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Veröffentlicht am 07.12.2022

"Die Kriegerin" - ein Roman über Traumata, Gewalt und die stete Suche nach Sicherheit

Die Kriegerin
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Was macht ein Trauma mit einem Menschen? Menschen, die für andere in den Krieg ziehen, eine ganze Nation beschützen sollen oder im Ausland Dienste leisten, Unvorstellbares sehen, womöglich dem Tod oftmals ...

Was macht ein Trauma mit einem Menschen? Menschen, die für andere in den Krieg ziehen, eine ganze Nation beschützen sollen oder im Ausland Dienste leisten, Unvorstellbares sehen, womöglich dem Tod oftmals viel zu nahe kommen? Wie kann man diesen Szenen entkommen? Wie all das Erlebte an sich einfach so abprallen lassen? Wahrscheinlich gar nicht. Helene Bukowski spürt in ihrem Roman "Die Kriegerin" eben jenen Fragen nach und beschäftigt sich mit der inneren und äußerlichen Verletzlichkeit.

Ihre beiden Protagonistinnen kennen sich seit der Grundausbildung bei der Bundeswehr. Dort wollen sie lernen stark zu sein, sich verteidigen zu können, einen Panzer aufzubauen, gar unverwundbar zu sein. Doch als Lisbeth von einem Feldwebel bedrängt wird, zieht sie sich zurück, muss sich erneut ihrer Verwundbarkeit stellen, die sie seit ihrer Kindheit plagt, und gibt ihre Zukunft auf. Sie versucht sich erneut ein Leben, dieses Mal als Floristin, aufzubauen, gründet eine Familie und scheint einen Weg gefunden zu haben, angekommen zu sein. Doch eines Tages bricht sie auch aus dieser Rolle aus, flieht an die Ostsee; das heilende Meer und Rauschen, das ihr schon früher immer geholfen hat. Doch hier trifft sie nach den vielen Jahren, die bereits vergangen sind, auch auf ihre alte Freundin, die Kriegerin. Die einstigen Momente der Vertrautheit und Anziehung sind zunächst noch da, aber auch sie weichen langsam. Aggressivität, Reizbarkeit, Wut und Angst machen sich breit und ihre Körper werden zur Angriffsfläche. "Mein Körper ist wund vom Hass [...] Ich habe das Gefühl, dass mir das Licht abhandengekommen ist." - Auch die Kriegerin lassen ihre Erlebnisse vom Krieg in Afghanistan kaum noch los. Auch sie wird verfolgt. Auch sie befindet sich auf der Flucht und erneut auf der Suche nach Schutz. Doch wohin, wenn man den Geschehnissen der Vergangenheit nicht mehr ausweichen kann? Wohin, wenn sich plötzlich alles wie eine große, pulsierende Wunde im Körper anfühlt, die nach und nach Besitz von dir ergreift?

"Wer wird verstehen, was ich hier erlebe, was es mit mir macht, wer ich dadurch wurde? Das meiste, was bei einem solchen Einsatz passiert, wird in Deutschland ausgeblendet. Nur die richtig schlimmen Sachen schaffen es in die Nachrichten, wie die Gefechte, bei denen Soldaten fallen oder wenn mehr als fünf Zivilisten unter den Opfern waren. [...] Ich dachte, ich komme stark aus diesem Einsatz zurück [...], aber stattdessen merke ich, wie ich immer brüchiger werde, wie ich kurz davor bin, die Hand zurückzuziehen. Wie lange schaffe ich es nicht, mich zusammenzuhalten?"


