Profilbild von herr_stiller

herr_stiller

Lesejury Profi
online

herr_stiller ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit herr_stiller über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 05.10.2022

Verzweifelte Herzen

Unsre verschwundenen Herzen
0

Die deprimierendsten Dystopien? Sind die realistischen. Die keine Aliens, keine Naturkatastrophen brauchen, um die Welt und die Gesellschaft an den Abgrund zu schieben, sondern menschliches Verhalten. ...

Die deprimierendsten Dystopien? Sind die realistischen. Die keine Aliens, keine Naturkatastrophen brauchen, um die Welt und die Gesellschaft an den Abgrund zu schieben, sondern menschliches Verhalten. Das so nah am aktuellen Weltgeschehen ist, dass es nur einen Funken und etwas Unaufmerksamkeit benötigt, bis aus Fiktion Wahrheit wird. Celeste Ng schafft dieses Gefühl von Ohnmacht und Verzweiflung mit „Unsre verschwundenen Herzen“ in Perfektion.

Bird lebt mit seinem Vater im obersten Stock eines Studentenwohnheims, seit sie aus ihrem alten Leben flüchten mussten, seitdem seine Mutter sie verlassen hat. Warum? Das wird nach und nach klarer. Die große Rolle dabei spielt PACT – ein patriotisches Gesetz, das die Rechte und das Leben chinesisch-stämmiger Amerikaner und ihrer Unterstützer einschränkt. Bis hin zum Verlust ihrer Kinder, die in Pflegefamilien entrissen werden. Die verschwundenen Herzen.

Der Roman ist in der nicht allzu fernen Zukunft angesiedelt, vermutlich in den 2030er Jahren, nicht viel später. Zehn Jahre vor der Handlung versank das einst freie Amerika in einer Wirtschaftskrise, die China in die Schuhe geschoben wurde. Kein unrealistisches Szenario in Zeiten von Corona, Krieg und Trumpismus. Mit einem harten Gesetz wurden unamerikanische und pro-chinesische Einflüsse unter Strafe gestellt. Bücher verbrannt. Menschen getötet, während Polizei und Politik wegschauten. Doch langsam macht sich zarter Widerstand in der Gesellschaft breit. Und das unter einem Motto, das sehr viel mit Bird zu tun hat.

„Unsre verschwundenen Herzen“ ist brutal zu lesen. Allein schon für alles, was während der Lektüre im Kopf passiert, was zwischen den Zeilen steht. Wer ein bisschen das Geschehen in den USA, den Drift der Republikaner und ihrer Anhänger seit Beginn des Jahrtausends verfolgt hat, der weiß, wie der aufrührerische Politikstil funktioniert, der im Roman zu PACT führte.

Und dieses brutale Kopfkino, das trotz des ruhigen Schreib- und Erzählstils den Puls in die Höhe und Tränen der Verzweiflung in die Augen treibt, macht Ngs dritten Roman zu einem der stärksten und vielleicht auch wichtigsten Bücher des Jahres. Daran ändert auch ein kleiner Bruch im Lesefluss durch einen Perspektivwechsel nach einem Drittel der Geschichte nichts. Spannend werden Handlungsfäden miteinander verknüpft, Birds Familiendrama immer klarer, für die Hauptfigur wie für Leser:innen gleichermaßen. Und am Ende? Bleibt vor allem eine Botschaft: dass es an der Gesellschaft ist, ein derartiges Zukunftsszenario zu verhindern.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 28.09.2022

Schauen und schauern

Schau durchs Fenster!
0

Ein Feuer! Ein Monster! Ein böser, gefräßiger Wolf! Bei wie vielen von Ihnen ist der Puls jetzt bereits angestiegen? Seien Sie beunruhigt: All das erwartet Sie und Ihre Kinder in „Schau durchs Fenster!“ ...

Ein Feuer! Ein Monster! Ein böser, gefräßiger Wolf! Bei wie vielen von Ihnen ist der Puls jetzt bereits angestiegen? Seien Sie beunruhigt: All das erwartet Sie und Ihre Kinder in „Schau durchs Fenster!“ – oder etwa nicht?

Katerina Goreliks Kinderbuch ist in erster Linie ein großer Spaß mit leichtem Gruselfaktor. Und in zweiter Linie räumt er mit Klischees auf. Der Lefzen ziehende Wolf ist nicht etwa scharf auf gemischtes Hack aus Großmutter und Rotkäppchen, sondern auf die gemeinsame Teezeit. Das gruselige Skelett im Fenster? Ist lediglich die Knochenapparatur von Dr. Maus, der gerade einen Hund untersucht. Und der Brand in der Küche? Ist lediglich ein Drache gewordener Bagel-Toaster – wie praktisch!

