Profilbild von jenvo82

jenvo82

Lesejury Star
offline

jenvo82 ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit jenvo82 über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 01.08.2018

Die Toten, nicht die Lebenden

Todsünde
0

Die Gestalt kam mit merkwürdig ungelenken Bewegungen auf Redfield zu und blieb wenige Schritte vor ihm stehen. Die Kamera fiel ihm aus den Händen. Er wich entsetzt zurück, den Blick auf die Gestalt geheftet. ...

Die Gestalt kam mit merkwürdig ungelenken Bewegungen auf Redfield zu und blieb wenige Schritte vor ihm stehen. Die Kamera fiel ihm aus den Händen. Er wich entsetzt zurück, den Blick auf die Gestalt geheftet. Es war eine Frau. Und sie hatte kein Gesicht.“


Inhalt


Maura Isles, Gerichtsmedizinerin wird zu einem schauerlichen Mord in ein gottesfürchtiges Kloster gerufen. Zwei der Nonnen wurden mitten in der Nacht aus ihren Zimmern gelockt und brutal erschlagen. Die eine bedauernswert jung, die andere hat schwerverletzt überlebt, liegt aber nun im Koma. Maura stützt sich auf die Obduktion der Leiche und stellt dabei fest, dass die junge Nonne kurz vor ihrer Ermordung entbunden haben muss. Als die Polizeichefin Jane Rizzoli durch Zeugenbefragungen den Leichnam des Babys entdeckt, rückt der potentielle Vater ins Visier der Ermittler. Doch bald erweist sich der Ansatz als vollkommen falsch, denn es war die ältere der beiden Nonnen, die den Feind anscheinend ins Kloster gelockt hat und das nur, weil sie ein Geheimnis kannte, was niemand kennen sollte. Mühsam setzen Jane und Maura die kleinen Ungereimtheiten zusammen und stellen viel zu spät fest, dass sie den Falschen vertraut haben …


Meinung


Die amerikanische Thrillerautorin Tess Gerritsen, die sich mit ihrer Rizzoli-Isles-Reihe in die Herzen der Liebhaber guter Spannungsromane geschrieben hat, entwirft hier im dritten Band der Reihe ein gut durchdachtes, schauriges Intermezzo, bei dem man als Leser nicht nur Interesse für das Tagwerk einer Ermittlerin und einer Gerichtsmedizinerin bekommt, sondern neben dem Fall auch noch eine stark ausgeprägte persönliche Komponente geliefert bekommt. Die Spannungskurve verläuft zunächst eher flach und gemächlich, weil man nicht ohne Weiteres die Zusammenhänge durchschaut, dafür steigert sich das Potential immer mehr und bald ist es ein ganzes Knäuel an Verflechtungen, die man voller Interesse verfolgt. Die Autorin greift dabei zu ganz klassischen Methoden gutbewährter Art: ein geheimnisvolles Intro, einen nicht zu dominanten Mörder, ein starkes Ermittlerteam und viele verschlungene Wege, die immer wieder Abzweigungen nehmen.


Wer nur ein blutiges Schauspiel oder extremen Nervenkitzel erwartet, ist hier nicht richtig am Platze, denn auch der familiäre Kontext der beiden Hauptprotagonistinnen nimmt einen großen Stellenwert ein. Kleine Nebenerzählungen führen aber dazu, dass der Fall selbst in den Hintergrund tritt. Für Abwechslung ist allemal gesorgt, zumal bald klar wird, dass auch die Bekanntschaften von Isles und Rizzoli nicht ganz unbeteiligt sind am Verlauf der Gesamthandlung.


Fazit


Ich vergebe 4 Lesesterne für diesen klassischen Thriller mit spannendem Handlungsaufbau, der mich sehr gut unterhalten hat und tatsächlich durch eine gut eingebaute Rahmenhandlung nicht nur den bloßen Unterhaltungswert bietet, sondern auch Sympathien weckt. Für Fans der Reihe ein lesenswertes Buch, wenn auch nicht so herausragend, wie andere. Es lässt sich auch isoliert lesen und weckt selbst nach längerer Pause, wie bei mir, das Interesse daran, die Reihe fortzusetzen.

