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Veröffentlicht am 22.05.2023

Trude Teige über die Schmerzen der Vergangenheit und eine Großmutter, die im Regen tanzte

Als Großmutter im Regen tanzte
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Es gibt viele Bücher über den Krieg, das Geschehen an der Front, die Schicksalsfälle und schrecklichen Erlebnisse der Menschen, während sie um ihr Leben bangen und sich durch schwierigste Umstände kämpfen. ...

Es gibt viele Bücher über den Krieg, das Geschehen an der Front, die Schicksalsfälle und schrecklichen Erlebnisse der Menschen, während sie um ihr Leben bangen und sich durch schwierigste Umstände kämpfen. Seltener sind Geschichten und Überlieferungen über die Zeit danach, die Zeit des Umbruchs und Wiederaufbaus. Trude Teige beschäftigt sich in ihrem Roman "Als Großmutter im Regen tanzte" mit dem Schicksal der sogenannten "Deutschenmädchen" - Frauen, die sich im Ausland in dort stationierte deutsche Soldaten verliebten - sowie den Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs, dem was nach der Aufgabe Deutschlands überhaupt noch übrig blieb und wie es weiter ging. Doch der Weg dahin ist etwas "steinig". Wir lernen zunächst Juni kennen, die in das ehemalige Haus der Großeltern auf einer kleinen, abgelegenen Insel Norwegens zieht. Sie flüchtet vor so einigen Problemen bzw. vor ihrem Mann, der sie schlägt, trinkt, ausfallend wird und sie zu allem Übel auch noch geschwängert hat. Sie möchte weder das Kind, noch zu ihm zurück und sieht hier den perfekten Ort um sich eine Auszeit nehmen, neu anzukommen und sich selbst (wieder-)zufinden. Doch sie entdeckt noch viel mehr, denn neben Staub und kleineren Schäden lauern hier sehr viele Erinnerungen. Juni sieht sich schnell mit offengebliebenen Fragen an ihre Großeltern konfrontiert, die plötzlich ein viel größeres Gewicht zu haben scheinen. Gefundene Fotos und Briefe weisen Ungereimtheiten auf und einen Mann an der Seite ihrer Großmutter, den sie vorher noch nie gesehen hat.

"Auf der Stirn hatte sie horizontale Furchen, und die lange Nabe, die sich vom Nasenflügel bis zm Ohr quer über die Wange zog, trat deutlicher hervor. Ich habe sie einmal gefragt, woher diese Narbe stamme, aber sie sagte nur, sie könne sich nicht erinnern, das sei alles so lange her."

Aber vielleicht wollte sie sich auch einfach nicht mehr erinnern, denn gerade mit dieser Narbe begann eine der schwersten und tragischsten Zeiten in ihrem Leben. Als junge Frau begegnete Tekla einem deutschen Soldaten, in den sie sich sofort verliebte. Doch das sahen weder ihre Eltern, noch die Menschen aus der Gegend gern. Der Deutsche, der Feind, wie konnte sie nur? Bei einem Ausritt kam es dann so weit, dass sie von anderen aufgehalten, ihrer langen Haare beraubt und als Deutschenmädchen, als Hure und Verräterin brutalst gekennzeichnet wurde. Sie war hier unerwünscht. Und so kam es, dass sie übereilt mit Otto nach Deutschland zurückkehrte, ihre Familie und alles, was sie besaß, hinter sich ließ und ihn heiratete um gemeinsam mit ihm ein neues Leben aufzubauen. Er erzählte ihr häufig vom Hof seiner Eltern, ihren Pferden und dem kleinen Ort Demmin, in dem er zuhause war. Sie malte es sich so schön aus, doch der Krieg hatte nicht viel übrig gelassen. "Demmin hat vor den Russen kapituliert, als sie kamen [...] Die Stadt ist aber trotzdem zerstört worden.", es kam zu Plünderungen, Massenvergewaltigungen und Massenmorde. Viele Familien zog es, beschwert mit Steinen, in einen der angrenzenden Flüsse, wenn sie nicht schon im Krieg starben, erhängten oder vergifteten sich nun aus Angst vor der Roten Armee. Aber nicht nur das, die Russen zündeten die Stadt an und besetzten Häuser. So, wie auch den ersehnten Hof der Familie Adler...

"Nichts, wovon ich geträumt habe, wird jemals in Erfüllung gehen, dachte sie. Otto hat nicht nur die Menschen verloren, die ihm wichtig waren, er hat alles verloren. Er hat jetzt nur noch mich."

An sich finde ich diesen Roman nicht nur sehr beeindruckend, sondern auch wahnsinnig faszinierend. Trude Teige widmet sich einer sehr spannenden Liebes- und Familiengeschichte, sowie Nachkriegsgeschichte und deren Folgen bis in die Gegenwart. Die Protagonistin Juni versucht dem Unausgesprochenen ihrer Familie auf die Spur zu kommen und folgt aufgrund einiger gefundener Schriftstücke und Fotos dem einstigen Weg ihrer Großmutter Tekla von Norwegen nach Deutschland. Ja, die Ausgangslage ist nicht ganz neu und dennoch mochte ich die Entwicklung dieses Romans recht gern. Was mir dabei besonders gefiel, ist dass Trude Teige sich über die Grenzen hinaus mit dem Schicksal der Norwegendeutschen und dem Geschehen der sehr düsteren, tragischen Nachkriegszeit in der Kleinstadt Demmin, auseinandersetzt, ohne zu viele fragwürdige und massiv überzogene Handlungen einzufügen. Vielleicht ist die Geschichte im weiteren Verlauf um die Liebe zwischen Tekla und dem deutschen Soldaten Otto Adler etwas auf die Spitze getrieben, dennoch gab es in und um Demmin sehr viel Leid, Tod, Vergewaltigungen und Enteignungen - ein Schicksal einer Stadt und größten Verlierer des Krieges, das viel zu lange verschwiegen wurde und dessen Schatten sich bis heute hält. Die beschriebenen Szenen setzen setzen sich dabei aus vielen realen Vorfällen und Geschichten zusammen, die Trude Teige auf ihrer Recherche durch Demmin und Berlin sammelte. Und so kam eine sehr intensiv, tragische Geschichte heraus, die das Leid der Frauen von damals aufgreift und in einem weiteren Erzählstrang einen Fokus auf die heutige Sicht und Überlieferungen lenkt.
Allerdings machte mich die Klammer/das Setting aus der schwangeren Krankenschwester, die vor ihrem gewalttätigen Mann flieht und ausgerechnet auf der Insel, auf der sie wieder zu sich finden möchte, einen Mann kennenlernt, der sie ermutigt auf Spurensuche zu gehen und zwischen denen sich irgendwie etwas anbahnt und der sie verteidigt, nicht ganz so glücklich. Wahrscheinlich wäre der Roman auch ganz gut ohne diesen Teil ausgekommen. Die Vermischung von Fakten und Fiktion, die Empfindungen beim Lesen, die Sogwirkung und das Gefühl sich der Geschichte noch einmal neu zu nähern, fand ich wirklich beeindruckend.
"Der Regen ist der Applaus des Lebens, hatte meine Großmutter immer gesagt.", sobald sie im Regen durch den Garten tanzte... und irgendwie muss ich bei jedem Regenschauer nun auch ein bisschen an diese eindrucksvolle Geschichte denken.

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Veröffentlicht am 14.05.2023

Heidi Furres eindringlicher Roman über die Auswirkungen einer Vergewaltigung

Macht
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Man möchte es sich eigentlich gar nicht vorstellen müssen, was eine Vergewaltigung mit dem eigenen Leben macht, wie eine fremdbestimmte Tat plötzlich das ganze Leben prägt und beeinflusst und doch ist ...

Man möchte es sich eigentlich gar nicht vorstellen müssen, was eine Vergewaltigung mit dem eigenen Leben macht, wie eine fremdbestimmte Tat plötzlich das ganze Leben prägt und beeinflusst und doch ist es ein Fakt, dass allein in Norwegen jede 10. Frau Opfer einer Vergewaltigung ist/wird. Jede Zehnte. Und wenn man das hochrechnet, auf andere Länder überträgt, in denen es vielleicht sogar noch schlimmer ist und die Dunkelziffer immens, bleiben einem fast schon die Worte im Hals stecken. Schon der Gedanke daran betrübt und lähmt mich, und gefühlt könnte ich dazu wirklich nichts sinnvolles beitragen, noch schlaues sagen. Umso glücklicher bin ich, dass es dann so Bücher wie "Macht" von Heidi Furre [aus dem Norwegischen von Karoline Hippe] gibt. In ihm erfahren die Leserinnen sehr eindrucksvoll und intensiv, wie es ist mit diesem Trauma zu leben, gar zu überleben und mit welchen Gedanken und Triggern sich Betroffene ständig auseinandersetzen müssen.


“Meine Mauer besteht nicht nur aus Tabletten. Sie besteht aus Ritualen und Regeln. Meine Klamotten sind ein Panzer. Wie bei Kindern, die sich als Piraten, Prinzessinnen und Feuerwehrleute verkleiden. Sie verkleiden sich um keine Kinder mehr zu sein, so wie ich mich verkleide, um keine Vergewaltigte mehr zu sein. Ich bügle meine Blusen und reinige meine Haut. Das ist mein Überlebensmodus. Der Körper weiß, was passiert ist, und kann es nicht verbergen. Man kann es mir ansehen. Und ich sehe es anderen an.”


Auf den ersten Blick scheint Liv ein gutes Leben zu führen. Sie lebt gemeinsam mit ihrem Mann Terje und ihren Kindern Rosa und Johannes in einem Einfamilienhaus in Oslo, wirkt gut situiert, achtet auf sich und ihr Erscheinungsbild. Sie arbeitet in einem Pflegeheim und kümmert sich dort hauptsächlich um die jüngeren, kranken Patienten. Und das scheint sie wirklich gut im Griff zu haben, aber eben nur äußerlich. Innerlich ist nichts mehr wie es einmal war. Seit dieser einen Nacht versucht sie den Schein aufrecht zu halten und doch bricht es immer wieder aus ihr heraus. Sie hat versucht die Erinnerungen wegzusperren, sich zu betäuben, auszuweichen, gar mit Rachegedanken gespielt und doch egal was sie tut, muss sie es nach wie vor aushalten in der Hoffnung irgendwann einen Weg zu finden damit umzugehen. Vielleicht würde sie es sogar schaffen, doch als der Bruder einer Patientin, der vor Jahren wegen einer Vergewaltigung angeklagt wurde, ihr über den Weg läuft, steht sie plötzlich noch einmal vor einer ganz anderen Herausforderung... "Macht" zeigt sehr eindrucksvoll ihren Weg oder besser gesagt ihren Versuch der Ermächtigung, ihren Kampf mit ihrem neuen, alten Leben und legt eine ungeahnte Stärke frei, die doch viel zu häufig von Außenstehenden als Schwäche abgetan wird.

"Er ist so unbedeutend. Er ist nur diese eine Nacht. So, wie auch ich für ihn unbedeutend war. Das ist die einzige Rache, die mir bleibt. Er hat mich zum Objekt gemacht, also mache ich ihn zum Objekt. Zu einem Verbrecher und einem Kriminellen. Er ist entmenschlicht. Wenn ich an diese Nacht denke, dann meistens, ohne an ihn zu denken. Er ist ein graues Loch, das jemand in meine Erinnerung geschnitten hat."


Dieses Buch finde ich so wahnsinnig beeindruckend. Ich könnte beinahe das ganze Buch zitieren und würde noch immer weitere Gedanken darin finden. Heidi Furre hat teilweise sehr poetisch, aber auch sehr eindringlich beschrieben, wie das Leben sich durch eine Vergewaltigung, auch wenn man selbst an Einzelheiten zweifelt, verändert, wie Gegenden, Gegenstände und Gerüche... plötzlich einen viel größeren, bedeutsameren und betäubenderen Einfluss erhalten. Und obwohl ich recht häufig Romane mit Traumatabezug lese, so fand ich diesen Roman nochmal viel intensiver, umfangreicher und um einiges Augen öffnender. Zwar konnte ich mir bereits vorstellen, wie einem Menschen durch so eine Tat plötzlich die Sicherheit geraubt wird, wie er
sie versucht sich zu schützen und in ein großes Loch stürzt, gar verschwinden möchte, doch gerade so Aussagen wie: "Du glaubst vielleicht, ich sei ein kaputter Mensch. Dass ich hier einfach rumliege und eine Vergewaltigte bin. Aber das bin ich nicht. Ich bin alles andere. Das Leben bleibt für Vergewaltigte nicht stehen." oder "Wenn du sagst, du bist vergewaltigt worden, dann bist du das in den Augen der anderen auch. Und wenn du es nicht sagst, dann stehst du ganz alleine da. Es ist eine Falle." enthalten so Gedanken, die viel größeres bedeuten (wollen). Für Liv ist es ein ständiger Kampf der Opferrolle zu entkommen, sich selbst wieder zu ermächtigen und sich als starke Frau sehen und fühlen zu können. Doch seit dieser Nacht fühlt sie sich wie ein Kind, das ständig eine Rolle spielen muss, unsicher durchs Leben geht und selbst an einfachen Situationen, wie einem Zahnarztbesuch fast scheitert. Und gerade diese ganzen Ausprägungen sind einem als Außenstehenden nie wirklich präsent. Ein Stück Wald, ein unbeleuchteter Tunnel, ein plötzlich auftauchender Duft, eine unbedachte Handlung eines anderen... alles kann das mühevoll zugeschüttete Loch wieder aufreißen und das beinahe tagtäglich, wenn nicht sogar noch viel häufiger.
Dieses Buch sensibilisiert und macht verständlich wie es ist mit einem Trauma leben zu müssen, für das eigene Leben zu kämpfen, während es für andere unbedeutend erscheint. Und eine jeder sucht sich andere Ausflüchte, wird anders getroffen, muss sich anderen Dämonen stellen. Es ist ein wichtiges Buch um vielleicht auch toleranter und verständnisvoller mit und für Menschen zu werden. Sicherlich kein Allerheilmittel und dennoch macht dieser Roman was mit einem, ich glaube zumindest, ich habe zum ersten Mal ein (fremdes/anderes) Trauma so wirklich gefühlt und verstanden.


“Manchmal ist es schlimmer zu sagen, ich bin vergewaltigt worden, als tatsächlich vergewaltigt zu werden. Als würde man eine Todesnachricht überbringen. Man muss dabei zusehen, wie die anderen mit Abscheu reagieren. Für sie ist die Abscheu nur ein vorübergehendes Gefühl, etwas das sie ablegen können. Aber in mir hat sie einen festen Platz, wie ein inneres Organ.”

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Veröffentlicht am 14.05.2023

ein großer Roman über Väter und Söhne, den Aufstieg und Fall einer Familie und den Blick auf die deutsche Geschichte

Saubere Zeiten
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Hin und wieder liebe ich es mich in Form von Romanen und Filmen durch die deutsche Geschichte zu bewegen. Gerade die Zeit des Zweiten Weltkriegs, sowie die folgenden Neuausrichtungen des Landes finde ich ...

Hin und wieder liebe ich es mich in Form von Romanen und Filmen durch die deutsche Geschichte zu bewegen. Gerade die Zeit des Zweiten Weltkriegs, sowie die folgenden Neuausrichtungen des Landes finde ich unglaublich faszinierend und sehe in ihnen den Ausgangspunkt zahlreicher tragischer, aber auch schöner Familiengeschichten. Ein Buch, das mir in der letzten Zeit einiges abverlangt, aber auch sehr viel Begeisterung entlockt hat, ist "Saubere Zeiten" von Andreas Wunn. Grob gesagt durchstreift er dabei die Geschichte einer Familie über drei Generationen - von den Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs und der resultierenden Sprachlosigkeit, eingebrannten Erinnerungen, sowie dem Aufstieg und Fall zu Wirtschaftswunder-Zeiten und deren Prägungen und Folgen, auch für heutige Generationen.

Ein einziger Anruf sollte Jakob aus seinem journalistischen Alltag reißen. Sein Vater Hans wurde infolge eines Schlaganfalls ins Krankenhaus eingewiesen, doch trotz stabilen Zustands, sieht es schlecht um ihn aus. Jakob hatte nun schon seit einigen Monaten keinen Kontakt mehr zu ihm und sich geschworen, ihm bis auf weiteres aus dem Weg zu gehen, doch dies ändert nun alles. Er reist sofort an um bei seinem Vater zu sein, doch statt noch einmal mit ihm sprechen zu können und für ihn da zu sein, bleibt ihm nur noch der Abschied. Der Arzt drückt ihm nach einem kurzen Gespräch einen letzten Brief des Vaters in die Hand oder besser gesagt einen Zettel mit zwei kraftlos geschriebenen Worten: Drempel und Kiste. Und damit beginnt für Jakob eine Spurensuche, die ihm einiges erklären soll und wird, aber auch ein ganz neues Licht auf die Vergangenheit seiner Familie wirft. Sein Großvater Theodor, hatte einst sehr bescheiden als kleiner Drogist angefangen, bis er in den 50er Jahren durch die Erfindung das Waschpulvers ein sehr gefeierter Mann wurde. "Auber macht sauber", ein Slogan den bis heute nahezu jeder im Roman kennt und der der Familie sehr viel Vermögen einbrachte. Aber Aufstieg und Fall lagen nah beieinander, schon nach einigen Jahren verloren sie alles.

"...mein Vater ist wirklich sehr reich aufgewachsen. Sie haben in einer Villa gewohnt, er wurde mit dem Chauffeur zur Schule gefahren und so weiter. [...] Er war im Internat, und plötzlich war das Geld weg. Alles. Auch die Häuser, die auf den Namen meiner Großmutter eingetragen waren. Ich denke, mein Großvater hat sich verhoben. Er wollte Auber in Frankreich einführen. Hat investiert. Hat die Konkurrenz unterschätzt. Die Konkurrenz war plötzlich stärker, warum auch immer. Und er ging pleite, kam nie wieder auf einen grünen Zweig."

Mit den Tagebüchern des Großvaters und Tonbandaufnahmen des Vaters, sowie zahlreichen Fotos versucht Jakob nun der Geschichte seiner Familie nahe zu kommen und Lücken zu füllen - haben doch die Sprachlosigkeit des Großvaters, unter der schon Hans litt, die Schuld und die Unnahbarkeit seine Familie über Generationen hin sehr geprägt. Er findet in einzelnen Aufzeichnungen Hinweise, die ihn bis nach Rio de Janeiro führen und ausgerechnet hier, trifft Jakob die über 90 Jahre alte Bella Oliveira das Pedras, die ihm nicht nur einiges erklären kann, sondern auch eine Verbindung zu seiner Familie und Deutschland hat. Sie ist die Tochter des jüdischen Besitzers der einstigen Drogerie, in dem sein Großvater seine Lehre begann und damit das letzte fehlende Puzzleteil hinter dem Aufstieg und Fall des Familienimperiums Auber.