Das Buch ist eine Wohltat, denn endlich einmal ist im Gegensatz zu Märchen nicht alles böse, nicht alles schrecklich. Auch wenn die wundervollen Illustrationen den ersten Schauer noch unterstreichen. Aber: Auch bei harmlosen Szenen ist auf den ersten Blick nicht alles Gold was glänzt – oder leckerer Apfelkuchen. Letztere Szenen geben dem Buch noch einmal einen ganz anderen Twist: Auch eine vermeintlich nette Omi kann ihre düstere Seiten haben.

Die Moral? Ein zweiter Blick lohnt sich im Leben. So lassen sich Vorurteile aus der Welt räumen, im Guten wie im Schlechten. Aber, auch das sei gesagt: Auf den 60 Seiten wird häufiger der Schrecken genommen als ein neuer gegeben. Und das ist nicht nur schön, sondern auch sehr zeitgemäß.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 20.09.2022

Der kleine Wunderladen

SAMi - Wie pflanze ich ein Einhorn?
0

Liebe Eltern, ihr seid in der Einhornfalle gefangen und ächzt bereits beim Gedanken an ein weiteres Buch über stirnbehörnte Pferde? Keine Sorge – „Wie pflanze ich ein Einhorn?“ ist keine Geschichte über ...

Liebe Eltern, ihr seid in der Einhornfalle gefangen und ächzt bereits beim Gedanken an ein weiteres Buch über stirnbehörnte Pferde? Keine Sorge – „Wie pflanze ich ein Einhorn?“ ist keine Geschichte über quietschbunte Vierhüfler mit Regenbogenmähne. Zumindest nicht direkt. Dafür eine wundervolle Erzählung über die Macht der Pflanzen und warum manche Ratschläge nicht achtlos überhört werden sollten. Was wir Erwachsenen ja spätestens seit Gremlins wissen.

Die Geschichte in wenigen Worten: Die kleine Sally landet auf der Suche nach einem Geburtstagsgeschenk für ihre Oma in einem – im wahrsten Sinne – zauberhaften Blumenladen. Mister Pottifer, eine völlig harmlose fleischfressende Pflanze, hat allerlei magische Gewächse im Angebot – manche beißen, andere schneien und hageln, boxen und schwingen im Takt und wieder andere haben Einhörner als Früchte. Bloß soll man von letzteren nie mehr als einen Samen pflanzen, ansonsten … naja, lest und hört selbst.

Denn „Wie pflanze ich ein Einhorn?“ ist Buch und Hörspiel in Kombination mit dem SAMi Lesebär von Ravensburger. Der kleine Eisbär mit der Teetasse verwandelt die Geschichte in ein hübsch gelesenes Hörvergnügen, gesprochen von Anna Ewelina. Vielerlei Hintergrundgeräusche runden die magische Atmosphäre von Steven Lentons Geschichte perfekt ab. Natürlich funktioniert das Buch auch ganz klassisch. Im Gegensatz zu manch anderen Buch-Hör-Kombis wird hier keine Zeile Text weggelassen, so dass kleine Leser:innen die Geschichte auch ganz ohne Lesebär entdecken können.

Und die Einhörner? Sind am Ende tatsächlich für was gut. Dabei nicht mit der, tja, mittlerweile auch schon klassischen Einhornkotze, dafür mit … auch das möchte ich nicht verraten. Aber es bringt Mister Pottifers Laden noch einmal auf ein ganz neues Level. Ein bezauberndes, toll illustriertes und amüsant geschriebenes Buch für kleine Einhorn-Fans. Und ja, tatsächlich auch für Eltern, die eigentlich schon die Nase voll von Einhörnern haben. Versprochen!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 20.09.2022

Die Wiederentdeckung des Kosuke Kindaichi

Die rätselhaften Honjin-Morde
0

Etwas mehr als 75 Jahre ist dieser Kriminalroman alt. Ein Klassiker in Japan. Und der Auftakt der vierteiligen Reihe um den Privatdetektiv Kosuke Kindaichi, die nun auch in deutscher Übersetzung von Ursula ...

Etwas mehr als 75 Jahre ist dieser Kriminalroman alt. Ein Klassiker in Japan. Und der Auftakt der vierteiligen Reihe um den Privatdetektiv Kosuke Kindaichi, die nun auch in deutscher Übersetzung von Ursula Gräfe vorliegt. Endlich.

Ein Brautpaar wird in der Hochzeitsnacht tot aufgefunden. Die Tatwaffe, ein blutverschmiertes Schwert, liegt außerhalb des Raumes, der völlig verschlossen ist. Spuren des Täters führen hinein – aber nicht hinaus. Was geschehen ist? Das eröffnet Seishi Yokomizo den Leser:innen erst nach und nach.

