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Veröffentlicht am 26.07.2023

en typischer Seethaler

Das Café ohne Namen
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Robert Seethaler ist für mich sowas wie eine sichere Bank. Seit dem ich vor einigen Jahren „Ein ganzes Leben“ geschenkt bekam, freue ich mich eigentlich auf jedes neue Buch von ihm. Nicht immer kann er ...

Robert Seethaler ist für mich sowas wie eine sichere Bank. Seit dem ich vor einigen Jahren „Ein ganzes Leben“ geschenkt bekam, freue ich mich eigentlich auf jedes neue Buch von ihm. Nicht immer kann er meine Erwartungen voll und ganz erfüllen, liegt aber auch nie so ganz daneben. Seine Romane, eher ruhig, auf das menschlich Eigensinnige fokussiert, mal historisch interessant, mal eher neugierig philosophierend. Und so wanderte auch „Das Café ohne Namen“ auf meinen Lesestapel.

Es ist Spätsommer 1966 in Wien. Zeit des Umbruchs. „Überall knatterten, hämmerten und kreischten die Maschinen, und der Dampf über den frisch geteerten Straßen vermischte sich mit dem Duft der Praterwiesen und der herben, feuchten Luft, die der Wind von den Donauauen hertrieb.“ Simon, der nun schon seit geraumer Zeit als Gelegenheitsarbeiter auf dem Markt arbeitet, sah mit der Schließung des Marktcafés seine Chance gekommen. Ein eigenes Café, ein Ort der zufälligen Begegnungen und Geselligkeit, in dem die Menschen nach getaner Arbeit einkehren, Geschichten mitbringen, sich unterhalten, eine Auszeit von ihrem Leben mit sämtlichen Aufs und Abs nehmen oder gar die Liebe finden?.

Ich muss gestehen, es ist kein sonderlich aufregender oder spannender Roman, ich breche da auch nicht in Jubelschreie aus, fehlte mir doch hier und da etwas Nähe und Tiefgang und doch ist ist es so eine gewohnt ruhige Erzählart, die Bilder im Kopf entstehen lässt und von den stets verändernden Herausforderungen und Träumen der voranschreitenden Zeit berichtet. Der Zerfall und Aufbau. Das Ankommen und Loslassen. Das Zusammenkommen und Auseinanderdriften… alles zieht vorüber und verändert sich. In der Erinnerung erkenne ich dann selbst in den schattenartigen Figuren einen Sinn. Alles ist vergänglich und verblasst mit der Zeit, so wie auch das Café, das am Ende des Romans wieder schließen wird. Aber für die Zeit war es mehr als nur ein einfacher Ort. Es war ein Teil vom Leben. Und irgendwie mag ich gerade dies daran sehr gern.

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Veröffentlicht am 18.07.2023

Ein nettes Buch, nicht mehr, nicht weniger

22 Bahnen
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Irgendwie finde ich es immer spannend, wenn Bücher von vielen Menschen sehr gefeiert werden. Gerade „22 Bahnen“ von Caroline Wahl tauchte in der letzten Zeit recht häufig hier und da auf und sorgte für ...

