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Veröffentlicht am 13.03.2025

Ein actionreicher Female Roadtrip zur Fuggerzeit

Im Auftrag der Fugger - Der Burgunderschatz
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„Im Auftrag der Fugger – Der Burgunderschatz“ von Peter Dempf, erschienen 2025 bei Bastei Lübbe, ist ein mitreißender historischer Roman, bei dem der Autor einmal mehr all seine Stärken souverän ausspielt. ...

„Im Auftrag der Fugger – Der Burgunderschatz“ von Peter Dempf, erschienen 2025 bei Bastei Lübbe, ist ein mitreißender historischer Roman, bei dem der Autor einmal mehr all seine Stärken souverän ausspielt.

Wir befinden uns in Augsburg, im Jahr 1503, als die junge, verwaiste Bettlerin Afra eine besondere Zeichnung in die Hände bekommt und so davon erfährt, dass eine Delegation aus Basel versucht, den wichtigsten Kaufleuten aus Basel extrem wertvolle Kleinode zu verkaufen – einen Teil des Burgunderschatzes, bestehend aus dem Federlin, dem Gürtelin, der Rose und den Drei Brüdern. Dieser Zufall ist der Ausgangspunkt für eine wilde Reise und Verfolgungsjagd auf Leben und Tod, bei der Afra im Auftrag Jakob Fuggers, des wohl berühmtesten Kaufmanns aus Augsburg, nach dem eine Ära benannt wurde, gemeinsam mit dessen Boten Herwart, dem Afra ebenfalls schon zuvor zufällig begegnet ist, nach Basel und zurückreist, um auf dem Hinweg viel Geld und auf dem Rückweg den Schatz zu transportieren. Natürlich sind die beiden nicht die einzigen, die von diesen Preziosen Kenntnis haben, so dass sich der Botendienst immer mehr zu einer Hatz ausweitet.

Dempf schreibt sehr kenntnisreich und atmosphärisch, er hat ein Händchen für die Charaktere – sowohl für die sympathischen als auch für die fiesen. Lebendig lässt er die Zeit um 1500 auferstehen mit vielen Details, so dass die Reise in die Schweiz und zurück gleichzeitig auch eine Lehrstunde in Geschichte ist – aber immer unterhaltsam und handlungsgebunden. Dabei arbeitet er besonders gut die Situation von Frauen im angehenden 16. Jahrhundert heraus und beschönigt hier nichts – außer bei seiner Heldin Afra, die manchmal schon fast zu Wonder Woman mutiert.

Es gibt so einige Plottwists und zwischenzeitlich wähnt man sich fast eher in einem Actionmovie oder Krimithriller als in einem historischen Roman und ja, auch für etwas Romance ist gesorgt, dankenswerterweise ohne zu viel Spice. Pikante Details finden sich eher bei sehr kreativen Versteckmethoden, doch hier soll nicht zu viel verraten werden.
Insgesamt waren es mir aber doch ein paar Verfolgungsjagden zu viel und gerade gegen Ende der Geschichte häufen sich die unwahrscheinlichen Zufälle und Rettungen doch etwas sehr, so dass sich die Handlung gegen Ende etwas zog. Daher kann ich leider nicht ganz die 5 Sterne geben, die ich für die erste Hälfte auf jeden Fall gesehen hätte. Aber in jedem Fall liegt hier ein rasanter historischer Roman mit starken Frauenfiguren vor, der wirklich gut zu lesen ist! Und wittere ich am Ende sogar einen zweiten Band? (Keine Sorge, der Roman ist in sich geschlossen.) Den würde ich ganz bestimmt lesen. Auch unbedingt noch zu erwähnen ist ein knackiges Nachwort, in dem Dempf noch einmal historische Fakten einordnet und ergänzt, bei historischen Romanen immer sehr gern von mir gesehen. Dieses hat auch eine perfekt gewählte Länge, was auch nicht selbstverständlich ist. Eine runde Leistung also, der nicht viel zum fünften Stern fehlt.

Ein großes Dankeschön an lesejury.de und Bastei Lübbe für das Rezensionsexemplar!