Veröffentlicht am 13.06.2018

Annas Kindheit 2.0

Elternteile
0

„Spiel das Kind, spiel die Mutter. Füll die Charaktere mit Leben. Gib ihnen eine Aufgabe. Führe sie in einen Konflikt, bring sie enger zusammen oder lass eine Spaltung zu, durch den gemeinsamen Feind.“


Inhalt


Für ...

„Spiel das Kind, spiel die Mutter. Füll die Charaktere mit Leben. Gib ihnen eine Aufgabe. Führe sie in einen Konflikt, bring sie enger zusammen oder lass eine Spaltung zu, durch den gemeinsamen Feind.“


Inhalt


Für Karen ist es eine schwere Zeit, denn als ihre Tochter Anna 3 Jahre alt ist, zerbricht die Beziehung zum Vater des Kindes. Ganz bewusst zieht die junge Frau einen Schlussstrich unter die Partnerschaft, in der es nur noch Konflikte und Streit gab. Das Sorgerecht werden sich die Eltern teilen, zunächst übernimmt Karen den Löwenanteil, in den Jahren darauf, wird sich die Betreuungszeit beim Vater zu gleichen Teilen entwickeln. Doch für Karen ist es eine Zerreißprobe, kann sie sich doch nicht an der „kinderfreien“ Zeit erfreuen, weil sie ihre Tochter vermisst – andererseits ist sie auch nicht immer geistig präsent, wenn Anna bei ihr ist. Ein wahrer Drahtseilakt, bei dem sie sich zunehmend fragt, was eine Mutter zur „guten Mutter“ macht und ob sie ihrer Tochter nicht doch lieber ein Leben in der Einheit einer Kleinfamilie geschenkt hätte. Was für den Vater und die Tochter nicht dramatisch erscheint, wächst sich zu einem Dilemma aus, dem Karen nur Herr werden kann, wenn sie sich fragt, welche Rolle sie selbst als Tochter, Frau und Mutter spielt …


Meinung


Die norwegische Autorin gewann mit dem vorliegenden Roman den Brage-Preis, den wichtigsten Literaturpreis ihres Landes und setzt sich in diesem kurzen aber intensiven Roman mit einem sehr alltäglichen und doch tabuisiertem Thema auseinander. Es geht um nichts anderes als um die Gefühle einer Mutter, die ihr Kind in die Obhut des Vaters gibt, für den sie selbst nichts mehr empfindet.

Das beste daran ist der einfühlsame, offene Ton, den die Ich-Erzählerin anschlägt. Denn einerseits ist es ihr durchaus bewusst, dass die Regelung eine berechtigte ist, dass auch der Vater gemeinsame Zeit mit der Tochter verbringen möchte und doch steckt der Stachel des Neides ziemlich tief in ihrem Herzen. Jede Stunde, jedes Weihnachten, welches Anna getrennt von ihr verbringt, wirft sie in eine Waagschale, die um keinen Preis zu Gunsten des Vaters kippen darf. Und so plagt sie sich mit dem Gedanken, dass Annas Kindheit 2.0 zwar kein Wettbewerb ist, sie ihn aber dennoch gewinnen möchte.

Die intensive, emotionale Sicht auf die Dinge, bringt dem Leser die Gefühlswelt der verletzten Mutter sehr nah und man kann sich bestens in ihren Kopf hineinversetzen, selbst wenn man mit der Sachlage nicht vertraut ist, wenn man kein Scheidungskind besitzt.