Irgendwie finde ich es immer spannend, wenn Bücher von vielen Menschen sehr gefeiert werden. Gerade „22 Bahnen“ von Caroline Wahl tauchte in der letzten Zeit recht häufig hier und da auf und sorgte für regelrechte Lobeshymnen. Ich wünschte, ich könnte nun an dieser Stelle mit einsteigen, hat mich die Ausgangslage des Romans doch sehr neugierig gemacht… aber am Ende fragte ich mich dann eher andere Dinge. Bin ich dafür zu alt? Zu jung? Habe ich irgendwas überlesen? Nicht wahrgenommen? Liegt es an meinen Erfahrungen und Hintergründen? An vorherigen Lektüren? Was ist es, dass dieser Roman bei mir nun so gar nicht zünden wollte?
Eine überschaubare Kleinstadt, eine sowas von überhaupt nicht perfekte Familie. Tilda, die sich um ihre kleine Schwester Ida kümmern, für sie da sein, tagtäglich die Ausschreitungen der alkoholkranken Mutter aushalten und das Familiäre irgendwie lenken muss. Zeitgleich Tildas Traum von einem unbeschwerten Leben; ihr einziger Ort zum Abschalten… das Freibad… das klingt als Ausgangspunkt für einen Roman wirklich toll, aber die Geschichte zog sich schon sehr. Gefühlt wartete ich ewig darauf, dass irgendwas passiert und das Unglück an die Tür klopft, schließlich kann man bereits nach den ersten Seiten erahnen, dass es einen Kipppunkt mit der Mutter geben wird. Und auch der auftauchende Viktor, die Beziehungen zu den Freunden von damals… da mal ein interessanter Gedanke, etwas, das es zu verfolgen gilt… aber hmm, so wirklich vom Hocker gerissen hat es mich nicht. Im Buch selbst heißt es "Das sollte hier nie eine Liebesgeschichte werden. Das sollte wenn, dann Idas und meine, vor allem Idas Heldinnengeschichte werden, in der sich Ida von Mama befreit." Aber braucht es für Held*innen nicht auch ein mitreißendes Drama?
Oft musste ich beim Lesen an „Shuggie Bain“ von Douglas Stuart denken, ein Roman der mich in Hinblick auf das geschilderte Familiengefüge, den Absturz der Mutter und das damit verbundene Schicksal des Jungen Shuggie wirklich tief emotional getroffen hat und wo ich wirklich erstaunt war, wie er aus der ganzen Situation hervorging. Und dann blicke ich wieder auf diese Bahnen und finde es am Ende einfach nur nett. Nett, weil die enthaltende Liebesgeschichte nicht so schnulzig ist, die beiden Töchter sich irgendwie weiterentwickeln und… nein, kein und, ich glaube, das war’s schon.

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Veröffentlicht am 20.06.2023

Ein großer, weißer Fels, eine kleine, große Enttöuschung

Der weiße Fels
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Fast schon ein heiliger Pilgerort ist der weiße Fels vor der mexikanischen Küste im Laufe der Zeit geworden, einige Geschichten und Überlieferungen ranken sich um ihn und machen ihn zu einem bedeutsamen ...

Fast schon ein heiliger Pilgerort ist der weiße Fels vor der mexikanischen Küste im Laufe der Zeit geworden, einige Geschichten und Überlieferungen ranken sich um ihn und machen ihn zu einem bedeutsamen Zufluchtsort, einer Opferstätte und einen Punkt für den Neuanfang. Auch in Anna Hopes Roman "Der weiße Fels" bekommt eben jener riesige Stein eine zentrale Funktion. Er ist nicht nur ein "Ort an dem die Welt geboren wurde", er steht auch für den Aufbruch und als Symbol, bringt Menschen zum Umdenken, lenkt ihr Schicksal noch einmal in ganz andere Richtungen und vereint mehrere Schicksale miteinander...

"Du hast gesagt, du willst weg von hier, und da fiel mir ein Ort ein. Es gibt da einen weißen Felsen im Meer. Die Indios behaupten, dass dort die Welt geboren wurde. Sie machen Pilgerreisen dorthin. Der Ort ist wunderschön und wild. Ich glaube, er würde dir gefallen. Dies ist ein Geschenk. Durchtrenne deine Fesseln."