Mit vielerlei Referenzen auf weitere Klassiker der Kriminalliteratur, japanischer Zurückhaltung und trockenem Witz erzählt er die Geschichte des Falls aus der Vorkriegszeit. Dabei wirkt sie gar nicht so sehr aus der Zeit gefallen. Natürlich gibt es keine Handys, aber die Polizeiarbeit unterscheidet sich gar nicht so sehr von der heutigen, die des Detektivs erinnert gar an einen leicht verschrobenen, aber sympathischen Sherlock Holmes. Der natürlich selbst im Wörterbuch neben dem Wort „verschroben“ abgebildet sein könnte.

„Die rätselhaften Honjin-Morde“ ist aber gleichzeitig auch ein schöner Blick auf das unbekannte Japan, auf Vorkriegstraditionen, auf das manchmal sehr strenge Familienleben. Behutsam geschrieben und wundervoll von der Haruki Murakami-Übersetzerin Ursula Gräfe ins Deutsche gebracht, zeichnet Seishi Yokomizo das gar nicht mal so heile Bild einer angesehenen Familie im ländlichen Japan, in der jeder und jede unter Verdacht steht, den Locked Room Murder Case begangen zu haben.

Nach der schnellen und charmanten Lektüre bleibt nur ein Wunsch an den Blumenbar-Verlag: dass auch die weiteren Fälle des Kosuke Kindaichi möglichst bald einen Weg ins Deutsche finden. So viele Jahrzehnte nach der Erstveröffentlichung wird das nämlich allerhöchste Zeit – auch, um noch mehr Japan kennenzulernen.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 30.08.2022

Lost in Translation

Intimitäten
0

Ein Mann verschwindet. Ein anderer wird zusammengeschlagen. Ein dritter steht vor Gericht. Und mittendrin eine namenslose Erzählerin. Was klingt, wie ein aufregender, düsterer Noir-Plot, ist tatsächlich ...

Ein Mann verschwindet. Ein anderer wird zusammengeschlagen. Ein dritter steht vor Gericht. Und mittendrin eine namenslose Erzählerin. Was klingt, wie ein aufregender, düsterer Noir-Plot, ist tatsächlich eine behutsame, intime Erzählung über Entfremdung und Annäherung, beruflich wie privat. Und das funktioniert in Katie Kitamuras „Intimitäten“ größtenteils sehr gut.

Die Ich-Erzählerin lebt seit einigen Monaten in Den Haag, arbeitet als Übersetzerin am Internationalen Gerichtshof, ist in einer Beziehung mit Adriaan. Auf einer Party erfährt sie, dass dieser eigentlich noch verheiratet ist, aber von seiner Frau verlassen wurde. Als er nach Portugal reist, um die Scheidung einzureichen, überlässt er der Erzählerin für die geplante Woche seine Wohnung, doch aus der Abwesenheit werden immer mehr Tage, aus den Nachrichten immer weniger. In der Zwischenzeit lernt sie den Buchhändler Anton kennen, der nahe der Wohnung ihrer Freundin Jana zusammengeschlagen wurde, und einen angeklagten Ex-Präsidenten, der sie als Übersetzerin der Strafverteidigung am IGH anfragt. Und für sie stellt sich mehr und mehr die Frage: Liegt ihre Zukunft noch in Den Haag?

„Intimitäten“ baut durch die Beobachtungen, Gefühle und Erwartungen der Protagonistin eine dichte Spannung auf, die gleichzeitig durch die verflochtenen Beziehungen der weiteren Charaktere bekräftigt wird. Dabei können sich Leser:innen nur auf die Gedanken der Erzählerin verlassen, auf ihre Mutmaßungen und Emotionen. Manches bleibt vage, nur ein Gefühl, nur eine Angst, manches wird im Laufe der Geschichte aufgelöst. Darauf muss man sich einstellen, sowas muss man mögen, wenn man Katie Kitamuras Roman zur Hand nimmt.

Die intime, unsichere Gefühlswelt, gefüttert durch eine unsichere Beziehung, eine unsichere berufliche Zukunft in einem auch nach Monaten noch fremden Land, wird durch Kitamuras einfühlsame Schreibweise perfekt aufgefangen, erinnert phasenweise an Sofia Coppolas Filmmeisterwerk „Lost in Translation“. Das passt natürlich perfekt zum Alltag der Dolmetscherin, die perfekt mehrere Sprachen spricht und sich dennoch nach einem Leben in New York und familiären Wurzeln in Singapur nirgendwo so richtig zuhause fühlt. Und in der ein vergessenes Kindheitserlebnis ein wahrer Gamechanger sein kann. Genau wie dieses Buch von Katie Kitamura – denn sie hat das Potenzial zu einer Lieblingsautorin.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere