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Veröffentlicht am 09.12.2021

Zynismus vom Feinsten

Salonfähig
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Ich hatte eigentlich keinen Roman erwartet, sondern so eine Art modernen, etwas ironischen „Knigge“, war umso überraschter über die Genre-Bezeichnung auf dem Cover. Kommt davon, wenn man die Beschreibung ...

Ich hatte eigentlich keinen Roman erwartet, sondern so eine Art modernen, etwas ironischen „Knigge“, war umso überraschter über die Genre-Bezeichnung auf dem Cover. Kommt davon, wenn man die Beschreibung nicht so genau liest….

Das Cover stimmt ein auf einen narzisstischen „schönen“? Mann, smart und „gebügelt“, ein wenig so, wie ich mir Dorian Gray immer vorgestellt habe. Glatte Haut, sinnliche feucht glänzende Lippen, dunkler Anzug mit weißem Hemd, strenger Kragen mit perfekt gebundener Krawatte, die linke Hand elegant angewinkelt, die rechte lässig in der Hosentasche. Schwarz, Weiß, ein wenig Gelb, gerade, sehr ordentliche strenge Print-Buchstaben, nichts, aber auch gar nichts Geschnörkeltes…

Beim Lesen des Buches wird deutlich, WIE viel Zeit auf dieses perfekte Äußere verwendet wird und auf WIE groteske Weise es gepflegt, betrachtet und gehandelt wird.

Ich habe das Buch verschlungen und war hin- und hergerissen zwischen Gruseln, Lachen und Heulen. NATÜRLICH ist das bitterste Satire, habe aber auch ein paar Seiten gebraucht, um es zu merken, und ich finde sie GRANDIOS umgesetzt.

SO lächerlich ist, wie der Protagonist mit seiner fast hündischen (Pardon, ich möchte keine Hunde beleidigen!) Anbetung und Imitation seines Vorbildes Julius sich macht, indem er seinen Aufgaben wie Blumengießen und Kaffeeholen einen Vertrauensbonus anklebt. SO ironisch, wie er in allen Äußerlichkeiten versucht, Julius Varga zu imitieren. SO zynisch die Szene mit dem Bettler…

Ich weiß nicht SO viel über die „Innereien“ der österreichischen Politik, außer dem, was man bei uns in den Medien, Nachrichten, Politsendungen so mitkriegt. Aber ich glaube, dass auch die geschilderten „Feinheiten“ NICHT sehr überzeichnet sind. Die Anspielungen auf großer Linie sind ohnehin überdeutlich. Und was solche Dinge wie die perfekte Formulierung für die angedachten Adressaten betrifft, ist wahrscheinlich so manche Partei in anderen europäischen Ländern genauso.

Mir fiel beim Lesen zum Protagonisten mehrfach das Wort "Roboter" ein. Seine Handlungsabfolgen erscheinen rein mechanisch, quasi "programmiert". Gruselig auch, wie er sich mit Frauen verhält, auch hier wird ein Programm abgespult, Buchrezensionen runter gebetet etc. ohne den kleinsten Funken Empathie.

In seiner mehr als perfekt technisierten Wohnung kennt er sich nicht aus, kommt er nicht zurecht, fast als ob es nicht seine wäre. Was sich dann auch als Wahrheit heraus stellt.

Wundervoll und SO böse die hoch gespielten Gespräche / Streitereien unter den Parteigenossen um völlig Unwichtiges, wie z.B. die Frage, in welches Lokal man jetzt zum Essen geht.

Der reale Hintergrund zum Akademikerball hat sich für mich als Nicht-Österreicherin erst später erschlossen..

Die ganze Groteske ist sehr gut beschrieben. Der Zynismus steigert sich immer weiter, viele Szenen sind regelrecht comedyreif bösartig.

Gegen Ende driftet unser Protagonist bzw. die Handlung langsam, aber sicher in völlige Verrücktheit ab. Surreal?

Für mich ist es Zynismus vom Feinsten.

