Profilbild von herr_stiller

herr_stiller

Lesejury Profi
offline

herr_stiller ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit herr_stiller über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 01.09.2023

Toxic

Cleopatra und Frankenstein
0

Eigentlich muss eine Rezension von „Cleopatra und Frankenstein“ mit Trigger-Warnungen starten. Vielen Trigger-Warnungen: Alkoholmissbrauch, Drogenmissbrauch, Depression, Suizid, Machtmissbrauch, toxischer ...

Eigentlich muss eine Rezension von „Cleopatra und Frankenstein“ mit Trigger-Warnungen starten. Vielen Trigger-Warnungen: Alkoholmissbrauch, Drogenmissbrauch, Depression, Suizid, Machtmissbrauch, toxischer Beziehung, toxischen Freundschaften, Demenz, Tod und vermutlich noch ein paar. Wer damit klar kommt, dürfte an Coco Mellors Debütroman Spaß haben. Oder sagen wir lieber: „Spaß“.

Cleo trifft Frank in einer Silvesternacht. Ein halbes Jahr später heiraten sie. Nicht für ihr Visum, wie Freunde lästern, aus Liebe, auch wenn sie ein ungleiches Paar mit zwanzig Jahren Altersabstand sind. Sie Künstlerin, er Agenturchef. Im New Yorker Freundeskreis gibt es Überschneidungen, im Rauschmittelkonsum auch, aber schnell nutzt sich die rosarote Brille ab. Sie rutscht zurück in ihre Depression, er in den Alkoholismus, ein Drama reiht sich ans nächste, bis es zu einer Katastrophe kommt.

„Cleopatra und Frankenstein“ ist so eine Art Anti-Friends oder -How I met your Mother. Die Figuren tun sich alle nicht gut, sind egoistisch, egozentrisch, unsympathisch, süchtig und selbstzerstörerisch. Fast ohne Ausnahme. Dennoch entwickelt die Geschichte ihren ganz eigenen Reiz, die das Buch zu einem – wie es auf dem Klappentext steht – echten Pageturner machen. Coco Mellors stellt in rasanter Geschwindigkeit die Figuren vor, ihre kleinen und großen persönlichen Dramen, führt plötzlich noch einmal, nach mehr als der Hälfte des Buchs, noch einmal eine neue, nicht ganz unwichtige Figur in einem komplett neuen Schreibstil ein, lässt eine andere, relevant eingeführte so fallen, wie die Figur eine der beiden Hauptpersonen. Das ist eigen, eigenartig vielleicht auch, aber auch ein gewisses Vergnügen.

Der Roman wird in einem Atemzug mit Sally Rooney genannt, ist dabei aber deutlich schneller, amerikanischer, lauter. Kann man mögen, kann man doof finden, muss jeder für sich selbst entscheiden. Auf fast jeder Seite werden Alkohol und/oder Drogen konsumiert, wer damit nicht klar kommt, wird an diesem Buch kein Lesevergnügen finden. Das ist alles sehr belastend, fast fragwürdig, findet im Ende des Buchs aber einen passenden Abschluss.

Eines lässt sich auch ohne Spoiler verraten, ja, eh ahnen: Dieser Roman, diese Figuren werden kein happy end finden können. Aber ein happiest possible ending. Der Weg dahin ist aufregend, nervenaufreibend, anstrengend. Aber auch unterhaltsam und stark geschrieben. Und das macht „Cleopatra und Frankenstein“ zu einem der interessanteren Bücher 2023.

  • Einzelne Kategorien
  • Handlung
  • Erzählstil
  • Charaktere
  • Cover
  • Atmosphäre
Veröffentlicht am 25.08.2023

Kürbiskuchengewürzroman

Tage im warmen Licht
0

Irgendwie ja passend, dass Kristina Pfister nach „Ein unendlich kurzer Sommer“ mit ihrem zweiten Roman „Tage im warmen Licht“ direkt in den Herbst übergeht. Und dieser Herbst ist eine wundervolle Mischung ...