Es sind sehr ehrliche Worte, einfache Konflikte und doch weltbewegende Themen für die Betroffenen. Und obgleich der Bekanntenkreis anscheinend patente Ratschläge und Tipps auf Lager hat, wird man sich schnell bewusst, dass jede Mutter in dieser Situation ein eigenes Konzept finden muss, einen Gedankengang, mit dem sie sich abfinden kann. Sehr positiv beurteile ich die klare, eindeutige Orientierung auf die Kernaussage des Buches, denn Karen flüchtet sich nicht sofort wieder in eine neue Beziehung, sie durchlebt intensiv die Phasen der Trennung und kämpft immer wieder mit den eigenen Ängsten.

Ein kleines stilistisches Manko habe ich trotzdem anzumerken, vor allem weil sich mir die Bedeutung davon irgendwie nicht erschließt. Manche Seiten sind komplett bedruckt, manche nur zur Hälfte, andere gar nur mit einem Satz. Ich empfinde das als Verschwendung, sollen die leeren Seiten vielleicht die innere Leere reflektieren? Eine Kapitelunterteilung wäre mir lieber gewesen, so habe ich mich einfach nur gewundert.


Fazit


Ich vergebe gute 4 Lesesterne für diesen diskussionswürdigen, nachvollziehbaren Roman über die verletzte Mutterschaft und den Schmerz einer verlorenen Idylle. Das Buch selbst ist ein stilles, möglicherweise nur der Versuch der eigenen Stimme Gehör zu verschaffen, doch es besticht durch seine Aussagekraft und lässt die vielen Grauschattierungen des Lebens deutlich werden, die Machtkämpfe, die Niederlagen aber auch die Gewinne, die Kindererziehung mit sich bringt. Letztlich hat man als Leser das Gefühl, dass es nicht die zerbrochene Partnerschaft ist, die Karen so beschäftigt, sondern, dass es ein eigenes Erwachsenwerden darstellt, dem sie sich nicht entziehen kann und es vielleicht auch nicht sollte. Empfehlenswert für alle Mütter, die sich fragen, wie wichtig ihre Rolle im Leben des Kindes ist und welchen Stellenwert die eigene Gemütsverfassung hat.

Veröffentlicht am 07.06.2018

Das Leben geht einfach weiter

Häuser aus Sand
0

„Als sie ihm die Hand an die Wange legt, überwältigt ihn die Sehnsucht nach damals. Nach dem hier. Nach diesem Augenblick – nach jener Zeit, nach der Hand seiner jungen Frau. Nach Kuwait. Nach allem, was ...

„Als sie ihm die Hand an die Wange legt, überwältigt ihn die Sehnsucht nach damals. Nach dem hier. Nach diesem Augenblick – nach jener Zeit, nach der Hand seiner jungen Frau. Nach Kuwait. Nach allem, was früher war. Denn er weiß, dass der Traum gleich enden und alles in Sekunden vorbei sein wird.“


Inhalt


Erzählt wird hier die Geschichte der wohlhabenden Familie Yacoub, begonnen bei Salma, der Großmutter, die in jungen Jahren ihre Heimat Jaffa verlassen musste. Hinein in das Leben ihrer Kinder und Enkelkinder, die alle im Laufe ihres Lebens erkennen müssen, dass sie die Heimat, mit der sie sich verbunden fühlen nicht immer frei wählen können und das sie die Sehnsucht nach Zugehörigkeit und Verbundenheit mit den Menschen und Kulturen mehr im Herzen tragen müssen. Obwohl es die politischen Unruhen, die gewaltsamen Kriege waren, die einst dafür verantwortlich waren, dass eine Flucht unabdingbar wurde, so bleibt es Jahrzehnte später die ungewisse Lage, die Alia und ihren Mann Atef bindet. Mit dem Blick auf die Kinder, der Sicherheit vor Augen bleibt eine Rückkehr ausgeschlossen. Und für die Enkelkinder stellt sich die Frage nach einem Leben in Palästina nicht mehr, findet ihr Leben doch jenseits dieser Welt statt, denn plötzlich ist Amerika das Herkunftsland und nur die älteren Familienmitglieder erinnern an eine andere Abstammung.