Dieser Roman ist gespickt mit vielen Fragen und Kontrasten. Eine Floristin. Eine Soldatin, die Kriegerin. Das aufbrausende Meer und die endlose Freiheit. Ein Aufenthalt auf einem Kreuzfahrtschiff. Genaustens geplante Tage und Abläufe, unerwartete Pausen. Blumen, die gleichzeitig Freude und irgendwie auch Tod bedeuten Aufreißende Haut, schützende Panzer. Stärke und Schwäche. Das alles wirkt so ein bisschen wie ein Moodboard mit zahlreichen Schlagworten und verschiedensten Bildern und doch gelingt es Bukowski fast schon mühelos diese zu einer Geschichte zu verweben, die tief in das menschliche Sein blicken lässt. Ihre beiden Protagonistinnen wählten einmal den gleichen Werdegang und doch entwickelten sie sich, aufgrund verschiedenster Erlebnisse und Übergriffigkeiten in komplett andere Richtungen. Lisbeth, die schon jeher Probleme mit ihrem eigenen 'Schutzpanzer' hat, wirkt ständig von der Unruhe und Fluchtgedanken getrieben - nach Sicherheit suchend. Ihre Freundin, etwas zäher und selbstsicherer, sorgt an der Front für eben jenen Schutz und doch bekommt auch ihre Welt und Standfestigkeit langsam Risse bis sie die Bilder nicht mehr so einfach abschütteln kann und auch sie Halt sucht.
Für mich ist es ein ganz besonderes Bild, das dieser Roman in Verbindung mit dem Krieg und Militär aufzeigt. Wie geht man mit den Folgeerscheinungen um? Was macht das Erlebte mit einem Menschen? Das sind so Fragen, die oftmals einfach viel zu kurz kommen, viel zu wenig im öffentlichen Diskurs stattfinden und vielleicht auch gar nicht ins Bewusstsein der unbeteiligten Bevölkerung dringen (sollen). Die Armee ist in der Wahrnehmung meistens nur so eine Masse, ohne, dass das Individuum noch Beachtung findet. Und wenn man dann noch zwischen Mann und Frau, Rangkämpfen und Ego unterscheiden soll, wird es nochmal etwas schwieriger. Beim Lesen merkt man daher auch, zumindest ging es mir so, wie wenig man eigentlich davon weiß, was so ein Auslandeinsatz eigentlich bedeutet und welche Folgen er für Soldatinnen und Soldaten hat. Bukowski widmet sich hier bewusst dem Schicksal zweier Frauen, eher ruhig und unaufgeregt und dennoch teilweise sehr eindringlich und intensiv. Mit einer Präzision, die wie beim Aufbrechen eine Blüte, sich langsam und mit jedem weiteren Blatt, Schicht für Schicht dem Innersten nähert und damit einen Blick auf den Schmerz, Wunden und das zu Verdrängende freigibt, nähert sie sich dem Körper und der Psyche ihrer Protagonistinnen. So ist es dann auch ein besonderes Buch über Traumata, psychisch und physische Belastungen, sowie Gewalt und der steten Suchen nach Stärke und Sicherheit. Aber, und das mag ich sehr gern daran, Bukowksi erklärt nicht, lässt keine genauen Analysen zu und bewertet auch das Geschehene nicht. Sie schrammt quasi den Ursprung und lässt ihre Protagonistinnen ihren Weg finden und den Leser*innen den nötigen Freiraum damit umzugehen. Allerdings muss ich auch sagen, dass dieser Roman für mich auch so ein paar Schwächen hatte. Das große "Ohh" hat mir gefehlt und das Ende hat mich nicht ganz so glücklich gestimmt, aber vielleicht ist es auch gerade gut, denn eine übertriebene Szene oder ein spannungsgetriebener Plot könnte alles sofort ins Fragwürdige stürzen und das könnte den Betroffenen einfach nie gerecht werden.

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Veröffentlicht am 08.03.2022

"Ende in Sicht" oder auch nicht? Von Rönnes sehr unterhaltsamer Roman am Rande einer Depression.

Ende in Sicht
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Wir alle kommen mal an Punkte im Leben, an denen man am liebsten alles hinschmeißen mag. Und gerade, wenn man dann noch ein für sich gutes Alter erreicht hat und alles bescheiden wird, wieso sollte man ...

Wir alle kommen mal an Punkte im Leben, an denen man am liebsten alles hinschmeißen mag. Und gerade, wenn man dann noch ein für sich gutes Alter erreicht hat und alles bescheiden wird, wieso sollte man sich da weiter quälen? Man könnte doch auch in Würde das Leben ausschleichen lassen und entsprechende Hilfe in Anspruch nehmen. In Deutschland ist Sterbehilfe nach wie vor eine Grauzone und strafbar, doch in der Schweiz gibt es unter gewissen Umständen auch hierfür Möglichkeiten. Und genau das hat sich die 69 jährige Hella Büttner in Ronja von Rönnes neusten Roman "Ende in Sicht" auch gedacht. Ihre Karriere als Schlagersängerin Hella Licht hat bereits vor Jahren einige Tiefpunkte hinnehmen müssen, es gab mehrere Schlagzeilen und nun wird sie nur noch selten für kleine Auftritte gebucht, aber wirklich kennen, tun sie die wenigsten. Auch ihr Privatleben hat seinen Glanz verloren, sodass sie beschloss dem ein Ende zu setzen. Sie hat sich durch einen Trick einen Termin in einem Schweizer Krankenhaus (ja, man muss es schon eher so sagen) ergaunert und macht sich nun mit ihrem alten, vollgemöhlten Passat auf den Weg.

