung wegen unglaublich gut gefallen – nicht umsonst war „Herzfaden“ für den Buchpreis 2020 nominiert.

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Veröffentlicht am 14.11.2020

Intensiv und kunstvoll

Wie Dinge sind
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Eine Sequenz. Ein Augenblick. Ein Gefühl der Sehnsucht und Schuld.

Die kanadische Comiczeichnerin gg begleitet eine junge Frau, deren Eltern in ein neues Land migriert sind, um ihrer Tochter ein besseres ...

Eine Sequenz. Ein Augenblick. Ein Gefühl der Sehnsucht und Schuld.

Die kanadische Comiczeichnerin gg begleitet eine junge Frau, deren Eltern in ein neues Land migriert sind, um ihrer Tochter ein besseres Leben zu ermöglichen, auf der Suche nach ihrem Selbst. Sie sammelt Eindrücke, hält fotografisch fest, wie Dinge sind. Während sie auf einem Markt das Angebot begutachtet, sieht sie in der Ferne eine Frau, die ihr ähnlich sieht und folgt ihr. Durch eine zufällige Verwechslung findet sie sich plötzlich in ihrer Wohnung wieder – ein Reisepass mit vielen Stempeln, Fotos anderer Städte, ein Anrufbeantworter mit einer Nachricht ihrer Mutter. In der Protagonistin wird eine Sehnsucht nach familiärer Nähe, Geborgenheit, nach Freiheit entfacht, die sie dazu veranlasst, in der Wohnung zu bleiben. Erschöpft schläft sie ein und träumt von prägenden Eindrücken ihrer Kindheit, der Bürde ihrer arbeitenden Mutter, die ihre eigene Zukunft im fremden Land zum Wohle der Tochter aufgegeben hat.

Ohne viele Worte lässt gg Bilder sprechen: Mit gedeckten, monochromen Farbtönen, hohen Kontrasten und großen Bildpanels zeigt sie aus Sicht eines externen Beobachters detailliert die Eindrücke, die die junge Frau sammelt, die sie bewegen. Die minimalistische Art und die Freiheiten, die die Autorin dem Leser dadurch zur Interpretation und Entwicklung einer emotionalen Bindung gibt, waren herausfordernd, haben mir aber ungemein gefallen. Die Zeichnungen sind liebevoll und weich, stehen im krassen Gegensatz zur tiefgründigen Thematik, und rücken durch die fehlende verbale Unterstützung in den Vordergrund.

Eine kurzweilige, aber intensive Graphic Novel, die im Gedächtnis bleibt. Herzlichen Dank an den @avant_verlag für das #Rezensionsexemplar.

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Veröffentlicht am 10.11.2020

Beeindruckende Bilder

Tiger
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Manche Gefühle kann man nicht ertragen. Man muss ihnen den Rücken kehren. Man muss ruhen. (S. 24)

Für die englischen Doktorandin Frieda ist die Arbeit mit Bonobos und das Verstehen ihres Wesens in vielerlei ...

Manche Gefühle kann man nicht ertragen. Man muss ihnen den Rücken kehren. Man muss ruhen. (S. 24)

Für die englischen Doktorandin Frieda ist die Arbeit mit Bonobos und das Verstehen ihres Wesens in vielerlei Hinsicht eine willkommene Flucht vom Alltag. Doch nach einem schweren Vergehen wird ihr gekündigt, und sie verfällt wieder ihrer Depressionen, die sie seit einem lebensbedrohlichen Überfall begleiten. Als sie in einem kleinen Zoo in Devon eine neue Anstellung findet, wird sie den Tigern zugeteilt; sie soll sich um die neue Tigerdame Luna kümmern, die aus schlechten Verhältnissen gerettet wurde. Tiger waren für Frieda nie mehr als rohe Aggression, blutrünstige Gier – aber je mehr sie das elegante Wildtier kennenlernt, desto mehr begeistert sie sich für ihre eindrucksvolle, sensible Erscheinung – und erkennt einen Teil von sich selbst in ihm.

Auf den Spuren von Lunas Herkunft springt die Handlung zurück in den Osten Russlands, wo Ivan und sein Sohn Tomas ein Tigerreservat betreiben, wo Edith mit ihrer Tochter Sina im Wald lebt und sie das Überleben lehrt, wo die Gräfin auf verzweifelter Jagd nach Essen für sich und ihre Jungen durch ihr Gebiet streift. Und alle Fäden verbinden sich schließlich wieder bei Frieda in der Gegenwart.

Polly Clark erzählt mit einer ungeheuren Sprachgewalt und imposanten Bildern die Geschichte einer gebrochenen Frau, eines einsamen Mannes und eines zähen Kindes, die alle durch ihre Verbindung zu den eleganten Wildkatzen verbunden sind. Die Art und Weise, den Ursprüngen Lunas zu begegnen, hat sie großartig umgesetzt, voller Gefühl und Empathie, fesselnd und mitreißend. Der Einstieg rund um Frieda ist bei weitem mein liebster Teil des Romans und entsprechend ernüchtert war ich vom weiteren Verlauf: Ich konnte mich immer weniger mit den Protagonisten identifizieren, die Geschichte verlor phasenweise von ihrer einnehmenden Kraft, war langatmig, und gerade das Ende war dann sehr plötzlich und abrupt. Doch die Bilder, die Faszination, die die Autorin geweckt hat, sowie ihr Schreibstil beeindruckten mich, und so ist "Tiger" eine eindrucksvolle Komposition verschiedenster Charaktere vor dem Hintergrund einer fesselnden Handlung, die im Gedächtnis bleibt.

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Veröffentlicht am 05.11.2020

Leider enttäuschend

Jesolo
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Ich weiß nicht, liegt es an mir, liegt es am Adrenalin, oder bin ich tatsächlich glücklich. Vielleicht gibt es im Leben nur wenige Momente, in denen man’s spürt. (S. 20)

Andreas Leben ist okay; ihr Job, ...

Ich weiß nicht, liegt es an mir, liegt es am Adrenalin, oder bin ich tatsächlich glücklich. Vielleicht gibt es im Leben nur wenige Momente, in denen man’s spürt. (S. 20)

Andreas Leben ist okay; ihr Job, ihre Beziehung mit Georg, alles okay. Bis sie im alljährlichen Urlaub in Jesolo aus den ihr aufgezeigten Wegen bricht: Sie will ihre Zukunft noch nicht manifestieren, doch Georg möchte ein sicheres Fundament für ihr gemeinsames Leben, eine Familie, zwei Autos, ein Haus. Hin- und hergerissen findet sich Andrea zwischen den Fronten wieder, aus dem Dilemma scheint es keinen Ausweg zu geben. Als sie aus dem Urlaub wiederkommen, ändert sich jedoch alles – sie ist schwanger. Getrieben von den Erwartungen ihrer Freunde und Bekannten entscheidet sie sich für das Kind – und für eine gemeinsame Zukunft mit Georg, geht dafür einen Kompromiss nach dem anderen ein. Sie zieht ins Haus ihrer Schwiegereltern auf dem Dorf, obwohl sie immer in der Stadt wohnen wollte; sie nimmt einen Kredit auf, obwohl sie das nie wollte. Von allen Seiten prasseln Ratschläge auf Andrea nieder, und sie wird in eine Mutterrolle gedrängt, mit der sie sich nicht identifizieren kann.
Mit prägnanter Wortwahl und lakonischem Stil begleitet Tanja Raich in ihrem Debütroman eine junge Frau in den zehn Monaten ihrer Schwangerschaft, und erzählt von den Ambivalenzen von Beziehung, Schwangerschaft und Familie sowie gesellschaftlichen Rollenzuschreibungen. Andrea leidet darunter, fügt sich unverständlicherweise jedoch allen Plänen der Familie ihres Freundes, trifft selbst keine bewussten Entscheidungen. Ihre scheinbar willenlose Art und ihre Unfähigkeit, ihre Bedenken zu kommunizieren, hat mir das Lesen sehr anstrengend gemacht. Bis zuletzt nimmt sie einfach alles hin, fügt sich ein, ohne auch nur ansatzweise querzuschlagen. Diese passive Art setzt die Autorin sprachlich jedoch wunderbar um: Der Roman lebt von seiner depressiven Stimmung, kurzen Sätzen und Monologen sowie der Erzählperspektive aus der zweiten Person. Zweifelsohne versucht Tanja Raich ein wichtiges Thema aufzubereiten, und so hat die Botschaft des Romans mich durchaus erreicht, doch insgesamt bin ich enttäuscht von dem Roman.

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