Ich persönlich weiß gar nicht, ob ich dieses Buch wirklich als Roman betiteln würde, macht die Geschichte aufgrund der Aufteilung und Unterteilung in einzelne Abschnitte, die in jeweils ganz anderen Zeiten spielen und bis auf den Felsen kaum miteinander zutun haben, aus ihm eher eine lose Sammlung von Erzählungen. Hope nähert sich dabei schrittweise dem Auftauchen des Felsens, reist mit ihren Figuren in der Zeit zurück um sich anschließend wieder langsam der Gegenwart zu nähern. Die Anwesenheit des Felsens, manchmal zufällig, manchmal als Zufluchtsort, immer präsent und irgendwie auch nicht. Die erste Schilderung einer Schriftstellerin, ihrem Mann und der dreijährigen Tochter, die sich mit ein paar anderen in einem Van langsam durchs zentrale und nordwestliche Mexiko bewegen und den Fels schlussendlich als Ziel ansteuern, hat mir durchaus noch sehr gefallen. Das Ausbrechen der Corona-Pandemie, die die Welt auf den Kopf stellt, gar zusammenbrechen lässt, während eine kleine Reisegruppe, abseits von allem sich langsam diesem heiligen Pilgerort nähert, dort Opfer erbringt, sowie einen Teil ihres Lebens mit all den Sorgen und Problemen zurücklassen möchte und zeitgleich sich dem Neuen zuwenden will, fand ich gedanklich sehr spannend, hatte es doch irgendwie so etwas greif- und nachfühlbares im Kontrast zur überfordernden Welt. Die Bedeutung des Felsens und die Mythen werden hier bereits herausgearbeitet und das macht wirklich Lust auf mehr. So erzählt die Schriftstellerin z.B. von ihren Recherche, die sie kurz vor der Reise noch erledigte. "Der Ort war nicht nur ein Heiligtum der Wixárika, sondern hatte den spanischen Kolonialmächten im achtzehnten Jahrhundert als wichtiger Außenposten gedient; von seinem Hafen liefen ihre Schiffe aus, um Kalifornien und den nördlichen Pazifik zu erobern. Das Schiff, das im Jahr 1775 die ersten Europäer in die Bucht von San Francisco gebracht hatte, war hier gestartet." "Sie erzählte den Männern auch, dass der Hafen das unfreiwillige Ziel Tausender Yoemem gewesen war, die Porfirio Díaz Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts aus Sonora deportieren ließ.[...] In Guaymas wurden Tausende Männer und Frauen, Kinder und alte Menschen auf Bote gepfercht und ins drei Tage südlich gelegene Nayarit gebracht, wo sie in Sichtweite des weißen Felsens an Land gingen." "Im Jahr 1969 hatte ein fünfundzwanzigjähriger Sänger ein Wochenende dort verbracht. Zwei Jahre später, 1971, würde man ihn tot in einer Badewanne in Paris auffinden, geflohen vor sich selbst, vor dem Gesetz und vor einem Amerika, das durch den Vietnamkrieg immer finstere und verstörender wurde..."

In den weiteren Kapiteln erzählt Hope von genau diesen Menschen, ihrem Leid und ihren Geschichten und da, muss ich leider sagen, hat sie mich dann auch langsam verloren. Die Geschichten um den Sänger, der seinen Kummer und die Gedanken in Alkohol ertränkt und dann Bekanntschaft mit einem Jungen macht, der ihn unbedingt ins nächste Dorf führen will, die zwei Mädchen des indigenen Yoeme-Stamms, die dorthin verschleppt werden und der Leutnant, der hier mit seinem Schiff in See stechen möchte, sie alle haben mich emotional kaum noch berührt oder mitgerissen. Die zusätzliche Teilung der jeweiligen Erzählung in zwei Abschnitte machte es für mich dann auch nicht gerade interessanter, eher verstärkte sie das schwindende Interesse, sodass ich mich am Ende dann fast schon fragen musste, warum ich dieses Buch eigentlich lesen wollte. Eigentlich mag ich bei diesem Buch auch gar nicht so nörgelig sein, war es vielleicht für mich einfach nicht das mitreißende Thema, das ich mir anfangs noch ausmalte, aber mir fällt leider auch nur wenig Positives ein. The Guardian sprach von einem "Lesevergnügen" und, ich glaube, wenn man sehr geschichtsträchtige Orte liebt, sich auch gerne mal durch trockener Texte kämpft und sich den Erlebnissen drum herum nähern mag oder ein Fan von Jim Morisson ist/war, ist dies wirklich ein interessanter Blick, aber für mich hat da zum großen Vergnügen doch so einiges gefehlt.