"Hella war durchaus bewusst, dass eine Leitplanke definitiv keine sichere >Du kommst aus dem Gefängnis frei<-Karte war. Und im Gegensatz zu Leitplanken versprach die Schweiz einen deutlich glamouröseren Abgang." Und "Das Beste, dachte sie so leise wie möglich, denn der Gedanke war ihr vor ihr selbst peinlich, das Beste war, dass sie in der Schweiz zwei Termine hatte: einen zum Sterben und einen einige Stunden davor: zum Schminken und Frisieren."

Doch wie das Leben so spielt, kommt alles anders. Und auch der Roman beginnt ganz anders als nun erwartet, denn zuerst lernen wir die 15 Jährige Juli kennen, die auf einer Autobahnbrücke steht und mit dem Gedanken spielt, zu springen. Juli leidet an Depressionen und hat schon lange genug von der Welt. Eigentlich sollte sie jetzt gerade mit ihren Mitschülern in einem Bus nach Prag sitzen, aber mit so einer vorgeschobenen akuten Halsentzündung geht das natürlich nicht. Auch ihren Vater hat sie ausgetrickst und so steht sie nun auf der Brücke und starrt auf die befahrene Autobahn unter ihr. Doch dann geht alles ganz schnell, zuerst fällt Juli das kleine, gestreifte Schneckenhaus, mit dem sie die ganze Zeit gespielt hat, aus den Händen und dann landet sie mitten auf der Fahrbahn - nicht tot, aber mit einigen Blessuren. Gerade in diesem Moment fährt auch Hella die Straße entlang, sieht Juli und hält an. Sie will ihr helfen bzw. eigentlich auch nicht, denn helfen und sich um andere zu kümmern war noch nie ihr Ding gewesen, aber es kommt wie es kommen sollte, ihr Handy ist tot und so bringt Hella die Jugendliche in ein Krankenhaus in der Nähe. Doch damit nicht genug... das Schicksal hat sie beide an ihrem Tiefpunkt zusammengeführt. Juli sucht sich zwar immer wieder neue Wege um weiter zu kommen, weiter weg von zuhause und vor allem weg von dieser senilen Alten, doch Hella macht es ihr dann nicht so einfach.

"Lange bevor ihr eine müde Schulpsychologin die Diagnose verkündete, wusste Juli, was Depressionen sind. Mental Health war in den sozialen Netzwerken allgegenwärtig, irgendwie war ja jeder heutzutage mal depressiv und dagegen gab es Apps, Tabletten und ganz, ganz viel Verständnis. Dies war das 21. Jahrhundert, und noch nie hatte sich Juli [...] für ihre Diagnose geschämt."

Normalerweise sind Bücher über Depressionen und Tod ja nicht gerade die leichteste Kost. Oftmals sind sie sehr überrollend, anstrengend oder von tiefgreifenden, unzähligen Gedanken und umständlichsten Erklärungen durchzogen. Nicht hier, denn Ronja von Rönne nähert sich dem Thema mit einer schicksalhaften Begegnung und zeichnet eher ein 'Drumherum'-Bild mit viel Witz, flapsigen Kommentaren, einer wilden 'Erlebnisfahrt' und zweier sehr unterschiedlichen Ansichten und Lebenssituationen. Von der Grundidee könnte man dieses Buch wahrscheinlich mit Lucy Frickes "Töchter" vergleichen - eine ähnliche Fahrt, ein ähnliches Ziel und doch kommt am Ende alles ganz anders und die Protagonistinnen erleben noch sehr viel mehr, als diese letzte Autofahrt. Nur der Schreibstil unterscheidet sich enorm, beinahe ist dieses Buch mehr eine Art Nebenbeiunterhaltung.
"Ende in Sicht" ist eine unterhaltsame Geschichte, rund um sehr ernste Themen - Depression, Krankheit, Therapien und begleitetes Sterben. Dennoch muss man sagen, dass von Rönne sich bis zum Ende recht oberflächlich an diesen Themen abarbeitet, was vielleicht aber auch ganz gut ist, denn so drängt sie den Leser
innen weder eine Schablone auf, noch gibt sie Tipps, wie man als Betroffener oder Angehöriger damit umgehen soll. Sie zeigt mehr, wie es ist und was es heißt depressiv zu sein und/oder genug von der Welt zu haben und trotz vieler skurriler, toller, aufregender Momente sich an nichts erfreuen zu können und immer wieder in einem Loch zu sitzen. Gerade ihre Protagonistin Juli ist sich dem bewusst, wird von der tüddeligen Seniorin mit komischen Vorurteilen beladen, aber bleibt bis zum Ende hin auch in ihrer 'Rolle'. Es gibt keine Wunderheilung. Juli macht sich über ihr Gemüt zwar Gedanken, eckt mit Hella einige Male an, aber damit hat es sich dann auch... und gerade diesen Anstoß/diese Herangehensweise finde ich toll, denn Depressionen kann man nicht so einfach erklären - sie sind sehr vielfältig und haben unterschiedlichste Ursachen.