Ich weiß gar nicht, wie und wo ich beginnen soll, denn "Saubere Zeiten" von Andreas Wunn hat in mir sehr viel ausgelöst, sind die behandelten Themen doch irgendwie jedem bekannt und in jeder Familie still oder nach wie vor offensichtlich verankert. Die Zeit des Zweiten Weltkriegs hat nicht nur für sehr viel Leid und tragische Familiengeschichten gesorgt, sondern auch eine Wunde geschaffen, über die in den meisten Familien, selbst bis heute, kaum jemand so wirklich sprechen mag. Das Trauma des Krieges, des Fanatismus, der Auslöschung und Tötung, sowie des Verlustes ist nach wie vor etwas, das von den älteren Generationen, eben jenen, die es miterleben mussten, oftmals totgeschwiegen und die Vergangenheit wie durch eine hohe Mauer von allem ferngehalten und abgeschirmt wird - vielleicht weil das Geschehene so unglaublich schmerzhaft ist oder aber weil es schwer ist, ehrlich gegenüber sich selbst zu sein. Heutzutage verurteilt fast jede
r den Krieg, aber auf welcher Seite stand man damals wirklich? War man von allem überzeugt oder ein Mitläufer? Wusste man vielleicht sogar mehr, als man zugibt? Hat man früher überhaupt etwas hinterfragt? Sich irgendwie für die Unschuldigen eingesetzt? Oder hat man selbst durch die Enteignung vieler jüdischer Familien Gewinne und Wohlstand erzielt?
Wunns Protagonist bzw. Jakob Aubers Großvater Theodor wurde so plötzlich zum Drogeriebesitzer mit allem was dazugehörte. Dass er dennoch sein Vermögen und Ansehen der Erfindung des Waschpulvers zu verdanken hatte, war dabei irgendwie nur zweitrangig und der spätere Verlust seines Reichtums vielleicht sogar die beste Fortsetzung? Zumindest fragte ich mich während des Lesens häufig, wie wohl alles gekommen wäre, hätte es den Krieg nicht gegeben, hätte es den Judenhass nicht gegeben und wie man mit diesem gewonnenen Vermögen fragwürdigen Ursprunges heute umgehen könnte? Und wie hätte sich wohl die Welt entwickelt, wäre das alles nie passiert? Wären wir heute als Familien vielleicht sogar offener und toleranter?

"Theodor Auber erzählte seiner Familie nie von dem, was er im Krieg erlebt hatte. Seine Frau und sein Sohn fragten nicht. Es wurde nicht darüber gesprochen. Er hatte Alpträume, das schon. Wenn er nachts aufwachte, hielt ihn seine Frau, meine Großmutter, im Arm. Aber sie fragte ihn nichts. Sie bemerkte, dass er Angst vor Regen hatte. Dass er sich in der Wanne mit dem Waschlappen die Haut wund schrubbte. Er sagte ihr nicht, dass er den Geruch von kaltem Schlamm nicht aus der Nase bekam. Das schrieb er aber in sein Tagebuch."

Ein weiteres großes Thema, das mir gerade zum Ende hin zu schaffen machte, war die Einsamkeit. Jakob pflegte schon lange keinen Kontakt mehr zu seinem Vater und dieser starb mehr oder minder einsam im Krankenhaus. Was er so genau in den letzten Jahren getan hat und wie er sein Rentenalter verbracht hat, bleibt anscheinend sein Geheimnis, so wie vieles andere auch. Von seinem Besitz und seinen aufbewahrten Erinnerungen, bleibt am Ende gerade mal ein Koffer übrig. Jakobs Vater suchte sich die Tonbänder, das 'Zimmer der Erinnerungen' als eine Art Ausweg um sich noch einmal alles von der Seele zu reden und so seinem Sohn vieles zu erklären und nahbarer zu machen, doch irgendwie ist es dann auch schon zu spät. "Ich war elf Jahre alt, als mein Großvater starb. Ich war einunddreißig, als meine Großmutter starb. Ich war vierundvierzig, als mein Vater starb. Warum habe ich mit ihnen so wenig über die Vergangenheit gesprochen?" fragt sich Wunn in den Anmerkungen. Man merkt diesem Buch stark an, dass ihn diese Frage sehr intensiv beschäftigt hat. Und ja, auch ich könnte mich das fragen. Du wahrscheinlich auch.
Wunn zeigt in diesem Roman wirklich sehr eindrucksvoll aus verschiedenen Blickwinkeln und Generationen einer Familie, was geschehen kann, wenn man nichts fragt bzw. Fragen nicht beantwortet werden und wie eine Familie durch die Sprachlosigkeit, die Geschichte und den Tod auseinanderfällt. Jakob fällt es schwer Liebe und Nähe zuzulassen, sich selbst wahrzunehmen und in sich reinzuhören. Und so kriselt es in seiner Ehe aus ähnlichen Gründen, wie bereits in den vorherigen Generationen. Am Ende macht er sich allein auf den Weg, um dem Geheimnis seiner Familie näher zu kommen, um die 90 -jährige Bella, Tochter des ehemaligen jüdischen Drogeriebesitzers, ausfindig zu machen und endlich Antworten auf Fragen zu finden... aber auch das hätte schon viel früher geschehen können.