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Veröffentlicht am 15.06.2023

Über das Schreiben, das Leben, die Veränderung...

Wir hätten uns alles gesagt
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An dieser Stelle könnte ich mich kurz fassen, denn seit dem ich Judith Hermann bei einer Lesung zu ihrem Roman "Daheim" erlebt habe, bin ich ein großer Fan. Einige Gedanken über das Schreiben und sie als ...

An dieser Stelle könnte ich mich kurz fassen, denn seit dem ich Judith Hermann bei einer Lesung zu ihrem Roman "Daheim" erlebt habe, bin ich ein großer Fan. Einige Gedanken über das Schreiben und sie als Person begleiten mich seit dem und haben mir einen anderen Blick auf Literatur gegeben. Und so ist "Wir hätten uns alles gesagt" für mich mal wieder ein ganz besonderes Buch. In ihm habe ich sehr viel von dem, was sie damals schon berichtete, wiedergefunden. Hermann erzählt teilweise sehr persönlich von ihrem Schreiben, Leben und ihren Romanen. Ich würde gar sagen, dass dieses Buch eine Art Klammer um ihre literarische Arbeit bildet und uns Leser*innen mit durch die Zeit nimmt, animiert noch einmal "Lettipark", "Sommerhaus, später", "Aller Liebe Anfang", "Alice", "Nichts als Gespenster", sowie "Daheim" aus dem Regal zu ziehen, darin zu blättern und teilweise einzelne Passagen mit einem ganz anderen Blick zu entdecken. "Ich kann leichter über dieses und jenes schreiben, wenn es zu Ende gegangen ist, wenn ich weiß, dass es zu Ende gehen wird. [...] In >Sommerhaus, später< habe ich geschrieben, Glück sei immer der Moment davor. Heute würde ich schreiben, Glück ist immer der Moment danach - der Moment, in dem du das vermeintliche Glück überstanden hast [...]Glück als solches erkannt und wieder verloren, losgelassen und verworfen hast. Das [...] ist es, wohin ich schreibend gelangt bin, und sicher meint das, ob davor oder danach, letztlich schlicht ein und dasselbe." Mit der Zeit ändert sich vieles, nicht nur der Umgang mit dem Leben, auch die Gedanken werden größer und tiefer, so entwickeln sich auch Hermanns Ansichten über Freundschaft, Freiheit, den Möglichkeiten des Schreibens und vielleicht sogar der Selbstverwirklichung. Ihre Beziehung zu ihrer Familie, einer früheren Freundin Ada und Dr. Dreehüs, dem Analytiker, spielen hier eine große Rolle, ähnlich weitere Begegnungen und Situationen, in denen sie gewachsen und vorangekommen ist, die vielleicht. sogar ihr Leben geprägt haben. Es ist ein sehr ehrliches Buch und doch hält sie nach wie vor eine gewisse Magie das Ungewissen aufrecht, ein Zauber, der mich mal wieder sehr fasziniert und neugierig machte und ich hoffe, dass dieses Buch nicht das letzte ist, das aus ihrer Feder stammt.

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Veröffentlicht am 13.06.2023

ein wilder Ritt durch ein halbes Jahrhundert der Geschichte voller Leid, Hoffnung und Liebe

Morgen und für immer
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Ich muss gestehen, optisch sieht der Roman "Morgen und für immer" von Ermal Meta (n der Übersetzung von Peter Klöss) etwas harmlos und nach einer eher leichten Erzählung rund um eine geheimnisvolle Suche ...