"Sie wusste sehr wohl, wie Schriftsteller, Künstler, Tik-Toker und Wikipedia Depressionen beschrieben: als würde das Leben plötzlich >an Farbe verlieren< und der Alltag >immer grauer< werden. Doch für sie war es viel schlimmer. Es war bunt und leuchtete in allen Farben, nichts war grau [...] Aber wenn Juli dann abends im Bett lag [...], waren all diese Farben gleichermaßen schal und deprimierend."

Ronja von Rönne schafft es scheinbar mühelos, sehr unterhaltsam und mit einer Menge Charme zwei komplett unterschiedliche, in ihren Welten 'gefangene' Menschen aufeinanderprallen zu lassen und ernste Themen aufzugreifen, ohne zu verurteilen oder zu bewerten. Insgesamt ist es zwar eine sehr wilde Fahrt, voller skurriler Momente und Einfälle, die man nun toll oder für sehr weit hergeholt halten kann, aber es ist eben ein sehr junges, "unangemessen komisches" und verrücktes Buch. Das Hörbuch wurde von Ronja von Rönne selbst eingelesen - normalerweise finde ich das immer etwas schwierig, da nicht jede Stimme unbedingt für ein Hörbuch geeignet ist, aber hier gibt RvR ihrem Text noch einmal eine gewisse Ruhe, aber auch Schwere, ein wenig Denkspielraum und ich fand es sehr toll gelesen... so ist es dann insgesamt auch ein kleines, kurzes Lese- und Hörvergnügen, das Einzige was mich nun vielleicht gestört hat, war der Epilog, denn für mich war die Geschichte bereits mit einem offeneren Ende abgeschlossen und dann kam da eben zack noch eine Wendung, ein Happy End und ein komisches Ende. Hach, weiß nicht, aber ja so glückliche Enden in Sichtweite sind vielleicht auch ganz schön.

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Veröffentlicht am 21.10.2021

Über die DDR und das Schweben zwischen Vergangenheit und Gegenwart, eben wie ein "Raumfahrer"

Raumfahrer
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Lukas Rietzschel wird gerne als junge, wichtige Stimme des Ostens betitelt. Sein Roman "Mit der Faust in die Welt schlagen" bekam sehr viel Aufmerksamkeit da es sich mit dem heute nach wie vor sehr präsenten ...

Lukas Rietzschel wird gerne als junge, wichtige Stimme des Ostens betitelt. Sein Roman "Mit der Faust in die Welt schlagen" bekam sehr viel Aufmerksamkeit da es sich mit dem heute nach wie vor sehr präsenten Thema des Rechtsrucks, gerade in den östlichen Bundesländern, beschäftigt. Mit seinem neuen Roman "Raumfahrer" greift Rietzschel wieder ein bekanntes Ostthema auf - die DDR, die Stasi und zwei Brüder, die durch den Bau der Mauer voneinander getrennt werden, die heutige Situation und vielleicht auch ein Stück weit Trostlosigkeit.

"Es war gar nicht lange her, dass Mutter, Vater und Jan auch im Block gewohnt hatten. Irgendwann hatte Jan bemerkt, dass die Wohnungen ringsum leer wurden und dass die Nachbarn nicht, wie oft behauptet wurde, wiederkamen. Bald waren sie die letzte Familie im Block und mussten umziehen, in eine andere Platte, zusammengekehrt mit den Übriggebliebenen [...] Für manche war das der dritte Umzug dieser Art."