"Alles, was wir tun, und alles, was wir sehen, und alles, was wir hören, ist in unserem Körper. Das Leid und die Freude. Die Liebe und das Glück. Und auch das Grauen. Es ist alles in uns drin. Es bleibt alles in uns drin. Und wir müssen lernen, damit umzugehen. Und auch mal was rauszulassen."

Auch wenn die Ausgangssituation eines sterbenden Verwandten und unausgesprochene Geheimnisse, die mit dem Verlust ans Tageslicht kommen nicht sonderlich neu ist, hat Wunn hier eine Geschichte erschaffen, die sehr intensiv daherkommt. Wunn beteuert zwar in seiner Anmerkung, dass diese Geschichte bis auf einzelne Fakten, die seinen Großvater und die Erfindung des Waschmittels betreffen, rein fiktiv ist und dennoch bleibt er seiner journalistischen Rolle treu, nimmt die Leser*innen mittels Jakobs Recherche, Tonbandaufnahmen und Tagebucheinträgen mit auf eine sehr nahbare Entdeckungsreise durch die Familiengeschichte der Aubers und erschafft damit den Eindruck, als könnte es wirklich seine eigene Spurensuche gewesen sein. Einzig die sehr detaillierten Ausschmückungen und Handlungen ließen mich anfangs nicht immer an das Nacherzählen dieser Aufnahmen glauben, aber ohne diesen Gedanken hat mich die Handlung wirklich gepackt. Es handelt sich bei "Saubere Zeiten" um einen großen, einnehmenden Roman über eine Familie, die in Zeiten des deutschen Wirtschaftswunders Aufstieg und Fall erlebt, mit vielen Verlusten umgehen, 'Sprachlosigkeit vererbte' und so einiges ertragen musste. Für mich ein ganz besonderes Buch, ein Stück weit deutsche Historie und eine sehr mitreißende Vater-Sohn-Geschichte. Ich könnte nun noch viel mehr erzählen, aber ihr sollt es ja schließlich noch lesen... Eine große Leseempfehlung!

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Veröffentlicht am 17.04.2023

Der Aufbruch ins eigene, unabhängige Leben... "Ohne mich" von Esther Schüttpelz

Ohne mich
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"Wieso glauben eigentlich immer alle, dass schlechte Entscheidungen nur solche sein können, die man nicht aus freien Stücken getroffen hat?"

Wenn man der Ich-Erzählerin in Esther Schüttpelz Roman "Ohne ...

"Wieso glauben eigentlich immer alle, dass schlechte Entscheidungen nur solche sein können, die man nicht aus freien Stücken getroffen hat?"

Wenn man der Ich-Erzählerin in Esther Schüttpelz Roman "Ohne mich" glaubt, kann man sich auch sehr gut mit eigenen Handlungen ins Unglück stürzen. Erst vor kurzem hat sie geheiratet, sich für ein Jura-Studium entschieden, und sich ausgemalt verwegen und glücklich ins Leben zu stürzen. Sie ist erst Mitte zwanzig und doch fühlt es sich bereits jetzt so an, als hätte sie gehörig verkackt. Ihre Ehe, deren Grund sie kaum noch nachvollziehen kann, ist bereits gescheitert und befindet sich in den Endzügen. Kurz nach ihrer Trennung, schließt sie ihr Studium und Referendariat ab, doch so wirklich überzeugt ist sie nach wie vor nicht davon. Sie möchte weder das lernen müssen, das sie nicht interessiert, noch einem stupiden Schreibtischjob nachgehen und fragt sich wie sie so blöd sein konnte, ausgerechnet Jura zu studieren. "...na gut, eigentlich [ist] schon vieles daran, interessant, doch dass ich die Dinge nur begreifen, sie aber nicht anwenden will. Ich möchte nichts davon sein, nicht mitmachen, nur zusehen, verstehen. Und auch das nicht unbedingt." Und genau das wird ihr eben erst jetzt klar, so kurz vor dem Ende. Aber ist es nicht genau das, was das noch junge Leben prägt? Dinge, in die man sich hineinstürzt, mit der Hoffnung das Richtige gefunden zu haben und dann doch enttäuscht zu sein? Und während sie noch in der Heimat, im beschaulichen Münster geblieben ist und sich nun manchmal etwas einsam fühlt, sind ihre Freunde bereits in andere Städte aufgebrochen. Doch wird es ihnen dort wirklich anders ergehen?

"Da sitzen sie jetzt, meine Freunde, in ihren WGs oder in ihren ersten gemeinsamen Wohnungen, und was uns heute verbindet, ist, neben längst auserzählten Erinnerungen an die Schulzeit, nur noch das Gefühl, im eigenen Leben ersetzbar zu sein. Warum diese Stadt, warum dieser Job, warum dieser Partner. Fragt sich jeder für sich, ganz allein. Es könnte auch alles ganz anders sein, aber wäre das besser?"