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Veröffentlicht am 06.03.2025

We are what we are

Die Zeit der Fliegen
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„Die Zeit der Fliegen“ von Claudia Piñeiro, erschienen 2025 im Unionsverlag, ist ein Buch, das mich zwiespältig zurückgelassen hat. Der Roman schließt lose an „Ganz die Deine“ an, das 2009 ebenfalls im ...

„Die Zeit der Fliegen“ von Claudia Piñeiro, erschienen 2025 im Unionsverlag, ist ein Buch, das mich zwiespältig zurückgelassen hat. Der Roman schließt lose an „Ganz die Deine“ an, das 2009 ebenfalls im Unionsverlag erschien, ist aber auch ohne Kenntnis dieses Vorgängers gut zu lesen, allerdings finde ich, es hilft beim Verständnis in der Tiefe, auch diesen Roman gelesen zu haben.

Inés Experey, ehemals Pereyra, kommt aus dem Knast, pardon, sie bevorzugt das Wort Gefängnis, nachdem sie eine lange Haftstrafe für den Mord an der Geliebten ihres Gatten verbüßt hat. Wirklich reuig ist sie nicht, auch wenn sie sich über dies und das Gedanken macht, während sie versucht, im Leben Draußen wieder anzukommen, das sich sehr weiterentwickelt hat und Inés vor Aufgaben stellt, zu denen sie noch keine Haltung gefunden hat. Was ist das mit dieser Gender Fluidity und Political Correctness und dem intersektionalen Feminismus, irgendwie vielleicht gut aber irgendwie auch ganz schön anstrengend? In der Haft hat Inés die Manca kennengelernt und mit ihr gemeinsam gründet sie nun die Firma FFF – in der vollkommen unterschiedliche Tätigkeitsbereiche zusammengeführt werden, einfach weil frau es kann – und weil es so doch auch viel mehr Spaß macht, als alleine vor sich hin zu wurschteln. Während die Manca ihren Lebensunterhalt mit Detektivarbeit verdient, ist Inés in der Ungeziefervertilgung aktiv, denn in ihrer Zeit im Gefängnis hat sie sich viel Wissen über Insekten, insbesondere hierbei über Fliegen, angeeignet (die Buchauswahl war nun einmal nicht so groß). Alles läuft genau so langweilig wie gut, bis Inés eines Tages ein unmoralisches Angebot erhält, das sie ins Wanken bringt.

Das Buch verfolgt formal neben der Handlungsebene noch zwei weitere, zum einen gibt es immer wieder Kapitel, die sich sehr ausführlich mit den Fliegen beschäftigen, zum anderen gibt es einen antiken Chor, angelehnt an Medea von Euripides, der die Themen aus genau diesem Werk hier in der Neuzeit verhandelt, insbesondere hier die Frage nach Mutterschaft als Wohl oder Wehe. Das hat hohe Relevanz, denn Inés hat mit dem Gang ins Gefängnis seinerzeit auch den Kontakt zu ihrer Tochter Laura verloren, die, inzwischen erwachsen, selbst ein Familienleben wie aus dem Poesiealbum führt.

Der Erzählton sehr ähnlich wie schon bei „Ganz die Deine“ souverän, etwas gehetzt, lässig, grundsätzlich humorvoll, manchmal auch plakativ, aber Piñeiro weiß, was sie tut, das lässt sich gut lesen. Und am Ende wartet das Buch mit einem Clou auf, den wahrscheinlich die wenigsten haben kommen sehen.

Das Grundproblem des Romans ist ein sehr langsamer Fortgang der Handlung bei gleichzeitiger Überfrachtung mit philosophisch-gesellschaftlicher Thematik bei extrem viel Bildungsreferenz, insofern ist das Buch auch sehr elitär und somit exklusiv. Das Thema des Mutterseins oder doch nur Gebärens oder vielleicht auch nichts davon finde ich ein sehr Wichtiges, insgesamt wird es mir dennoch zu ausgewalzt besprochen, es ist eine sehr bekannte Debatte für mich, vielleicht für andere nicht, ich habe irgendwann leider angefangen querzulesen, da waren keine neuen Gedanken drin für mich 2025, vielleicht sieht das in Lateinamerika anders aus, das ist gut möglich. Insgesamt gibt eine Tendenz zum Übererzählen, vor allem auch in den Chorpassagen. Die Autorin überfrachtet das Buch mit Themen, wodurch die Handlung immer wieder massiv ins Stocken gerät.