Ich muss gestehen, optisch sieht der Roman "Morgen und für immer" von Ermal Meta (n der Übersetzung von Peter Klöss) etwas harmlos und nach einer eher leichten Erzählung rund um eine geheimnisvolle Suche oder nach einer dörflichen Familiengeschichte aus, aber hinter den Brombeeren steckt einer der tollsten und bewegendsten Romane, die ich seit langem gelesen habe. #Brilkavibes sage ich da nur. Diese fulminante Geschichte, die teilweise einem nervenaufreibenden Kriminalroman gleicht, viel über die düstere Geschichte Albaniens und die kommunistisch geprägten Länder erzählt und mit Kajan einen so faszinierenden Charakter und Protagonisten gefunden hat, hat eine so unglaubliche Sogwirkung entwickelt, dass ich nur in großen Liebeshymnen darüber sprechen mag. Es ist ein reines Auf und Ab aus Liebe, Musik und Verzicht, Finden und Glück, aber auch Pech, Verlust und Verrat, mal ganz nah und emotional, mal düster, erschütternd und gewaltig, so wie im Laufe der Zeit durch Krieg, Unterwerfung, Politik und Umbrüche das Schicksal und Leben vieler Menschen komplett auf den Kopf gestellt wurde.


“Der Krieg entsteht zuerst in einigen wenigen Köpfen, dann in vielen Köpfen, von den Köpfen wandert er in die Hände und Beine und von dort in die Augen. Und dort, in den Augen, bleibt er, auch nachdem er vorbei ist. Halte dich vom Krieg fern, Kajan, sieh nie hin, der Krieg ist furchtbar. Ich weiß, wovon ich rede.”


Diese Geschichte beginnt 1943 in Rragam einem kleinen Bergdorf in Albanien. Kajan und sein Großvater sprechen über den Krieg, der draußen um sie herum herrscht. Seit dem Kajans Eltern sich der Verteidigung gegenüber den deutschen Besatzern verschrieben haben, kümmert sich Betim auf dem eher abgelegenen Hof um seinen Enkel. Aber die traute Zweisamkeit soll nicht von langer Dauer sein. Eines Tages taucht ein von oben bis unten mit Dreck besudelter deutscher Soldat auf dem Gelände auf. Sie fürchten ihn. Doch dieser möchte sie ganz und gar nicht bedrohen oder angreifen, er ist selbst auf der Flucht und sucht nach Schutz, verabscheut er doch seit seinem Einzug und dem Tod seiner Liebsten alles, was auch nur im entferntesten mit Gewalt zutun hat. Nach anfänglicher Skepsis findet Betim in ihm eine Art Sohn, sie überwinden die Sprachgrenzen, bewirtschaften gemeinsam den Hof und auch Kajan lernt neben Deutsch von ihm etwas, das ihn noch sein ganzes Leben über begleiten wird... das Klavierspielen.


Albanien entwickelte sich nach dem Befreiungskrieg zu einem kommunistisch geprägten Regime, dessen Dogmen und harten Regeln sich alle bedingungslos unterzuordnen haben. Während Kajans Mutter sehr linientreu ist und einen sehr wichtigen Posten innerhalb der Partei, sowie des Staatsapparats übernimmt und perfekt in diese Rolle hineinwächst, rebellieren ausgerechnet seine Cousins mit geheimen Untergrundaktionen und bringen sich und ihre Familie in die Schusslinie. Und auch Kajan wird sich im Laufe der Zeit mehrfach gegen die Regierung auflehnen. Als mittlerweile berühmter Pianist und Aushängeschild Albaniens beschreitet er einen sehr schmalen Grat, sind es doch gerade die Künstler, die mittlerweile von vielen Regimen der Welt sehr kritisch beäugt und als Freidenker und somit auch als Gefahr angesehen werden. Schon seine Liebe zu Elizabeta, der Tochter eines Verräters und Regimekritikers, sorgte daheim für Gerede und stieß seiner Mutter negativ auf. Und während eines Besuchs in der DDR bringen ihn ausgerechnet sein sächselndes Deutsch und seine Neugier in eine sehr missliche Lage. Fast schon zufällig kommt es zur Flucht über die innerdeutsche Grenze nach Westberlin und letztendlich in die USA. Hier versucht Kajan sich erneut ein Leben als Musiker aufzubauen, doch die Erinnerungen und Gedanken an Elizabeta, seine Familie und alles Geschehene lassen ihn nie mehr los. Er versucht die Stimmen in seinem Kopf mit Alkohol zu ertränken, das Trauma irgendwie abzuschütteln, doch auch das ist ein steter Kampf mit dem Feuer. Und dann schreitet ausgerechnet das Schicksal wieder ein und bringt ihn an einen Ort, an dem er nicht nur Vergebung sucht, sondern auch etwas findet, das er schon lange als verloren glaubte.