Der Leerstand im Osten greift um sich und macht selbst vor dem Krankenhaus in dem Jan arbeitet, nicht halt. Einer seiner letzten Patienten gibt ihm einen Schuhkarton, der einige Informationen über seine Familie und die Vergangenheit enthält. Jan sieht sich plötzlich mit den Fragen seiner Familiengeschichte konfrontiert. Und während sein Vater, mit dem er zusammenlebt, sich durch den Inhalt provoziert sieht, werden die Fragen nach den Beziehungen der Mutter und dem verschwundenen Gemälde von Georg Baselitz immer lauter. Was haben diese Familien miteinander zutun? Was verbindet sie und was für eine Rolle hat Jan in dem Ganzen?

Für Menschen, die sich fragen, wie es wohl damals in der DDR und insbesondere mit der Überwachung war, ist dieser Roman wahrscheinlich etwas sehr Aufschlussreiches und sehr an der Realität Anknüpfendes. Wie bereits erwähnt, bedient sich Rietzschel hier an den 'klassischen' Osthemen. Während in der Neuzeit noch einige Baurelikte der Vergangenheit stehen, der Wandel der Zeit deutlich zu spüren ist, Menschen wegziehen, sich nirgends mehr so recht zugehörig fühlen und Einrichtungen schließen, greift er in einer zweiten Zeitebene die Geschichte zweier Brüder auf, die durch den Bau der Mauer getrennt wurden. Einer von Ihnen wurde in der DDR von der Stasi als möglicher 'DDR-Flüchtiger' eingestuft und beobachtet, Post wurde nicht weitergeleitet und auch sonstige Kontaktmöglichkeiten erschwert. Und während der eine von Ihnen ein bekannter Künstler wird, bleibt dem anderen nur... ja, was eigentlich?

"Mutter, Vater. Für Jan waren sie Raumfahrer. Schwebten in einer Zwischenwelt, ihrem Ausgangspunkt entrissen. Während sie schwebten, hatte sich die Welt schon ein Dutzend Mal weitergedreht. Sie sahen dabei zu, streckten die Hände aus. Versuchten , vor- oder zurückzukommen. Hoch, runter. Aber wo sie sich befanden, gab es keine dieser Richtungen im Raum. Und Jan stand auf der Erde und richtete sein Fernglas auf sie."

Dieses Bild, den Raumfahrer und den damit verbundenen Titel dieses Romans, mag ich total gerne und irgendwie lässt sich sehr viel reininterpretieren. Menschen, die losgelöst sind, nirgends ankommen, nicht vorwärtskommen, sich einfach der Zeit beugen, teilweise von außen gelenkt, so voller Wünsche und doch irgendwie auch unfähig etwas zu bewirken. Jan hätte nun die Möglichkeit zurückzusehen, seine Eltern 'neu' kennenzulernen. Und was ich nun einerseits total faszinierend und durch das Auftauchen der Stasi-Akte unglaublich spannend finde, wäre eigentlich die Auseinandersetzung mit der möglichen Vergangenheit und dem 'will man das eigentlich wissen, wer damals alles mit der Stasi zusammenhing, was sie beobachtet haben, worauf die Regierung alles Einfluss genommen hat' oder möchte man unvoreingenommen weiterleben. Viele, die die Regierung kritisierten, aufmüpfig wurden oder sich gegen den Kommunismus stellten, wurden von der Stasi beobachtet, Stasimitarbeiter wurden teilweise als 'Freunde', Arbeitskolleg:innen oder Schulkamerad:innen in das Leben der zu Beobachtenden eingeschleust oder verschwanden plötzlich wieder und teilweise gab es sogar härtere Einschnitte. Aber als Jan diese Akte von einem seiner letzten Patienten im Krankenhaus erhält, lässt ihn das erstaunlich kalt. Es heißt zwar, dass Jan sich für die Vergangenheit interessiert, aber eher er denkt da eher an seine Zeit mit Karolina. Anfangs hatte ich das Gefühl, er wüsste einfach nichts damit anzufangen, noch könnte er dem Kartoninhalt eine Bedeutung geben, aber selbst im weiteren Verlauf tut sich da kaum eine Regung. Und das kann ich dann auch selbst Wochen nach dem Lesen nicht nachvollziehen, aber gut, jeder Mensch tickt anders und vielleicht wollte Rietzschel mit diesem Handlungsstrang einfach nur eine nebenherlaufende Verbindung zur Gegenwart herstellen, aber das eigentliche DDR-Geschehen in den Vordergrund stellen. Aber selbst dann, hat sich das Lesen durch Jans Abschnitte für mich etwas in die Länge gezogen, ich hatte die ganze Zeit mit einem gewaltigen Rums gerechnet, aber irgendwie kam da fast gar nichts. Es blieb ruhig, sachlich und gegenwärtig ja, irgendwie dann auch etwas trostlos. Und wenn ich dieses Buch nun mit Rietzschels vorherigem Roman "Mit der Faust in die Welt schlagen" vergleiche, so gab es zwar ein komplett anderes Thema des Ostens, aber er konnte da einfach größere Welten aufbauen und der Frage nach rechter Gewalt auf die Spur kommen, eben etwas, womit auch jede:r heutzutage etwas anfangen kann, sich dazu Fragen stellt und vieles nicht verstehen kann. "Raumfahrer" setzt sich dabei eher mit gegebenen Fakten auseinander, die in der Form nur ein Teil seiner Leser:innen kennen wird oder aus Erzählungen gehört hat und dabei eigentlich recht wenig Raum für eigene, weitschweifende Gedanken lässt. Langer Rede, kurzer Sinn: Ich mochte es gerne, der Roman ist gut erzählt, aber er hat mich weder überrascht noch wirklich berühren können, er ist lesenswert, aber Rietzschels erstes Buch fand ich deutlich stärker.