Meinung


Die palästinensisch-amerikanische Autorin Hala Alyan fokussiert in ihrem Debütroman nicht nur die Entwurzelung von Menschen, deren Heimatland keine Sicherheit bietet, sondern erzählt in erster Linie einen groß angelegten Familienroman, der sich mit dem Leben an sich, den normalen und unberechenbaren Entwicklungen beschäftigt und räumt dabei den Gedanken ihrer Protagonisten einen immensen Stellenwert ein. Die ursprüngliche Aussage, die darin liegen mag, dass es keinen Ort gibt, der für immer und ewig Bestand hat, wandelt sich schnell in eine epische Erzählung über Mütter, Töchter und Söhne, ihre Probleme, ihre Wünsche und Hoffnungen aber auch die Enttäuschungen auf dem Weg ins Erwachsenwerden. Ursprünglich habe ich etwas mehr Bedrohung von außen erwartet, um dann festzustellen, dass es vielmehr um die Ängste aus dem Inneren geht. Denn ein weiteres Augenmerk stellt auch der Widerstand der Kinder dar, die sich nicht in die alten Rollenmuster ihrer Eltern flüchten möchten, sondern so, wie es ihre Zeit vorschreibt, Neuerungen und Änderungen anzunehmen.


Ein flüssiger Schreibstil, der manchmal leider von unnötigen Fremdworten begleitet wird (das Glossar am Buchende gibt Auskunft, dennoch habe ich nicht viel darin geblättert), nimmt den Leser mit auf eine Reise in die Untiefen einer Gemeinschaft, die Blutsbande und Freunde gleichermaßen sind. Sehr schön aufgefächert ist die Gliederung zwischen den traditionsbewussten Eltern, den rebellischen Kindern, den autonomen Enkeln. Und dadurch, dass die Autorin eine Kapiteleinteilung nach ihren diversen Protagonisten vornimmt, gelingt es dem Leser auch, sich in alle Köpfe hineinzuversetzen und immer die zwei Seiten der Medaille wahrzunehmen. Diesen Schachzug finde ich sehr clever und angenehm abwechslungsreich für diese Art der Erzählung.


Zum Lieblingsbuch fehlte mir dann aber doch etwas, manchmal hätte ich mir einen strafferen Handlungsrahmen gewünscht, ganz sicher auch mehr Einblicke in die politischen Hintergründe und nicht zuletzt eine tatsächliche Aussage, eine über die man auch nach dem Lesen des Buches noch nachsinnen kann. So bleibt es doch ein persönlicher, ein durchaus normaler Familienroman, ohne herausragende Persönlichkeiten, geprägt vom ganz alltäglichen Wahnsinn, von Abschieden und Ankünften von Liebe und Aufopferung, von Verlusten und Gewinnen.


Fazit


Ich vergebe 4 Lesesterne für diesen umfassenden Familienroman, der viele Generationen miteinander verbindet, der sich psychologisch in die jeweiligen Mitglieder der Gemeinschaft hineinversetzt und sie zu etwas Besonderem macht. Das Buch würdigt die Arbeit aller Mütter und Väter in der Erziehung ihrer Kinder, es lobt das Engagement und die Liebe der Großeltern zu ihren Kindern und Kindeskindern und zeigt durch den ganz normalen Verlauf des Lebens, das jedes Menschenalter seine Möglichkeiten aber auch Verbindlichkeiten mit sich bringt, ganz egal wo auf der Welt man sich heimisch fühlt. Ich spreche eine Leseempfehlung aus, die Geschichte konnte mich gut unterhalten und bestärkt mich in einigen Gedankenspielen über den Wert menschlicher Beziehungen.

Veröffentlicht am 07.06.2018

Der Mann, der Briefe dachte

Der Gedankenspieler
0

„Ich habe die Liebe verlernt. Das war ein einfacher, aber ihm nicht angenehmer Satz. Oder sollte er denken: Ich fürchte mich vor Gemeinsamkeit und ziehe Einsamkeit vor. Ich bin am Ende und habe schon den ...

