Vom Schreiben und Nichtschreiben
Gerade erst kommentierte dachte ich, wie sehr Autofiktion/Autobiografisches mich derzeit ermüdet. Der Blick nach innen, diese offensichtliche Nabelschau ist mir gerade oft zu eintönig, hat zu wenig mit ...
Gerade erst kommentierte dachte ich, wie sehr Autofiktion/Autobiografisches mich derzeit ermüdet. Der Blick nach innen, diese offensichtliche Nabelschau ist mir gerade oft zu eintönig, hat zu wenig mit mir selbst, meinem Leben zu tun; ich entdecke weniger für mich Interessantes je mehr ich davon lese, alles verschwimmt und driftet an mir vorbei. Und dann lese ich Judith Hermanns neues Buch „Wir hätten uns alles gesagt“ und hatte (zum Glück) absolut keine Ahnung, dass es so persönlich ist, und bin einfach nur beglückt und entzückt.
„Jede Entscheidung für einen Satz ist eine Entscheidung gegen unzählige andere Sätze. Jede Entscheidung für eine Geschichte schlägt unzählige andere Geschichten aus. Ein Wort vernichtet ein anderes Wort. Schreiben heißt auslöschen.“ S. 19
Judith Hermann erzählt vom Schreiben und, fast noch mehr, vom Nichtschreiben, vom Weglassen, von den Gespenstern, immer nah am eigenen Leben entlang. Von Familie und Wahlfamilie erzählt sie, von ihrer Kindheit in Berlin mit den Eltern und der russischen Großmutter, einer Kindheit voller Rätsel und Ungewissheiten, unberechenbar und fragil, voll von Leerstellen. Vielleicht begann das Kind Judith ganz genau hier, in dieser Zeit des Alleinseins, zwischen den Zeilen zu begreifen, sensibel für die Leerstellen zwischen den Menschen zu werden, sie zu erkennen, die ungeheure Kraft des Verschweigens. Und vielleicht sind es genau diese Leerstellen in ihren Texten, die mir Raum geben, mich wie magisch anziehen, einladen eigene Gedanken beizusteuern. Die Vergänglichkeit und Gelassenheit atmen, nostalgische Gefühle wecken, eine tröstliche Sehnsucht. Ich schlüpfe in ihre Sätze hinein, mache sie mir zu eigen, beschwöre die Erinnerungen an meine eigene Kindheit und die meiner Kinder herauf, die Vergangenheit. Das vergangene Leben annehmen, sich versöhnen, loslassen. Innehalten. Stille.
„Sie sagte, du kannst ja wiederkommen, ein Trost, den ich damals nicht begriff. Aber heute, in meinem zweiundfünfzigsten Jahr, begreife ich ihn. Wie lange manche Dinge brauchen, bis sie dich erreichen.“ S. 86