Am Ende geht dann alles vielleicht auch deshalb sehr holterdipolter und wichtige Inhalte werden auf einmal sehr kurz abgehandelt, was ich aus einer hier relevanten Betroffenheitsperspektive nicht akzeptabel finde. Grundsätzlich ist der vom Anfang zum Ende geschlagene Bogen gut konstruiert und auch überraschend, ABER was hilft es, wenn man dadurch unter Umständen viele Leser:innen verliert, weil diese nicht bis zum Ende durchhalten? Ein bisschen entstand bei mir der Eindruck, dass Piñeiro eigentlich einen Essay schreiben wollte und dann einen Roman drum herum konstruiert hat. Hätte ich die Metaebene mit dem Medeachor überhaupt gebraucht? Ich bin nicht sicher. Ebenso das sehr ausgewalzte Fliegenthema nur um am Ende dabei zu landen, dass das Leben ein anderes wäre, wenn man seine Entscheidungen mit mehr Zeit angehen würde, mehr Zeit hätte abzuwägen. Ja gut, eine Binsenweisheit. Wir sind nunmal keine Fliegen. So what? Was sollen wir mitnehmen aus dem Buch? Dass es furchtbar ist, wenn wir die Menschen nicht als das nehmen und sein lassen, was sie sind und ihnen nicht zuhören, ihnen keinen Raum geben, sich zu verändern? (Das trifft auch auf die Hauptfigur Inés zu) Das ist ja klar. Am Ende wird auf einmal sehr viel sehr schnell reingedacht in das Buch bis hin zu einer Inés, die vielleicht doch noch ihre Bisexualität entdeckt. Oder Pan. I don’t know... Mich überzeugt der Roman nicht. Alles klug gedacht, aber es hat mich nicht mitgenommen und am Ende ist nichts wirklich neu gedacht. Vielleicht bin ich zu sehr eh in der Bubble, die die Themen des Romans täglich wälzt. Vielleicht ist dieses Werk in Lateinamerika revolutionär. Aber gerade dann hätte es am Ende mehr Raum für ein Fertigerzählen und für noch ein paar Gedanken mehr vertragen.

„Die Zeit der Fliegen“ wird gerade für Netflix verfilmt. Ich bin sehr gespannt und vermute, dass hier der Essayistische Anteil deutlich eingedampft wird. Ich lasse mich überraschen, als Crime-Plot mit schrägen Charakteren ist der Roman sehr geeignet. Vielleicht wird es auch ein Genre-Mix. Ein schöner Erfolg für Piñeiro, den ich ihr als Autorin sehr gönne, denn wie gesagt: Schreiben kann sie. Mich hat nur die Gesamtkonstruktion leider in ihrer Ausgewogenheit nicht überzeugen können.

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Veröffentlicht am 03.03.2025

Spannendes Zeitportrait der London Bridge

Die Brücke von London
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„Die Brücke von London“ von Julius Arth, erschienen 2025 bei dtv, ist ein spannungsgeladener und durchweg unterhaltsamer historischer Roman, der neben der Geschichte der London Bridge auch viele Einblicke ...

„Die Brücke von London“ von Julius Arth, erschienen 2025 bei dtv, ist ein spannungsgeladener und durchweg unterhaltsamer historischer Roman, der neben der Geschichte der London Bridge auch viele Einblicke in das London des mittleren 18. Jahrhunderts sowie die Entstehungszeit der Brücke um 1202 gibt.