„Ich habe die Liebe verlernt. Das war ein einfacher, aber ihm nicht angenehmer Satz. Oder sollte er denken: Ich fürchte mich vor Gemeinsamkeit und ziehe Einsamkeit vor. Ich bin am Ende und habe schon den Anfang nicht gekonnt.“


Inhalt


Johannes Wenger ist nach einem Sturz auf den Rollstuhl und auf die Hilfe zahlreicher Pflegekräfte angewiesen. Leicht verdrossen ergibt er sich in sein Schicksal, da ihm ohnehin die Alternativen fehlen. Sein Hausarzt Dr. Mailänder kümmert sich kompetent um ihn und ist nicht nur für sein körperliches Wohlbefinden zuständig, sondern mittlerweile zum einzigen Vertrauten und Freund des alten Mannes geworden. Frau und Kinder hat Wenger keine und so nimmt ihn Dr. Mailänder als „Opa“ in seine eigene kleine Familie mit. Gemeinsam verbringen sie viele schöne Stunden, ja sogar einen Urlaub an der See und Johannes blüht durch die Ersatzfamilie mit der quirligen „Enkeltochter“ regelrecht auf. Doch allzu bewusst ist sich der ehemalige Architekt, seiner Endlichkeit, seiner immer schlechter werdenden Gesundheit und mit Argwohn betrachtet er seinen Verfall. Zur Last fallen möchte er niemanden, erst recht nicht seinem Arzt und Vertrauten. Nach einem akuten Nierenversagen landet Wenger im Krankenhaus, diesmal vollkommen ausgeliefert an seine Krankheit mit wirren Träumen, die ihn bereits an der Schwelle des Todes begrüßen und nur noch mit einem Bein im Diesseits. Wenger erholt sich auch von diesem Schicksalsschlag und kehrt nach Hause zurück, doch die Müdigkeit, die Last der vielen Lebensjahre, die er mit sich herumträgt, legt sich immer schwerer und düsterer auf sein Gemüt und er sieht ein, dass er sich lieber dieser Schwere zuwenden möchte, als einem langwierigen Heilungsprozess, der ihn Kräfte kosten wird, die er nicht mehr hat.


Meinung


Dieser Roman ist der letzte, des 2017 verstorbenen Chemnitzer Autors Peter Härtling. Wie man im Nachwort erfährt, hat sein langjähriger Lektor Olaf Petersenn den Text nur noch geringfügig bearbeitet und sich dabei voll und ganz auf das Manuskript des Autors gestützt. Dieser Umstand verleiht dem vorliegenden Roman noch ein bisschen mehr Authentizität, mehr Bedeutsamkeit und zeigt, dass Herr Härtling nicht nur einen bewegenden Roman über das Alter, die Freundschaft und die Einsamkeit geschrieben hat, sondern auch selbst in ebenjener Lebensphase steckte, die es nahelegt, dass sein Leben hin und wieder zum Vorbild der Gedanken des Protagonisten wurde.


Der Schreibstil ist minimalistisch, durch kurze Sätze geprägt, sehr sachlich manchmal fast nüchtern und dennoch immer nah dran an der Figur des Johannes Wenger. Jener verarbeitet in gedachten Briefen sein Leben, schreibt gedanklich an alte Bekannte, an bereits verstorbene Architekten oder berühmte Bauherren. Gleichermaßen dankt er seinem Vertrauten im Alter für dessen Präsenz, seiner neugewonnenen Enkeltochter für ihren Ideenreichtum und der passionierten Pflegekraft für den würdigen Umgang mit seinen körperlichen Hinfälligkeiten. Besonders gelungen empfinde ich die Reflexion der eigenen Gedanken, die Einfachheit der kleinen Alltagsfreuden, den sich ständig verkleinernden Radius des Individuums und nicht zuletzt die Aussöhnung mit all den Verfehlungen, der Vergangenheit, dem Leben an sich.


Manchmal hätte ich mir etwas mehr Emotionen gewünscht, tiefgreifendere Gespräche und mehr Kontakt zu dem alten Mann, den man als Leser zwar sehr genau kennenlernt, der als Person aber nicht ganz greifbar erscheint. Das stört nicht weiter, weil er sicherlich so auftreten soll, weil diese Stille, diese gewünschte Einsamkeit sein Wesen ausmachte, doch im Zusammenhang mit der Thematik, hätte es gern etwas mehr Herzblut und Traurigkeit sein dürfen. So ist es eher Melancholie, ein langsames Abschiednehmen, ein stiller Gang auf dem letzten Weg. Aber dennoch ein sehr ergreifender Roman.


Fazit


Ich vergebe gute 4 Lesesterne für diesen ehrlichen, schonungslosen Roman, der einen ganz zielgerichteten Blick auf die Lebensphase des Alters wirft. Als Leser bekommt man Verständnis für all jene unausgesprochenen Wünsche, alle nicht mehr möglichen Unternehmungen, alle Unzulänglichkeiten aber auch für die Möglichkeiten, die selbst ein alter kranker Mann aus dem Rollstuhl heraus noch wahrnehmen kann, sofern er sich mit der Gegenwart und ihren Anforderungen anfreundet und die Endlichkeit eines Menschenlebens akzeptiert. Ich empfehle diesen Roman gerne weiter, er ist sicher kein Mainstream und auch sehr ruhig in seiner Erzählweise, doch man trägt den Text nach dem Lesen noch ein Weilchen im Herzen.

Veröffentlicht am 29.05.2018

Die glückliche Jugend eines friedlichen Amerikas

Die Geschichte der Baltimores
0

„Die Katastrophe des Lebens. Es gab immer Katastrophen, es wird immer Katastrophen geben, und das Leben geht trotzdem weiter. Katastrophen sind unvermeidlich. Sie haben im Grund keine große Bedeutung. ...

„Die Katastrophe des Lebens. Es gab immer Katastrophen, es wird immer Katastrophen geben, und das Leben geht trotzdem weiter. Katastrophen sind unvermeidlich. Sie haben im Grund keine große Bedeutung. Wichtig ist nur, wie wir sie überwinden.“


Inhalt


Marcus Goldman, erfolgreicher Schriftsteller, verarbeitet in diesem Buch seine eigene Lebensgeschichte oder zumindest die seiner glorreichen Kindheit und Jugend. Gemeinsam mit seinem Cousin Hillel und Woodrow, dem Ziehsohn der Familie Goldman verbringt er unvergleichliche Tage in Baltimore. Die drei Halbwüchsigen sind eine richtige Gang, sie teilen alles, unterstützen sich wo sie können und holen aus dem Gegenüber stets das Beste raus. Gemeinsam gehen sie durch dick und dünn und sind wahre Brüder im Herzen. Marcus steckt voller Bewunderung für den intelligenten Hillel und den Footballstar Woody und würde am liebsten seine eigene Familie gegen ein Leben an der Seite seiner Cousins eintauschen. Aber Marcus bleibt immer ein bisschen außen vor, muss wieder fahren, wenn die Ferien zu Ende gehen und das Anwesen seines geliebten Onkels Saul zumindest für eine Weile verlassen. Rückblickend erzählt er nun, warum die Goldmans aus Baltimore in seinen Augen so wunderbar waren aber auch, wie die Bilderbuchfamilie ihrem Untergang geweiht war, wie bald alle Mitglieder ums Leben kamen und eine Katastrophe das ganze Universum eines Menschen auf den Kopf stellen kann. Denn in der Gegenwart ist Marcus der Einzige, der Bilanz ziehen kann und in seinem Buch eine Versöhnung zwischen Menschen herstellt, die sich zu sehr liebten und zu wenig gönnten, um miteinander unbeschwert durchs Leben gehen zu können.