Ich kann mich noch genau an meine Zeit nach dem Studium erinnern, gefangen in so einem Gefühl zwischen Euphorie, dem großen Drang endlich etwas bewegen zu können, dem Abschied von Schul- und Studienfreunden und der verzweifelten Suche nach sich selbst und seinen Wünschen und dem Korrigieren von früheren Entscheidungen. Und irgendwie hat Esther Schüttpelz es geschafft genau diese Ungewissheit und den Aufbruch bzw. das Befreien von naiven, fast schon jugendlichen, unüberlegten Impulsen und Gedanken einzufangen. Es ist keine Geschichte, die plotgetrieben auf ein großes Ahhh-Erlebnis zusteuert, für mich ist es mehr so ein Zustandsroman. Eine Suche nach dem Ziel, dem Weg und irgendwie auch dem eigenen Platz in der Gesellschaft. Es ist eine beispielhafte Auseinandersetzung mit dem anfänglichen, eigenständigen Leben und den vorherrschenden Themen des frühen Erwachsenenalters. Was fange ich mit mir an? Wo will ich hin? Ist das alles wirklich so richtig? Und da glaube ich, dass dieser Roman sehr von Esther Schüttpelzs eigenen Gedanken und Erlebnissen geprägt wurde. Die Parallelen im Lebenslauf könnten zumindest auf dies hindeuten.
Und auch wenn ich das schon wieder sehr faszinierend finde, fehlten mir im Roman selbst manchmal so ein bisschen Nähe und Tiefe. Ich konnte die Protagonistin nicht immer greifen bzw. hatte häufig das Gefühl, dass auch sie eher ein austauschbarer Charakter ist... was einerseits natürlich diese Allgemeingültigkeit zusätzlich verstärkt, aber leider auch so ein bisschen Distanz und Kühle aufbaut, wenn nicht sogar Begeisterung für das Gelesene raubt. "Ohne mich" umkreist das Ende der ersten großen Liebe, den Beginn des 'richtigen' Lebens und irgendwie auch das Verlassen von alten Wegen... sehr gewichtige Themen und doch so leicht verpackt. Und auch wenn dieser Roman mich nicht vollends begeistert mitgerissen hat, so bin ich für diesen gedanklichen Rückblick und diese Geschichte, die zeigt, dass niemandem das Leben einfach so in den Schoß fällt, sehr dankbar.

"Ich [...] schließe die Wohnungstür hinter mir, drehe mich nicht noch mal um und gehe. Mit jedem schritt, den ich mich entferne, spüre ich, wie ich leichter werde. Nichts ist weg von dem, was mich unter die Wasseroberfläche zieht, doch verstaut ist es, zurückgelassen und eingesperrt in den vermüllten Zimmern, denen es entsprang."

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Veröffentlicht am 17.04.2023

Willkommen im "Institut für gute Mütter", dem Ort an dem Gut, Böse und Mutterschaft nochmal eine ganz andere Bedeutung bekommen

Institut für gute Mütter
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Eigentlich wollte Frida Liu nur schnell etwas von der Arbeit holen und kurz für einen Kaffee Halt machen um dann schleunigst zu ihrer Tochter zurückzukehren. Nach Hause zu Harriet. Doch aus den geplanten ...