“Er wusste weder, wie er zurückgehen sollte, ohne das schreckliche Schicksal der Verräter zu erleiden, noch, wie er weitermachen sollte, ohne das Schicksal der Unsichtbaren zu erleiden. Er wusste nicht, wann er Kajan Dervishi Lebewohl sagen musste, aber wenn er auf die Ereignisse der letzten Wochen zurückblickte, war ihm klar, dass von dem alten Kajan sowieso nicht mehr viel übrig war. [...] Immerhin bot sich ihm ein neues Leben, doch er wusste, dass für diese Chance Tausende Kilometer entfernt der einzige Mensch, den er noch auf der Welt hatte, schrecklich würde bezahlen müssen.”


Es ist nicht so einfach diesen Roman in ein paar Sätzen zusammenzufassen, passiert neben diesem Grundgerüst doch noch so viel mehr. Sehr viel dramatisches. Es ist eine epische Saga über die Liebe, aber auch die Geschichte einer Familie, die nicht nur durch die politischen Ansichten und den Krieg gespalten, sondern auf allen Seiten sehr viel Leid, Verluste und Trauer erfahren muss. Es ist die Geschichte eines Landes voller Umbrüche, ein Leben voller Schwierigkeiten. Die Macht der Musik und Passion spielt eine große Rolle, ebenso wie das Schicksal selbst. Fast schon krimiartig kommt es an einigen Stellen zu Verfolgungsjagden; dem Nachspüren von Geheimnissen. Dieser Roman entwickelt sich ganz schnell zu einem vollgepackten Pageturner, der voller Emotionen und mit wenig Anlauf Länder- und Genregrenzen überspringt und von so einem beeindruckenden Leben erzählt, dass es nur fiktiv und auf die Spitze getrieben sein kann. Oder etwa nicht? Ermal Meta bekam diese unglaubliche Geschichte von seinen Verwandten erzählt, einzelne Bilder, der frühe Tod der Großmutter oder die gebrochenen Schienbeine des Onkels zeugen noch heute von der Brutalität der Vergangenheit, die dunklen Straßen seines Heimatorts von dem Wunsch junger Menschen das Land zu verlassen, Ermal Metas eigene Beziehung zur Musik und insbesondere zum Klavier von der Grenzen überschreitenden klassischen Musik und von Kajan. "Ich begegnete Kajan in meiner Vergangenheit und in meiner Zukunft. Ich begegnete ihm in einem Brombeerhain, wo er seine Angst gegen Mut eintauschte. Ich fand ihn jedes Mal in mir wenn ich fiel. Ich hörte eine Stimme sagen: >Es gibt noch einen Traum zu träumen.< Ich bin ihm begegnet, aber er hat mich erkannt."
Für mich eine große Entdeckung, eine überraschend große und mitreißende Geschichte, die man erstmal angelesen, nicht mehr verlassen kann und irgendwie noch so viel mehr... "Morgen und für immer".

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