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Veröffentlicht am 21.03.2021

Rachel Joyces neuer Roman über eine ganz besondere Freundschaft

Miss Bensons Reise
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Manche Autoren und Autorinnen begleiten mich schon recht lange und es gibt tatsächlich nur wenige, von denen ich auch jedes Buch lese, aber Rachel Joyce gehört mit ihrer Art Geschichten zu erzählen und ...

Manche Autoren und Autorinnen begleiten mich schon recht lange und es gibt tatsächlich nur wenige, von denen ich auch jedes Buch lese, aber Rachel Joyce gehört mit ihrer Art Geschichten zu erzählen und ihrer Liebe zu ihren Figuren und der Leidenschaft für verrückte bis halb utopische Träume und Wünsche, dann doch zu eine meiner liebsten. Ihr neuer Roman "Miss Bensons Reise" hat mich anfangs etwas an ihr erstes Buch "Die unwahrscheinliche Pilgereise des Harold Fry" erinnert. Auch wenn beide Romane grundlegend andere Ausgangspositionen besitzen, so handeln sie doch beide von einer überraschenden Reise, die aufgrund eines Ereignisses in der Vergangenheit und einem kleinen Wink mit dem Zaunpfahl ausgelöst wird. Doch während Harold Fry seiner alten Liebe Queenie einen letzten Dienst erweisen möchte, sie im Hospiz besuchen will und einmal quer durch England irrt, begibt sich Margery Benson ans andere Ende der Welt, um einen kleinen goldenen Käfer zu suchen.

Alles beginnt zunächst mit einem tragischen Ereignis in Margerys Kindheit. Als ihren Vater die Nachricht ereilt, dass seine vier Söhne im Krieg gefallen sind, kommt es zu einer Kurzschlussreaktion und er erschießt sich auf der Terrasse. Die zehnjährige Margery, die währenddessen mit einem Käferbuch beschäftigt ist und auf die Rückkehr ihres Vaters wartet, begreift nicht sofort was geschehen ist, doch die Erinnerung an diese Situation und an ihren Vater, der ihr kurz zuvor im Buch voller "Unglaublicher Geschöpfe" den goldenen Käfer von Neukaledonien zeigte, wird sie noch ihr ganzes Leben lang verfolgen.