Meinung


Dies war mein erster Roman des prämierten Autors Joel Dicker, der auch mit diesem, seinem zweiten Roman monatelang auf den Bestsellerlisten vertreten war und ich habe ihn gern gelesen. Mit leichter Erzählstimme und äußerst genau gezeichneten Charakteren vermag er es, eine wirkliche Geschichte zu erschaffen, die obgleich ihrer fiktiven Seite, dennoch ein äußerst realistisches Familienporträt entwirft.


Auf gut 500 Seiten darf der Leser in die Welt des Marcus Goldman eintauchen, hinein in ein glückliches Idyll mit großartigen Menschen und liebevollen Elternhäusern. Die kleinen Gesten, die zahlreichen Handlungspunkte, die netten Gespräche, all das zeichnet diesen Roman aus. Immer fühlt man sich kurzweilig und gut unterhalten, nie wird es langweilig, nie unvorstellbar, sondern stets scheint das Leben selbst der Autor des Buches gewesen zu sein. Und obwohl die Handlung sehr willkürlich und oft in Zeit und Raum springt, passt auch dieser Schachzug zum Text, denn dadurch das Marcus eine Art übergeordnete Erzählperspektive vertritt, stellt sich der Leser darauf ein, von ihm nur stückchenweise die ganze Wahrheit offenbart zu bekommen. Die Anfangs erwähnte Katastrophe zeichnet sich erst im zweiten Drittel des Buches ab und auch die Vorgeschichte der Vergangenheit kommt erst dann ans Tageslicht.


Und so gern, wie ich dieses Buch auch gelesen habe, so gibt es zwei Punkte, die mich nicht vollends überzeugen konnten. Zum ersten ist es eine gewisse Banalität der Geschehnisse, denn eigentlich erfährt man hier nur von einer Freundschaft, an deren Erhalt der Zahn der Zeit nagte, die Menschen betraf, die sich verändert haben und nicht mehr wie die einstigen Teenager heere Träume hegten. Dafür benötigt man aber keine 500 Seiten Text, das kann man kürzer uns straffer erzählen. Auch die Katastrophe an sich, ist so typisch amerikanisch, dass sie mich schon wieder stört, weil sie ins Klischee verfällt. Auch die Tatsache, dass es anscheinend ewig dauert, bis man den Kern der Erzählung erreicht, hat mir nicht sonderlich gefallen und letztlich stört mich vor allem eins: es ist ein bitterer Einzelfall, eine Tragödie nur für die Baltimores, ein hausgemachtes Problem, eine recht willkürliche Sache, die mir über das Buch hinaus nur wenig Ansatzpunkte für weitere Gedankengänge offenbart. Man klappt die Geschichte zu und wird sie wieder vergessen, es ist alles gesagt, alles vergeben, alles vergessen und die Menschen, die damit leben müssten, sind tot.


Der Text hat mich darüber hinaus immer wieder an einen Film erinnert, ich könnte mir vorstellen, dass diese Geschichte als Spielfilm weit mehr in Erinnerung bleiben könnte, als in Textform. Dort würden auch die Rückblenden und Vorausgriffe besser wirken und die Charaktere könnten zur Höchstform auflaufen.


Fazit


Ich vergebe 4 Lesesterne für diesen unterhaltsamen Familienroman über eine amerikanische Familie, deren Traum von der glorreichen Zukunft im Sand verläuft. Hier findet man eine interessante Story, Protagonisten mit Herzblut und spannende Hintergründe. Menschlich gesehen konnte mich diese Geschichte nicht bewegen, blieb mir zu oberflächlich und erhebt auch nicht den Anspruch mehr vermitteln zu wollen. Sie wirkt eher beispielhaft und durchaus persönlich, doch es ist die Art und Weise der Erzählung, die hier überzeugt, wenn auch nur so lange, wie man liest. Mir hätte sie generalistischer und weniger detailliert noch etwas besser gefallen. So bleibt es die Geschichte der Baltimores, die es nicht mehr gibt.