Eigentlich wollte Frida Liu nur schnell etwas von der Arbeit holen und kurz für einen Kaffee Halt machen um dann schleunigst zu ihrer Tochter zurückzukehren. Nach Hause zu Harriet. Doch aus den geplanten wenigen Minuten, wurden zweieinhalb Stunden. Zweieinhalb Stunden in denen das kleine Mädchen allein in der Wohnung saß, nach ihrer Mommy schrie und weinte. Und wahrscheinlich wäre das alles niemals so schlimm gewesen, hätten nicht die Nachbarn die örtliche Polizei verständigt. Die Kinderschutzbehörde schaltete sich ein, entzog Frida ihr Kind, schränkte ihre Umgangsrechte ein und übergab ihrem Ex-Mann Gust und seiner Frau Susanna das vollständige Sorgerecht. Auf einmal sah sie sich mit der Aussage "Sie sei eine schlechte Mutter" konfrontiert, wurde wie ein Schwerverbrecher verhört, überwacht und schlussendlich wegen Vernachlässigung und Aussetzung zur Teilnahme an einem neuen staatlichen Programm zur Schärfung ihrer Fähigkeiten verurteilt. "Sie können sich glücklich schätzen [...] noch vor ein paar Monaten wäre Ihnen einfach die Teilnahme an Erziehungskursen angeordnet worden. Aber wozu soll ein rein theoretischer Kurs über Erziehung gut sein? Schlechte Eltern müssen alles von Grund auf neu lernen: die richtigen Instinkte, die richtigen Gefühle, die Fähigkeit, in Bruchteilen von Sekunden sichere, fürsorgliche und liebevolle Entscheidungen zu treffen."
Für dieses Rehabilitierungsprogramm/den Aufenthalt im Institut mussten sie alles abgeben, durften nichts mitnehmen, bekamen sogar Unterwäsche staatlich gestellt. Sie und viele andere Frauen oder auch Männer in einem anderen "Umerziehungslager" müssen hier von Grund auf alles neu lernen. Viele von ihnen sind hier aufgrund von Vernachlässigung, einige haben ihr Kind einfach zu sehr geliebt und verhätschelt, andere ihren Kindern in der Öffentlichkeit einen Klaps auf den Po gegeben oder sie alleine im Hinterhof spielen lassen... alles was laut KSB zu traumatischen Erfahrungen bei Kindern führen kann. "Ich glaube, wir können weder körperliche noch seelische oder verbale Misshandlung vollkommen ausschließen", meint die Sozialarbeiterin, die Frida in den wenigen, erlaubten "Spielstunden" mit ihrer Tochter gefilmt, analysiert und beurteilt hat.
Und nun sitzt sie ausgerechnet hier und soll mit den anderen Frauen an einer KI-Puppe lernen wie man es richtig macht. Richtig umarmt, richtig kindgerecht spricht, generell auf seine eigene Sprache, Lautstärke, Vokabular und Handlungen achtet... 3-2-1 loslassen, so schwer kann es doch gar nicht sein. Und wenn sie nach einem Jahr endlich alles gelernt hat und die Voraussetzungen für eine gute Mutter erfüllt, darf sie auch ihr Kind wieder sehen... aber wird es überhaupt dazu kommen? Wird sie es schaffen, nachdem man ihr schon vorher allerhand Dinge unterstellt hat? Und kann ein normaler Mensch auf Dauer überhaupt noch zwischen realen und KI-Menschen unterscheiden? Wie verhält es sich mit dem Auseinanderleben von Kind und Mutter? Was für ein krasses und großes Sozialexperiment, gepackt in Jessamine Chans Roman "Institut für gute Mütter".

"Die Mütter müssen gleichzeitig auf Tonfall und Vokabular achten. Ein Gerät in den Puppen zeichnet auf, wie viele Wörter jeden Tag gesprochen werden, wie viele Fragen die Puppe beantwortet und wie viel sprachliche Interkation stattfindet. Die Tonaufnahmen werden auf das Verhältnis zwischen Ermutigungen und Warnungen oder Maßregelungen untersucht. Bei zu vielen Neins ertönt ein Alarmsignal, das nur die Trainerinnen abstellen können."

Ich hätte niemals gedacht, dass mich ein Buch so faszinieren und mir gleichzeitig so unangenehm sein könnte. Die Beschuldigungen, die Einmischung und konsequente Überwachung durch die KSB und den Staat, sowie die strikte Einordnung von Gefühlen, Handlungen und Empathie nach Lehrschlüssel haben mich fertig gemacht. Der Begriff Mutterschaft bekommt eine extreme, enge Schablone über beinahe alles gestülpt und jede einzelne Handlung wird beurteilt... doch was genau macht eine gute Mutter aus? Was ist falsch daran, wenn man einem Kind zu viel Aufmerksamkeit und Nähe schenkt oder auch mal, kurze, verzweifelte Momente hat? Und das in dieser extremen Kombination mit dieser utopischen Vorstellung, die irgendwie den Blick für alles menschliche verloren hat, sofern es nicht mit "Lernschlüssel" konform ist, ist sehr erschütternd und aufwühlend. Natürlich stellt Chan einige Dinge sehr überspitzt da, schon die Ausgangslage erinnert an die klassischen Vorstellungen einer überarbeiteten, übermüdeten Mutter, die aufgrund eines ständig quengelndes Kindes alles schleifen lässt... nur der Vater bekommt dies gut geregelt, natürlich.
Am weiteren Verlauf könnte man nun etwas mäkeln, denn bereits die zweite Hälfte lockt zwar mit einigen Herausforderungen, aber sobald das Setting genaustens erklärt wurde, allen Müttern eine Puppe zugeordnet wurde und alle Beteiligten sich in ihren Rollen einfinden, plätschert es irgendwie so vor sich hin. Und das Ende ist dann nur noch eine logische Konsequenz, kaum Überraschung. Dennoch löst dieses Buch beim Lesen so einiges aus, lässt über menschliches Zusammenspiel, Elternschaft und Freundschaft nachdenken, eigene Wege und Erklärungen finden... und irgendwie wird dabei schon deutlich, wie unterschiedlich die Wahrnehmung für eine gute Mutter sein kann und wie anstrengend eine 'regelkonforme' Erziehung ist. Ich würde gerne sagen, dass diese Zukunftsversion sehr weit hergeholt ist, aber an sich ist dieser Roman nur etwas ins Extreme vorschoben und gar nicht mal unmöglich. Ich hoffe allerdings, dass wir so weit niemals kommen werden. Ansonsten ein tolles, spannendes Buch und mal eine ganz neue utopisch-dystopische Sicht auf die Welt - kein Wunder, dass es bereits in den USA ein Bestseller war.

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