London, 1950. ( 36 Jahre später) Margery führt ein sehr einsames Leben. Sie ist Lehrerin für Hauswirtschaft geworden und erklärt ihren Schülerinnen gerade wie man in Kriegszeiten einen Kuchen backt, als ein lustiger Zettel durch die Reihen gereicht wird. Eine Karikatur von ihr macht Margery deutlich wie festgefahren ihr Leben eigentlich ist und was sie bis dato erreicht bzw. nicht erreicht hat. Sie ist eine Witzfigur, mehr nicht. Hals über Kopf schmeißt sie alles hin und kratzt ihre Ersparnisse zusammen. Sie will nun endlich über ihren Schatten springen, sich ihrer Leidenschaft widmen und diesen ominösen goldenen Käfer für sich und ihren Vater finden. Doch alleine wäre diese Reise wahrscheinlich unmöglich und so sucht sie mit Hilfe der Zeitung nach einer passenden Reisebegleitung. Die Auswahl ist mager und so tritt, zu Margerys eigenen Überraschung, Enid Petty in ihr Leben. Die eher geschwätzige Sexbombe, mit ihrem pinken Kostüm und den blondierten Haaren ist nicht gerade die einfachste Person und das komplette Gegenteil von Margery, aber das Schicksal hat es so gewollt und die beiden gemeinsam auf diese abenteuerliche Reise geschickt. Und was als eine Art Katastrophe beginnt, wird schnell zur engsten Freundschaft in Margerys Leben. Doch was sie noch nicht ahnt, auch Enid hat ein dunkles Geheimnis und einen noch größeren Traum. Für beide beginnt ein Abenteuer, das sie irgendwie zu anderen Menschen machen wird und in Situationen katapultiert, mit denen sie in ihren kühnsten Träumen nicht gerechnet hätten.

Was für Ritt! Dieser Roman ist wirklich ein großes Stück Unterhaltungsliteratur, wenn nicht sogar eher eine Art Komödie in Buchform. Dieses ungleiche Duo mit all ihren Problemen, verschiedenen Ansichten, kleinen und größeren Streitereien ist häufig so eine Art "Dick und Doof" und obwohl sie ständig auseinanderdriften, merken sie doch schnell, dass sie beide für sich und diese Reise einfach das Beste sind, was ihnen je hätte passieren können. Die Charaktere legen im Laufe dieser Geschichte eine unglaubliche Wandlung hin, gerade die immer in sich zurückgezogene, korrekte und strukturierte Margery taut auf und lernt das Leben von einer ganz anderen Seite kennen. Und Enid? Sie hat stets so ein paar ganz besondere, wenn nicht sogar abstruse oder dramatische Überraschungen parat. Dieses Buch lebt so unglaublich von diesen beiden herzzerreißenden Protagonistinnen und ihrer Geschichte hinter dieser Käfersuche. Auch die Menschen um sie herum fordern die beiden ständig aufs Neue heraus und so wird es dann für den Leser/die Leserin ganz gewiss auch nie langweilig.
In Rachel Joyces Romanen tauchen stets so ganz besondere Charaktere auf, die bis ins letzte, kleinste Detail so wunderbar verschroben und liebevoll zugleich sind. Und irgendwie schafft sie es gerade dadurch mich stets zu begeistern und von allen anderen Gedanken abzulenken. Man geht mit ihr und ihren Charakteren auf Reisen, bangt und hofft, dass am Ende alles wieder gut werden wird. Manchmal gehen Wünsche in Erfüllung und manchmal machen sie so ganz unerwartet eine große Biegung. Es ist so ein bisschen wie das Leben... häufig voller verrückter Zufälle und selbst in den schwierigsten Zeiten noch voller Möglichkeiten, oftmals fehlt nur das passende Gegenstück und alles wird mit ihm so ein kleines bisschen leichter. Mit "Miss Bensons Reise" kommt Rachel Joyce für mich zwar nicht an "Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry" und das passende Gegenstück "Das Geheimnis der Queenie Hennessy - Der nie abgeschickte Brief an Harold Fry" heran, aber es ist ein toller, unterhaltsamer Roman über Freundschaft, Träume, Freiheit und ein großes Stückchen Mut.

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Veröffentlicht am 17.12.2020

"Wer auf dich wartet" - ein Videocall mit Folgen

Wer auf dich wartet
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Stell dir vor, du würdest abends vor deinem Rechner sitzen, um mit deinem Freund/deiner Freundin zu skypen. Doch statt einer netten Plauderei erwarten dich die Szenen eines Einbruchs und Gewaltakts. Du ...

Stell dir vor, du würdest abends vor deinem Rechner sitzen, um mit deinem Freund/deiner Freundin zu skypen. Doch statt einer netten Plauderei erwarten dich die Szenen eines Einbruchs und Gewaltakts. Du sitzt hilflos vor deinem Bildschirm, während auf der anderen Seite jemand um sein Leben bangt. Kämpft. Verliert. Krasse Vorstellung? Ja, finde ich auch und dann gar nicht mal so utopisch.