Wenn man sich mit der Thematik beschäftigen mag - absolut lesenswert.





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Veröffentlicht am 06.12.2021

Feinfühlig und nachdenklich, mit leisem Humor

Oh, William!
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Ich habe bisher schon einige der Bücher von Elizabeth Strout gelesen; insofern ist Lucy Barton für mich keine neue Figur.

Ich war sehr gespannt, was in "Oh William!" noch Neues kommt, und wurde nicht ...

Ich habe bisher schon einige der Bücher von Elizabeth Strout gelesen; insofern ist Lucy Barton für mich keine neue Figur.

Ich war sehr gespannt, was in "Oh William!" noch Neues kommt, und wurde nicht enttäuscht.

Lucy Barton ist älter und sehr viel reifer, aber keineswegs langweiliger, geworden. Es werden immer wieder Rückblicke aus ihrem Leben - teils mit, teils ohne William - erzählt, in anekdotenhafter Form. Das macht die erzählte Gegenwart verständlicher, frischt die Erinnerung des Lesers nochmal auf und macht das Buch m.E. auch zu einer interessanten Lektüre für diejenigen, die die "Vorgänger"-Bücher nicht kennen.

Nicht nur Lucy, sondern auch William und die Töchter werden teils unter anderen Aspekten betrachtet als in den Büchern vorher.

Sehr gut nachvollziehbar, feinfühlig, intelligent und mit einem ganz leisen Humor erzählt Elizabeth Strout von der Reise zur Halbschwester, flicht Gedanken, Philosophisches und Emotionales, auf ihre wunderbare Art mit ein. Sie kann sich sehr gut in eine Frau des Alters von Lucy und ihres bisher gelebten Lebens hinein versetzen und dies widerspiegeln, ohne Klischees und laute Töne. Es geht auch um Schuld und Verzeihung und Vergessen.

Für mich ein sehr angenehmes Buch, auch passend zur ruhigen Jahreszeit.

Ausgesprochen schön finde ich auch das Cover, zarte gezeichnete Blumen im provencalischen Stil, passen gut zum INhalt.

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Veröffentlicht am 29.11.2021

Ein sprachlich-sinnlicher Genuss

Stadt der Mörder
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Das Buch lockt bereits durch sein wirklich ausgesprochen schönes, künstlerisch gestaltetes Cover. Eine Frau hinter einer Autotür - steigt sie gerade aus oder ein? -, mit glattem Gesicht, die Augen hinter ...

Das Buch lockt bereits durch sein wirklich ausgesprochen schönes, künstlerisch gestaltetes Cover. Eine Frau hinter einer Autotür - steigt sie gerade aus oder ein? -, mit glattem Gesicht, die Augen hinter Haaren und Hut verborgen, zarte Hände... Darunter scherenschnittartig eine "typisch Paris" Fotocollage, mit angedeutetem Eiffelturm, Straßenlaternen, Seine-Brücke, Tauben in der Luft, einem rennenden Mann in Schwarz - man fragt sich, was er mit der Frau zu tun hat. Sucht er sie? Rennt er, um sie zu retten? Oder vor ihr weg? Oder sind ihre Lebensstränge (noch) gar nicht verwoben?

Schon das Cover vermittelt die Ahnung von einer spannenden Geschichte, von Geheimnis und Leidenschaft. Wunderschön die Kombination aus Schwarz und Gold, sehr gut passend zu den 20ern.

Richtig gut gelungen.

Der Roman hat mich völlig begeistert mit seiner grandiosen bildhaften Sprache, beeindruckenden Sätzen und vielen - aber nicht ZU vielen - wirklich gut getroffenen Metaphern.

Die Personen werden gut eingeführt, nicht zu verwirrend, klar voneinander abgegrenzt und offensichtlich sich aufeinander zu und miteinander bewegend. TOLL von Anfang an die vielen kleinen Details und Beobachtungen, die die einzelnen Menschen charakterisieren.

Auch die Art der Dialoge passt für mich in meiner Vorstellung gut zu der Zeit der 20er Jahre.

Die textlichen Beschreibungen mischen Faszination mit leichtem Grusel, Gänsehaut mit Traumgefühl. Eine wirklich berauschende Sprache.

Vor dem Lesen wusste ich zwar Vages über die Surrealisten, aber sehr vieles ist mir durch die Beschreibungen im Roman deutlicher, plastischer, greifbarer geworden.

Die Szenerien sind stellenweise mehr als düster, aber sehr gut und "schauderhaft" geschildert. Viele der Figuren haben sich im Lauf des Romans sehr interessant entwickelt, vom scheinbar Guten zum Bösen, vom Naiven zum klar(er) Sehenden, vom Bösen zum Schwachen...

Die Handlung wechselt zwischen den oft "unwirklich" erscheinenden Szenen rund um die Surrealisten und greifbarer Realität. Die Spannung hat mich immer wieder fest gepackt und mich das letzte Drittel des Buches in einem Rutsch durchlesen lassen, bis zum furiosen Finale.

Absolute Leseempfehlung!

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Veröffentlicht am 19.11.2021

Sensibles Grau

Wer wird denn da gleich schwarzsehen
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Das Cover ist frech und witzig, kontrastreiche Farben, passenderweise schwarz und weiß, ein wenig gelb, grau und beige. Ein Mann, der gleichwohl nachdenklich wie verschmitzt in eine imaginäre Ecke schaut, ...

Das Cover ist frech und witzig, kontrastreiche Farben, passenderweise schwarz und weiß, ein wenig gelb, grau und beige. Ein Mann, der gleichwohl nachdenklich wie verschmitzt in eine imaginäre Ecke schaut, lässig die Hände in den Taschen. Es sieht nicht nach tierischem Ernst aus.

Man bekommt Lust, mit ihm zu diskutieren...

Ich war sehr angenehm überrascht von diesem Buch..

Ich hatte mir - ohne mir dessen selbst so recht bewusst zu sein - eher eine etwas klamaukige, satirische Herangehensweise an das Thema vorgestellt.

Statt dessen kommt Marius Jung mit viel Sachlichkeit, einer guten Gliederung, vielen Fragestellungen und vor allem zahlreichen Beispielen, die das Ganze sehr anschaulich und lebendig machen.

Besonders gelungen finde ich, wie er - unaufdringlich, aber mit einer nicht allzu distanzierten Ironie - Anschauungsmaterial aus einem eigenen Leben einfließen lässt.

Es wird in keiner Weise langweilig oder oberflächlich, wie Marius Jung mit dem Thema Rassismus umgeht. Er spricht viel über sich selbst, seine persönlichen Erfahrungen und Erlebnisse, aber auch Fehler, die er selbst diesbezüglich gemacht hat.

Die Gliederung des Buches ist gut und beleuchtet das Thema immer wieder unter anderen Aspekten.

Ich gestehe, ich musste mir auch selbst ab und zu an die eigene Nase greifen. Wieviel man doch mit Gedankenlosigkeit verletzen kann...

Die S. 151, die in gewisser Weise das Thema "übertreiben oder nicht" zusammen fasst, hat mir sehr gut gefallen. Ebenso der Gang durch das "House of Gender".

Eigentlich hatte ich gehofft, in diesem Buch Antworten zu finden auf Fragen, die ich mir im Zusammenhang mit der rassistischen Thematik immer wieder stelle, auch daruf, wie ich mich denn nun wirklich „korrekt“ verhalte oder ausdrücke. Solche pauschalen Antworten gibt es nicht, aber viele Anregungen, Denkanstöße, und die Grundaussagen, dass sich das alles entwickelt und verändert und dass das eben ein Prozess ist, der nicht von heute auf morgen geht. Und dass es letztlich mehr auf die Gesinnnung und Denkweise des Einzelnen ankommt als auf eine Ausdrucksweise, an der sich wirklich NIEMAND mehr stört.

Das letzte Stück des Buches bringt noch einmal viele konkrete Beispiele über „so ja, so nicht“ oder „früher okay, heute anstössig“ und auch darüber, wie manche Umbenennungen konkret umgesetzt wurden.

Besonders hilfreich fand ich die allerletzten Kapitel „Was tun? Und was nicht?“ und „Was ich mir für meine Tochter wünsche“.

Insgesamt hat mir das Buch nicht wie erhofft, einen klaren Leitfaden über „korrrektes nicht-rassistisches Verhalten und Sprechen“ geliefert, aber viele Informationen, Möglichkeiten und Denkanstöße. Und ein – weiteres – Stück Sensibilisierung.

Insofern meine Leseempfehlung für alle, die sich einfach ein Stück mit dem Thema beschäftigen möchten, ohne einen „Fahrplan“ zu erwarten.


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Veröffentlicht am 13.11.2021

Richtig gute Unterhaltung

Die Ullsteinfrauen und das Haus der Bücher
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Das Buch „beginnt“ schon mit einem wunderschönen Cover. Jugendstilmäßig inspiriert, passend zu den 20er Jahren, in denen es spielt, mit hübschen ornamental-floralen Verzierungen.
2 Frauen, die sich gegenüber ...

Das Buch „beginnt“ schon mit einem wunderschönen Cover. Jugendstilmäßig inspiriert, passend zu den 20er Jahren, in denen es spielt, mit hübschen ornamental-floralen Verzierungen.
2 Frauen, die sich gegenüber stehen, beide auf ihre eigenwillige Art schön, gut gekleidet und aufwändig frisiert und „geschmückt“ im Stil der damaligen Mode. Sie schauen sich nicht direkt an, eher etwas aneinander vorbei, erstaunt, kritisch, aber durchaus nicht unfreundlich.
Im Hintergrund in Sepia und Pastell Szenen aus dem alten Berlin.mit Gebäuden, Droschken, Pferdefuhrwerken und noblen Automobil-Karossen.

Das Buch hat mich von der ersten Seite an gepackt. Der Stil der Autorin ist flüssig und äußerst lebendig. Die Figuren entstanden direkt vor meinem inneren Auge, sind sehr gut charakterisiert. Vicki Baum, Rosalie Gräfenberg und Lilli sind aktive Frauen, beruflich und amourös gesehen, eigenwillig und interessant, jede auf eine ganz andere, eigen Art..
Selbst die 5 Ullstein-Brüder stürzen einen als Leser nicht gleich ins große Verwirrspiel („Wer ist nochmal wer und arbeitet warum gegen wen?“), sondern sind klar und gut gegeneinander abgegrenzt.
Auch die Liebesgeschichten von Rosalie und Lilli sind glaubwürdig und spannend, ohne Kitschverbrämung.
Die ganze Geschichte ist sehr gut und glaubwürdig erzählt. Menschliche Abgründe werden beleuchtet. Die Menschen verändern sich in ihren Verhaltensweisen und Charakterzügen, immer logisch und spannend aufgebaut, was ich sehr zu schätzen weiß.
Die politischen und gesellschaftlichen Hintergründe der 20er Jahre in Berlin fließen sehr gut mit ein.
Die Konstellationen der einzelnen Personen untereinander verändern sich, und in den familiären, amourösen und geschäftlichen Gruppierungen ändern und verschieben sich immer wieder die Machtverhältnisse. Die Autorin schildert das sehr lebendig und für mich als Leserin sehr gut nachvollziehbar.
Nur für einen Teil der Hauptpersonen gibt es ein „Happy End“, auch das gefällt mir gut.
Die Personen fand ich so interessant, dass ich mich nach dem Beenden des Buches tatsächlich im Internet über die „wirklichen“ Mitglieder der Familie Ullstein informiert habe.
Insgesamt war das Buch für mich eine sehr angenehme Überraschung; ich hätte relativ „leichte Kost“ erwartet; und nun war es für mich richtig gute Unterhaltung mit einigen „Tiefgängen“.

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