Irgendwie ja passend, dass Kristina Pfister nach „Ein unendlich kurzer Sommer“ mit ihrem zweiten Roman „Tage im warmen Licht“ direkt in den Herbst übergeht. Und dieser Herbst ist eine wundervolle Mischung aus Mariana Leky und Gilmore Girls, leicht und tragisch zugleich, ein perfektes Abbild dieser Jahreszeit zwischen bunten Blättern und Nebeltagen, Taylor Swift-Platten und Pumpkin Spice Latte.

Maria hat das Haus ihrer Oma geerbt. Auf dem Land, wo sie groß geworden ist und wo sie auf gar keinen Fall je wieder hin zurückwollte. Sie hat keinen Job mehr, aus ihrer Wohnung wird sie auf Eigenbedarf rausgeklagt und ihr Ex kümmert sich lieber um seine Familie als um die gemeinsame Tochter Linnea. Also: Raus aufs Land. Übergangsweise.

Pfisters Herbstroman lebt von seinen großartigen Figuren. Maria, die mit der Rückkehr hadert aufgrund einer furchtbaren Situation in ihrer Vergangenheit, die erst nur angedeutet wird, dann aber Stück für Stück klarer wird. Ihre Tochter Linnea, die im Dorf aufblüht, neue Freundschaften knüpft. Martha, die Nachbarin der Oma, schon immer eine Art Mittelpunkt für Maria und ihre Freunde und nun auch für Linni. Henning, der alte Jugendfreund. Britta, die Schulsekretärin. Nele, die mit blauem Auge Unterschlupf sucht. Bootsmann, Omas alter Hund, der aufblüht, kaum dass er zurück in seiner Heimat ist. Alle sind charmant gezeichnet, fast alle haben ihr Päckchen zu tragen. Alle sind da für Maria und Linnea, wenn sie es brauchen. Und das tun sie.

Eine andere Ebene, die den Roman für mich so schön macht, sind die vielen popkulturellen Referenzen, das ähnliche Alter der erwachsenen Hauptfigur(en) und ihre dadurch ebenso ähnlichen Jugenderinnerungen, von Filmen wie The Craft bis zu Musik von Tori Amos. Da sind zufällige Hübschheiten wie gleiche Namen im privaten Umfeld, gleiche Erlebnisse. Da sind aber auch einfach diese netten Verhuschtheiten, die in den Figuren und ihren Handlungen auftauchen, die das Buch für mich so wholesome machen. Ein echter Kürbiskuchengewürzroman, wie gemacht für den Spätsommer und Frühherbst. Bevor dann Kristina Pfisters Winterroman erscheint. Nächstes Jahr dann, okay?

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 25.08.2023

Kein Entrinnen

Mord auf der Insel Gokumon
0

Privatermittler Kosuke Kindaichi ist verzweifelt. Ein Freund hatte ihn auf seinem Sterbebett gebeten, auf seine Heimatinsel zu reisen und seine drei Schwestern zu schützen. Doch nach und nach werden sie ...

Privatermittler Kosuke Kindaichi ist verzweifelt. Ein Freund hatte ihn auf seinem Sterbebett gebeten, auf seine Heimatinsel zu reisen und seine drei Schwestern zu schützen. Doch nach und nach werden sie getötet. Und alle drei Morde erinnern an Haikus, die Kindaichi auf einer Trendwand in seinem Gästezimmer findet. Was hat Japans berühmtester Detektiv nur übersehen?

Die Wiederentdeckung von Seishi Yokomizos Reihe über Kosuke Kindaichi ist weiterhin ein Glücksfall für Freund:innen klassischer Krimis. Ursprünglich ab den späten 1940er-Jahren erschienen, gelten die Krimis als japanische Antwort auf Agatha Christie oder Sherlock Holmes, und wirken dennoch nur bedingt aus der Zeit gefallen. Die Nachkriegszeit ist in „Mord auf der Insel Gokumon“ greifbar, natürlich gibt es keine modernen Kommunikationsmittel, aber das eigenbrötlerische Inselleben auf Gokumon ist gar nicht mal so weit weg von all den eher modernen Insel-Krimis.