Die Handlung des Romans teilt sich in zwei Stränge, die erst ganz am Ende wirklich verknüpft werden, so dass aus dem Rätseln über eben diese Verknüpfung noch eine weitere Spannungsebene gewonnen wird. Der erste Erzählstrang spielt im Jahr 1202, dem Erbauungsjahr der London Bridge und rankt sich um die Schwestern Sibilla und Estrid, die mit seherischen und heilerischen Fähigkeiten versehen sind, weshalb sie die Geschichte der London Bridge vorausahnen. Estrid, verheiratet mit einem der Erbauer der Brücke, muss sich gegen die patriarchale und dogmatische Welt ihrer Zeit behaupten – und zahlt dafür einen hohen Preis.
Der zweite und Haupterzählstrang beginnt im Jahr 1749 in London, wo die frisch verwitwete Tuchhändlerin Juliana, die den Tuchladen ihres Mannes auf der London Bridge weiterführen möchte, schnell ebenfalls an die Grenzen einer patriarchalen Gesellschaft stößt. Doch sie ist findig und pfiffig, eine Frau, die anpackt und auch vor ungewöhnlichen Methoden nicht zurückschreckt. Als sie eines Nachts den Straßenjungen Alder, der nach einem Diebstahl auf der Flucht vor dem Büttel ist, aus der Themse fischt, erfährt ihr Leben eine bedeutende Wendung.

Julius Arth schreibt flüssig und hält den Spannungsbogen durchweg hoch, ihm gelingt es, sehr lebendige und liebenswerte Charaktere zu erschaffen und das Zeitkolorit bemerkenswert gut einzufangen. Geschickt bettet er viele Informationen in den Text ein, ohne dass dieses jemals aufträgt oder den Handlungsfluss behindert. Die Story nimmt viele Wendungen, und es gibt so einige Überraschungen, die das Leseerlebnis dynamisch halten. Julius Arth, der selbst auf seinem Autorenfoto so aussieht, dass man ihn frisch vom Mittelaltermarkt kommend imaginiert, verwebt die Handlungen um seine Hauptfiguren elegant, die Kapitel, die immer eine der Personen im Fokus haben, ranken sich umeinander wie ein geflochtener Zopf.

Gegen Ende verliert der Autor die London Bridge unter der Handlung zunehmend etwas aus dem Auge, auch häufen sich die Unwahrscheinlichkeiten doch etwas sehr an und von der Handlung in 1202 hätte ich mir etwas mehr Signifikanz für den Roman und den Strang in 1749 erwartet, so ausführlich, wie sie ausgearbeitet ist. Im Gegenzug schließt der Autor die meisten Kreise im Buch und lässt nur wenige Leerstellen. . Ich hätte mich sehr über ein Nachwort zur Recherche des Autors gefreut, inwieweit basiert das alles auf realen, dokumentierten Ereignissen und Funden? Das wäre spannend gewesen.

Insgesamt hat der Roman mir aber ein sehr angenehmes Leseerlebnis beschert und mich wirklich gut unterhalten, wer auf der Suche nach einem leichten Historienroman mit viel Spannung und guter Schreibe ist, der wird hier bestens bedient.

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Veröffentlicht am 02.03.2025

Dieses Buch ist Feuer

Ginsterburg
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„Ginsterburg“, der neue Roman von Arno Frank, erschienen 2025 bei Klett-Cotta, ist ein Jahrhundertbuch, ein Buch, wie mensch es ganz selten liest, ein Buch, das Arno Frank nicht zufällig jetzt, genau jetzt ...

„Ginsterburg“, der neue Roman von Arno Frank, erschienen 2025 bei Klett-Cotta, ist ein Jahrhundertbuch, ein Buch, wie mensch es ganz selten liest, ein Buch, das Arno Frank nicht zufällig jetzt, genau jetzt geschrieben hat und das alle, ALLE! lesen müssen. Unbedingt. Ohne Ausnahme.

„Jetzt hat es sie erwischt.“ Mit diesem Satz startet das Buch und am Ende des Lesens erst wird sich die absolute Mehrdeutigkeit dieses Satzes offenbaren. Am Anfang noch scheinbar eindeutig zu nehmen, denn der Roman startet mit einem Klimax, bei einem Flugzeugabsturz, der sich in Etappen durch die Geschichte ziehen wird, mit ihm die bange Frage, ob der Pilot den Abschuss überleben wird.
Wir befinden uns in Ginsterburg, einer fiktiven Kleinstadt im Deutschland von 1935 bis 1945. Wer jetzt denkt, och nö, schonwieder Literatur über den 2. Weltkrieg, halte bitte ein. Denn so wurde diese Zeit, unsere Geschichte noch nicht geschrieben. Frank schafft es auf wirklich geniale Weise aufzuzeigen, wie alles begann – eine Frage, die sich gesellschaftlich gerade so dringlich stellt und nach Lektüre des Buches kann nur festgehalten werden: Es beginnt nicht. Es hat schon längst begonnen. Wir sind schon mittendrin.

Klug und immer menschlich zeigt Arno Frank die Entwicklung des kleinen Ortes Ginsterburg und der Menschen darin. Mit schnellen Strichen skizziert er eine Kleinstadt mit ihrem Personal, er gibt dabei wunderbar unklare klare Beschreibungen, die ein typisches Bild im Kopf entstehen lassen, ohne allzu präzise zu werden. Da sind die Kommunistin Merle und ihr Sohn Lothar, der später zu einem berühmten Fliegerhelden werden wird, die regimetreue Ursel und ihr Mann Eugen, der Journalist, der so gern Karriere machen würde, mit ihrer Tochter Gesine, die die neuen Zeiten und Theorien nur so aufsaugt. Da ist der kleine Fritz, dessen Behinderung noch Folgen haben wird, der Kreisleiter Otto, dessen Frau Henriette ihn gen Berlin verlassen hat, da ein Goldfasan ihr ein besseres Leben versprach, so dass er nun allein mit seinen Söhnen Bruno und Knut ist, die sich im Ort gehörig aufspielen. Da ist der Doktor Hansemann, der nicht umsonst Ähnlichkeiten zu einem Mengele aufweist. Um nur einige der Menschen zu nennen, die sich in einer neuen Weltordnung zurechtfinden müssen – und von denen schleichend, aber immer mehr, alle, wirklich alle ihren Widerstand aufgeben, wenn sie ihn denn jemals empfunden haben. Das Grauen des 3. Reiches ist mehr als präsent, ohne dass alles explizit ausgesprochen werden muss, die kleine Stadt ist total lebendig spürbar, die Menschen haben alle einen gut lesbaren Charakter. Ginsterburg ist Klein-Deutschland, beinhaltet alles, was wir kennen.

Geschickt und absolut zerstörerisch zeigt Frank, wie der Nationalsozialismus immer mehr um sich greift, wie ein Fliegenfänger immer mehr Menschen an sich klebt, wie geschickt manipuliert wird und die Menschen bei ihren Interessen und Sehnsüchten abgeholt werden, bis fast jeder ins Netz geht – einige Überzeugte wie Ursel und Otto ganz voran. Eugen, der seiner Familie etwas bieten und erfolgreich sein will, Lothar, der so gern fliegen möchte, Gesine, die ihrem Bild einer glücklichen Familie hinterherrennt, Menschen, die teils doch ganz auf der anderen Seite standen, doch nun schleichend doch gepackt und eingemeindet werden. Ich habe glaube ich noch nie einen Roman gelesen, der so gut zeigt, wie unauffällig und doch allumfassend es passiert, dass der Faschismus salonfähig wird. Super beängstigend angesichts dessen, was gerade in der Welt geschieht. Frank beschreibt perfekt diesen Mikrokosmos der kleinen Stadt, in der irgendwie jeder mit jedem verbandelt ist und jeder von jedem abhängig. Er zeigt die Brutalität genauso wie das Weggucken oder einfach nur Nichtstun, die Infiltration der Jugend, die Manipulation, die um sich greifende Angst, die Abhängigkeitsverhältnisse. Er zeigt ganz durchschnittliche Menschen, die wenigsten sind hier „böse“, und doch am Ende: sind sie alle gefangen. Und verrückterweise gibt es bei all dieser Härte doch auch noch Humor, der bei allem Schrecklichen immer wieder durch das Buch weht.

„Opfer müssen gebracht werden“, immer wieder fällt dieser Satz, ein innerer Glaubenssatz, den die Nazis so vielen Menschen so souverän eingeimpft haben – und mit dem sie Aufstand, Widerstand durch einen dummen Glauben verhindern konnten. Nein, Opfer müssen nicht für das Grundfalsche gebracht werden. Diese Erkenntnis gewinnt jedoch einfach niemand der Beteiligten ganz – und das ist leider nur verdammt ehrlich und genau von Frank geschrieben. Durch das Buch zieht sich auch eine Menge Symbolik, unter anderem tauchen immer wieder Kraniche auf, die mythologisch die Seelen der Gestorbenen gen Himmel tragen. Doch der Krieg vernichtet auch die Kraniche. Und schickt damit alle Seelen in die Hölle. Das Cover des Buches, das eine große Rauchwolke über einer ländlichen Idylle zeigt: Es schaut auf Ginsterburg 1945. Und gleichzeitig auch auf die Welt 2025.

Frank schreibt einfach gigantisch gut, mühelos wechselt er zwischen den vielen einzelnen Geschichten hin und her, webt ein komplexes Netz der Ereignisse und Betrachtungen, bettet immer wieder historische Dokumente und reale Ereignisse in seine Fiktion ein, bewegt sich sprachlich auf einem unfassbar hohen Niveau mit wunderbaren Wortschöpfungen, Sprichwortverdrehungen und gekonnten, minimalen Bedeutungsverschiebungen. In Nebensätzen fallen grausamste Informationen, ganz nebenbei, ganz selbstverständlich, so dass die Tragweite nicht nur den Menschen im Roman, sondern auch uns Lesenden oft erst ein paar Sätze später bewusst wird. Denn uns wird sie immer bewusst, denn wir wissen. Wir wissen! Und anders als die Menschen im Roman müssen wir dieses Wissen verwenden und verhindern. Dieser Appell kriecht durch alle Zeilen, ohne dass Frank ihn jemals aussprechen muss, doch sein Roman ist so durchdrungen vom Zeigen, dass er förmlich schreit. Das braune Grauen ist noch immer gegenwärtig wird auch noch lange nicht beendet sein.

Was für ein Buch, was für ein Epos. Ich bin völlig geplättet, ein ganz großer Wurf. Ich habe viel erwartet, aber das ist noch mehr. Wenn dieses Werk nicht auf der Longlist des Deutschen Buchpreises landet, was dann? Ein Must-Read für alle. Im Roman hat es, wir denken noch einmal an den ersten Satz, alle erwischt, ausnahmslos, niemand ist der Ideologie entkommen, trotz völlig unterschiedlicher Ausgangspositionen. Dieses Buch ist Feuer. Noch ist Zeit. Lasst uns nicht erneut verbrennen.

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Veröffentlicht am 01.03.2025

Bleibt im eigenen Erleben stecken

Das Lieben danach
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„Das Lieben danach“ von Helene Bracht, erschienen 2025 im Carl Hanser Verlag, beschäftig sich mit einer wichtigen, vielleicht zu seltenen Frage, nämlich der, wie Personen, die sexualisierter Gewalt ausgesetzt ...

„Das Lieben danach“ von Helene Bracht, erschienen 2025 im Carl Hanser Verlag, beschäftig sich mit einer wichtigen, vielleicht zu seltenen Frage, nämlich der, wie Personen, die sexualisierter Gewalt ausgesetzt waren, in ihrem späteren Leben zu einem erfüllten Liebesleben und einer gesunden Sexualität finden können. Das schlanke Buch kommt in einem Schutzumschlag mit einem sehr passenden, wunderschönen Cover von schon überblühten Blumen, die eine ganz morbide Stimmung setzen.

Bracht, in ihrer Kindheit starker sexualisierter Gewalt durch einen engen Bekannten der Familie ausgesetzt, gehört erst einmal Respekt dafür, dass sie aus dem Dunkelzifferbereich heraus so stark in die Öffentlichkeit tritt und sich damit auch erneut verwundbar macht. Dieses Teilen ihrer Geschichte ist ein wertvoller Schritt für Betroffene – und vielleicht ja auch für Täter:innen, die sich hier noch einmal ein klares Bild der lebenslangen Konsequenzen ihres Handelns machen können. Bracht stellt kluge Fragen in ihrem Buch und macht sich auf die Suche nach Antworten: Haben früh von sexualisierter Gewalt betroffene Personen ein spezielles Bindungsverhalten? Was bedeutet eine kindliche Erfahrung von sexualisierter Gewalt für die spätere Entwicklung von Geschlechtsidentität und Rollenfindung? Welchen Unterschied macht das Geschlecht der Täter:innenperson für den Lebensweg der Betroffenen und die Wahl der Menschen, zu denen diese sich später hingezogen fühlen?

Für das Buch spricht die meist sehr sachliche Analyse und theoretische Fundierung der Auseinandersetzung sowie überhaupt der Ansatz, nicht bei der Beschäftigung mit dem Trauma stehenzubleiben, wie viele andere Bücher, sondern nach dem Leben danach zu fragen und hier nach Möglichkeiten und Wegen zu schauen.
Leider aber bleibt für mich vieles doch im Mikrokosmos von Bracht stecken. Da ist zum einen die sehr akademische Sprache mit vielen Bildungsreferenzen und Fremdwörtern – warum nicht vom Elfenbeinturm herunterkommen und ein solches Buch niederschwellig schreiben? Auch wenn diese Art sicher der Distanzierung dienen mag, so hält sie doch auch sehr viele Menschen von diesem Buch fern. Aber wir reden hier über ein generelles gesellschaftliches Problem, dessen Analyse möglichst vielen Menschen zugänglich sein sollte. Bracht formuliert selbst, dass das Wort „Missbrauch“ eben sehr misslich ist, beinhaltet es doch, dass es auch regelkonformen „Gebrauch“ von Menschen geben könne – und auch generell ist das Wort viel zu schwach und euphemistisch für die Tat. „Sexualisierte Gewalt“ schlägt die Autorin deshalb völlig richtig vor – und nutzt doch selbst immer wieder das Wort Missbrauch. Damit bleibt sie in der Täter:innenperspektive verhaftet. Bracht kritisiert heftig die me-too-Bewegung als Generalisierung einer Opfer-Perspektive, die im Opfersein stehenbleibe. Dabei hat me-too genau das Gegenteil zur Zielsetzung und auch erreicht: Der Zusammenschluss, das Zusammentragen vieler Opferperspektiven macht das Systemische sichtbar und zeigt deutlich: Es gibt Millionen von individuellen Fällen aber: keinen Einzelfall. Es gibt kein Frausein ohne das Erleben von sexualisierter Gewalt. Was durchstrahlt durch das Buch ist auf eine gewisse Weise doch ein Stehenbleiben von Bracht in ihrem individuellen Fall und ein Kampf mit dem individuellen Trauma, der noch nicht ausgefochten ist, weshalb ihr dieser eigene Fall nach wie vor in seiner Individualität sehr wichtig ist. Darauf hat sie als Mensch jedes Recht der Welt. Aber diese Herangehensweise verhindert größere strukturelle Erkenntnisse, die ich mir persönlich von diesem Buch mehr erhofft hätte.

Sehr interessant sind Brachts Gedankengänge zu Grenzen, zum Setzen von Ja und Nein – und gerade hier wäre die me-too-Bewegung ein großartiges Beispiel um aufzuzeigen, warum das Setzen von Grenzen so schwer ist: Weil wir von klein auf sozialisiert werden, die Grenzen auch schon im Kleinen nicht zu setzen. Alle Übergänge zwischen gewohnter kleinerer sexualisierter Gewalt hin zur großen sind fließend und daher ist es im Prozess fast unmöglich, den Punkt für das Nein zu finden. Bracht ist der Meinung, Erotik sei immer mit Macht verbunden, diese Setzung macht sie einfach. Hier kann ich überhaupt nicht zustimmen, Erotik kann genau auch das Gegenteil ausmachen, nämlich die vollkommene Abwesenheit von Macht.

Lange Rede, kurzer Sinn: Brachts starke individuelle Prägung ist in ihrer Analyse immer spürbar und so bleibt das Buch doch eher ein Erfahrungsbericht. Mein voller Respekt für diesen angesichts der starken Verletzung, die Bracht erleiden musste. Für mich weist aber wenig über diesen Fall hinaus. Insofern ist das Buch sehr interessant zu lesen als ein Teil eines Puzzles. Für das Große Ganze müssen vielleicht eher andere Bücher herhalten.

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