Genau dieses Szenario ist Adain Poole in Gytha Lodges Roman "Wer auf dich wartet" passiert. Er wollte mit seiner Freundin Zoe skypen, doch dann ein Schatten, Kampfgeräusche, plötzliche Stille. Anonym wendet er sich an die Polizei in Southampton und versucht ihnen vom vermeidlichen Verbrechen zu erzählen, doch wo genau sich das Gesehene zugetragen hat, weiß er nicht. Und die ganze Wahrheit sagen? Puh… Als die Polizei dann etwas später über einige Umwege Zoes Wohnung betritt, finden sie nur noch ihre Leiche. Fragen und Ungereimtheiten tauchen auf. Warum wollte Adain Poole der Polizei seinen Namen verheimlichen? Wieso wusste er nicht wo seine Freundin wohnt? War er es vielleicht selbst und versucht nun seine Tat zu vertuschen? Wie sieht es mit Zoes Freunden aus? An sich war sie sehr beliebt, aber irgendwas scheint faul zu sein. Wieso hat Felix, ihr Vermieter und irgendwie auch Freund, einen Schlüssel für Zoes Wohnung und kennt bereits im Vorfeld jeden Ermittlungsschritt? Auch Victor empfindet etwas für Zoe und kann sich nicht immer zurückhalten. Und ihre recht labile Freundin Angeline? Oder Maeve, ihre ehemalige Mitbewohnerin, die auf Aidan ein Auge geworfen hat? Und was ist mit… Warum war … Wieso … Ach, lest es einfach selbst.

"Sie hatten es also mit drei ungelösten Fragen zu tun: drei Stunden nicht belegter Zeit, einer unbekannten Person, die vor Zoes Haustür gewartet hatte, sowie einer zweiten (oder möglicherweise derselben) unbekannten Person, die zwei Stunden vor dem Mord einen Streit mit Zoe gehabt hatte."

Ich muss nun zugeben ich habe mich sehr auf dieses Buch gefreut. Bereits im letzten Jahr habe ich Gytha Lodges Krimi "Bis ihr sie findet" mehr als gern gelesen und dieses Verwirrungsspiel zwischen den sechs ehemaligen Freunden und dem großen Rätsel, wer von ihnen nun verantwortlich für den Tod Auroras war, geliebt. Gerade durch das ständige Hin und Her, die Befragungen, die zwei Zeitebenen und die vielen Möglichkeiten konnte Lodge die Spannung bis zum Ende hin aufrecht erhalten und sie kam dabei so ganz ohne blutiges Gemetzel aus. (Falls jemand mehr wissen mag, hier geht's zur Rezension). So etwas ähnliches habe ich nun auch bei "Wer auf dich wartet", dem zweiten Fall für Detective Chief Inspector Jonah Sheens und sein Team erwartet. Und ja, es ist auch eine Art Fortsetzung, doch über die Ermittler und ihre angedeuteten Probleme aus dem ersten Band und das Privatleben erfährt man in diesem Teil nur sehr wenig. So betrachte ich dieses Buch nun eher losgelöst und fokussiere mich mehr auf den Fall. Zunächst fand ich die Idee hinter den über Skype beobachteten Einbruch und Mord an Adians Freundin sehr spannend und klug gemacht. Ähnlich das erneute Spiel mit den Möglichkeiten, die doch recht zahlreichen Tatverdächtigen und ihre Probleme scheinen Lodges Krimis auszuzeichnen. Doch dann machte sie einen kleinen Fehler oder ich konnte einfach eins und eins zusammenzählen und habe den Fall auf den ersten einhundert Seiten gelöst. Zumindest hatte ich recht schnell einen Verdacht und als dann ein gewisses Stichwort fiel war es für mich eindeutig. Lodge versucht zwar im weiteren Verlauf mehrere Möglichkeiten anzudeuten, Finten zu legen, das Geschehene etwas zu vertuschen und die Ermittler in verschiedene Richtungen zu schieben, aber es nutzte nichts. Ich kann nun sagen, ich habe dieses Buch gern gelesen und es hat vom Aufbau und Ermittlungsstil sehr viel Ähnlichkeit mit ersten Teil. Ihre Krimis sind toll und ich würde nun jedem, der mal etwas spannenderes ohne Gemetzel, blutrünstige Mordfälle, aber dafür mit vielen privaten Geschichten und Verstrickungen zwischen Freunden lesen möchte, diese Krimireihe in die Hand drücken. Ich hoffe jetzt nur, dass nicht jeder gleich auf Anhieb den Verdacht hat den Täter/die Täterin enttarnen zu können, aber selbst dann ist es wirklich noch sehr gut gemacht.

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