Hier und da blitzt etwas Humor auf, Yokomizo hat ein Händchen für skurrile wie liebenswerte Charaktere, immer wieder, wenn auch weniger als noch im ersten Band „Die rätselhaften Honjin-Morde“ wird auch die dritte Wand durchbrochen und der Leser direkt angesprochen. Die Leser:innen erfahren etwas über die Geschichte Japans, über die der fiktiven Insel in Japans Inlandsee und das Fischereigeschäft in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg.

Der Fall selbst scheint mysteriös: Drei Schwestern werden nach und nach ermordet und hängend in einem Baum, sitzend unter einer Glocke und scheinbar spielend in einem Gebetsraum gefunden. Sympathieträgerinnen waren sie nicht, aber die Erben der größten Fischerei-Dynastie der Insel, nachdem der ursprüngliche Erbe verrückt geworden und sein Sohn auf der Rückreise aus dem Krieg verstorben ist. Hat die Seitenlinie, das zweitgrößte Fischunternehmen auf Gokumon, seine Finger im Spiel? Und was hat es mit den Haikus auf sich, die geschrieben sind, gemurmelt werden.

Die zweite Neuübersetzung der Kosuke Kindaichi-Reihe ist wieder ein behutsamer und ruhig geschriebener Krimi. Die Gänsehaut entwickelt sich eher subtil, er überrascht nicht nur blutrünstige Thriller-Überraschungen, aber vielleicht doch durch die Auflösung des Falls. Auf den ersten Band wird zwar immer wieder zurückgeblickt, aber dennoch funktioniert „Mord auf der Insel Gokumon“ auch für sich, da es lediglich um die genannten Personen geht. Und es bleibt zu hoffen, dass auch die weiteren Bände, die bereits in englischen Neuübersetzungen vorliegen, ihren Weg ins Blumenbar-Portfolio finden, denn wenn man erst einmal Fan der Reihe ist, gilt das gleiche wie für die Kito-Schwestern: Es gibt kein Entrinnen.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 15.08.2023

Klug und tragisch mit kleinen Wermutstropfen

Nachts erzähle ich dir alles
0

Irgendwann so in der Mitte des Buchs, da hat mich Anika Landsteiner verloren. Nicht, dass ich der Geschichte nicht mehr folgen konnte, sie wurde bloß uninteressanter. Aber: So richtig schlimm war das nicht. ...

Irgendwann so in der Mitte des Buchs, da hat mich Anika Landsteiner verloren. Nicht, dass ich der Geschichte nicht mehr folgen konnte, sie wurde bloß uninteressanter. Aber: So richtig schlimm war das nicht. Denn „Nachts erzähle ich dir alles“ ist trotzdem eines der Lesevergnügen des Sommers mit wichtigen Themen und starken Frauenfiguren.

Lea flieht in das Ferienhaus ihrer Familie in Südfrankreich. Die Trennung von ihrer Freundin hat zu Dschungeltapeten in ihrem französischen Café geführt und das war dann doch der Tropfen zu viel. Im „Haus der Männer“ angekommen, trifft sie auf die junge Alice. Sie unterhalten und verabschieden sich und am nächsten Tag ist Alice tot.

Klingt wie ein Krimi-Plot, ist aber dann eine doch oft einfühlsame Geschichte über Schwangerschaften, Abtreibung und die verzweifelte Frage, ob eine Enttabuisierung des Themas nicht dazu führen könnte, dass Frauen mit der Frage nach einem Abbruch nicht allein sind, nicht abgestempelt werden und nicht zu verzweifelten Mitteln greifen.

Diese Teile von „Nachts erzähle ich dir alles“ sind extrem klug und intensiv geschrieben, genau wie in großen Teilen die von Claire, einer alten Freundin von Leas Mutter Marianne, die sich um das „Haus der Männer“ kümmert und über deren Hintergrund wir in Rückblenden und abendlichen Gesprächen immer mehr erfahren.

Weniger interessant, vielleicht auch relevant, war für mich die Geschichte von Lea und Alices Bruder Emile. Lea war die letzte Person, die Alice lebend gesehen hat, und Emile möchte mehr erfahren, sucht immer wieder das Gespräch, nimmt sie mit zu Alices bester Freundin, ihrem Partner, ihren gemeinsamen Eltern. Dass sich hier eine Liebesgeschichte anbahnt, ja vielleicht sogar anbahnen muss, macht den Roman länger, aber nicht besser, auch wenn es Lea in ihrem Heilungsprozess unterstützt. Ein kleiner Wermutstropfen nach einer starken ersten Buchhälfte.

„Nachts erzähle ich dir alles“ ist ein Sommerbuch mit toll geschriebenen Figuren, mit ernsten Themen, tragischen Momenten, einer etwas belanglosen Liebesgeschichte, aber auch mit viel Frankreich-Liebe. Eigentlich möchte man beim Lesen die ganze Zeit ein französisches Picknick machen, Wein trinken und in der Sonne sitzen – und allein für dieses Gefühl verdient Anika Landsteiners Roman 4 von 5 Sternen.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 17.07.2023

Zu wenig zu viel

Sylter Welle
0

Max fährt nach Sylt. Ein paar Tage mit den Großeltern möchte er dort verbringen, so wie früher jeden Sommer. Bloß jetzt im Urlaubsbunker statt im Wohnwagen. Und auch sonst fällt ihm auf, wie sich seine ...

Max fährt nach Sylt. Ein paar Tage mit den Großeltern möchte er dort verbringen, so wie früher jeden Sommer. Bloß jetzt im Urlaubsbunker statt im Wohnwagen. Und auch sonst fällt ihm auf, wie sich seine Großeltern verändert haben – und wie wenig Zeit ihnen gemeinsam bleibt.

Eigentlich eine gute Story. Enkel-Großeltern-Beziehung, ein Urlaub auf Deutschlands teuerster Insel trotz Ommas Sparfuchsigkeit, Krankheiten – eine spannende Mischung für eine Geschichte. Bloß: All das nimmt vielleicht 30 der gut 220 Seiten ein. Der Rest: Rückblicke, Anekdoten, Zoten und Klischees. Immer, wenn Leßmann „droht“, tatsächlich in die Gegenwart, in die richtige Storyline einzuschwenken, macht er ein einen Schlenker wie ein Hase auf der Flucht, als wolle er die Wahrheit, das Ist verdrängen.

Wirklich kritisieren möchte ich das Erzählte nicht, zu unklar ist, ob es nun Biografie oder Autofiktion ist – der Kindstod der Tante und der Krebstod des Onkels, Opas Flucht im Krieg und der Konfessionskonflikt der Großeltern-Familien, die Streitigkeiten zwischen Omma und Mutter, die eigenen Depressionen. Bloß: Es ist zum einen zu viel, zum anderen ist die Geschichte auf Sylt, das Noch-mal-Zusammensein viel zu wenig, obwohl allein das wohl hunderte von Seiten füllen könnte.

Und das ist wirklich schade, denn wenn Omma sich bei ihrem Enkel einhakt und das Tempo bestimmt, ist das berührend und witzig. Und wenn Max seinen Oppa mit eingenässter Hose auf einer Inseltoilette findet und ihm seinen rosa Jogginganzug überlässt, ist auch das gleichzeitig herzzerreißend und amüsant, spätestens durch Ommas Nicht-Reaktion. Diese kleinen Szenen zeigen alle, was möglich gewesen wäre – für diese Geschichte, aber auch für Max Richard Leßmann als Autor.

So bleibt „Sylter Welle“ am Ende ein Roman, der sich schnell lesen lässt, aber nicht so viel Freude und Melancholie bereitet, wie er könnte, streckenweise auch mal nervt, wenn der Autor wieder einmal abdriftet, und doch irgendwie gut ist, aber halt auch nicht mehr. Er ist ein bisschen zu wenig und ein bisschen zu viel. Oder um es mit zwei Worten zu sagen, die ich beim lesen häufiger dachte: Ach Max!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere