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Veröffentlicht am 09.02.2018

Mir geht es gut. Wie geht es dir?

Ein schönes Paar
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„Sie hatte Angst um ihn, um sich, um den Jungen, der in seinem Zimmer schlief, um die Zeit, ja, auch um die Zeit hatte sie Angst. Sie hatte ein Gefühl für die Zeit entwickelt, dafür, wie sie verrann.“


Inhalt


Philipp ...

„Sie hatte Angst um ihn, um sich, um den Jungen, der in seinem Zimmer schlief, um die Zeit, ja, auch um die Zeit hatte sie Angst. Sie hatte ein Gefühl für die Zeit entwickelt, dafür, wie sie verrann.“


Inhalt


Philipp Karst beschließt nach dem Tod seiner Eltern nicht nur das Haus auszuräumen, sondern sich auch intensiv mit der Lebensgeschichte und Liebesgeschichte von Herta und Georg auseinanderzusetzen. Vielleicht wird es ihm gelingen, aus der Gegenwart heraus die Beweggründe seiner Mutter zu verstehen, die sowohl seinem Vater als auch ihm schon vor vielen Jahren den Rücken gekehrt hat. Möglicherweise kommt er auch der immerwährenden Sehnsucht auf die Spur, die seinen Vater dazu veranlasst hat, sich keine „neue“ Frau zu suchen und stattdessen auf die wenigen glücklichen Jahre an der Seite seiner Mutter zurückzublicken. Und mit viel Glück gelingt es ihm aufzudecken, warum in seinem Elternhaus immerzu nur Schweigen, stille Vorwürfe und mangelnde Erklärungen an der Tagesordnung waren. Hilfreich ist ihm dabei eine Kamera, ein Erinnerungsstück, welches die Geschicke seines Elternpaares wesentlich beeinflusst hat und mit dem auch er als Fotograf vieles verbindet. Wenn da nur nicht sein persönliches Unvermögen wäre, Gefühle zum Ausdruck zu bringen …


Meinung


Der deutsche Autor Gert Loschütz, der bereits zahlreiche Auszeichnungen für seine Werke bekommen hat und 2005 mit dem Roman „Dunkle Gesellschaft“ auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis stand, thematisiert in seinem aktuellen Buch nicht nur die jüngere deutsche Vergangenheit, in der eine unüberwindbare Trennlinie mitten durch das Land verlief, sondern greift geschickt zu einer ganz persönlichen Lebensgeschichte, die rückblickend erzählt wird und den Leser dafür sensibilisiert, unter welchen Rahmenbedingungen Liebende während der politischen Teilung leben mussten und wie sie individuell damit umgegangen sind.


Die Handlung des Romans basiert im Wesentlichen jedoch auf einem Rückblick, den der erwachsene Sohn auf die Beziehung der Eltern wirft, die mit leichter Hand das Geschehen bestimmen und den Ich-Erzähler weit in den Hintergrund treten lassen. Es sind wenige glückliche Momente, denen er sich widmet und viele kleine Episoden, die dem Leser deutlich machen, wie aus einem landläufig „schönen Paar“ zwei sehr einsame Menschen werden können, denen nicht einmal der gemeinsame Sohn eine innere Verbundenheit schenken konnte.


Der gewählte Schreibstil wirkt sehr professionell, gediegen und schwermütig. Er schildert distanziert, sachlich und fast schon schmerzhaft objektiv die Gedankengänge und Handlungen der Protagonisten. Die Sätze greifen leicht und doch miteinander verwoben in die Erzählung ein, sie zwingen zum aufmerksamen Lesen und hallen nach. Gerade dieser ruhige, unaufgeregte Ton, der mit Attributen wie Beklemmung, Traurigkeit und Melancholie besetzt ist, macht einen großen Reiz des Buches aus. Allein die Art zu erzählen konnte mich für den Roman einnehmen, weil sie es ermöglicht selbst zu reflektieren.


Besonders positiv hervorheben möchte ich die handelnden Personen, die Gert Loschütz hier ins Feld führt. Sie bestreiten zu dritt ganz wesentliche Bestandteile der Geschichte, sie wirken in sich geschlossen, ausgewogen und berechenbar. Ihre Wünsche und Erwartungshaltungen werden transparent gemacht, jedoch immer nur aus der Eigenperspektive, so dass es dem Sohn als Ich-Erzähler dennoch unmöglich wird, die wahren Beweggründe seiner Eltern zu verstehen, auch wenn er ihnen nachspürt, um ihnen näher zu kommen, gelingt es ihm nicht im gewünschten Maße.


Dieser Roman löst eine ganze Welle von Gefühlen in mir aus, angefangen beim Unverständnis für die Mutter, die mit vollem Bewusstsein die Familie verlässt und sich nicht nur vom Mann, sondern auch vom Sohn trennt, bis hin zum Vater, der keine Erklärungen geben kann oder will. Gefangen in dieser lieblosen Umgebung, in der das Schweigen oberste Priorität hat, begegnet man einem Jungen, der sich nichts sehnlicher wünscht als Kontakt und Nähe und doch immer mehr in das einsame Lebensmodell seiner Eltern hineingezogen wird. Und darin sehe ich auch meinen Hauptkritikpunkt, es ist tatsächlich ein persönlicher. Denn Familie Karst lebt so weit von meinen Idealvorstellungen entfernt, dass mir nicht einer der Protagonisten ans Herz gewachsen ist, ganz im Gegenteil ich bin immer wütender geworden, wie man so leben und handeln kann. Wie das Unvermögen zu Bindung hier als dominantes Thema hervortritt und drei Menschenleben so bitter und nachhaltig beeinflusst. Dadurch tritt die Ursprungshandlung, die ihr Übel in der politischen Teilung Deutschlands sieht, immer weiter in den Hintergrund, so dass es letztlich ein sehr intensiver Roman über Menschen wird, die wegen mangelnder Kommunikationsfähigkeit ihre Familie zerrütten.


Und dennoch eine für mich geniale Geschichte, mit der es dem Autor gelungen ist, Momente, Menschen und Entscheidungen einzufangen, denen ich zwar nichts abgewinnen kann, die aber derart mitreißend und in sich schlüssig ist, dass ich davor den Hut ziehen muss. Selten hat mich ein Roman so gefesselt und bewegt, obwohl er keinerlei Parallelen und Verständnis in mir weckt, obwohl ich weder emotionalen noch praktischen Bezug dazu habe.


Fazit


Ich vergebe sehr gute 4 Lesesterne für diese Aufarbeitung eines Sohnes, der erkannt hat, seinen Eltern weder im Leben noch nach deren Tod näher kommen zu können und der dennoch versucht, zu akzeptieren was war. Dieses Buch rüttelt wach, es hält absolute Distanz und wertet nicht, beschreibt, seziert und zeigt, wie Menschen handeln können, denen es vielleicht nicht an Liebe mangelt aber zumindest am Vermögen ihre Bedürfnisse in Worte zu fassen. Als Leser muss man sich auf die Geschichte einlassen, denn sie pachtet keine Sympathiewerte, sie hält Abstand und bewegt dennoch. Man darf keine emotionale Auseinandersetzung erwarten und muss auch damit leben können, dass es auf persönliche Fragen keine Antworten geben wird. Wenn man dazu bereit ist, empfehle ich dieses Buch unbedingt zu lesen, denn literarisch hat es mich voll und ganz überzeugt.

Veröffentlicht am 31.01.2018

Ich wünsche mir einen Koffer

Bananama
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„Als ich am nächsten Morgen aufwachte, wünschte ich mir, ich wäre alt und hätte Demenz. Ich fasste einen Entschluss: Ich würde von jetzt an versuchen, schnell alt zu werden und Demenz zu bekommen.“


Inhalt


Diese ...

„Als ich am nächsten Morgen aufwachte, wünschte ich mir, ich wäre alt und hätte Demenz. Ich fasste einen Entschluss: Ich würde von jetzt an versuchen, schnell alt zu werden und Demenz zu bekommen.“


Inhalt


Diese Worte denkt ein 6-jähriges Mädchen, die mit ihren Eltern im selbsternannten „Bananama“ lebt, neben einem Wald, etwas außerhalb einer Stadt und mutterseelenallein. Ihre Eltern möchten anders sein und sich deutlich von der Gesellschaft abheben, eigentlich möchten sie mit niemandem mehr Kontakt haben, was ihnen auch ganz gut gelingt, denn außer dem Postboten kommt kein Besuch. Beide Elternteile leben ohne Berufstätigkeit, ohne Freunde und Familie in ihrer tatsächlich äußerst verkorksten, kleinen Welt. Die gemeinsame Tochter wird dann auch nicht mehr auf eine öffentliche Schule geschickt, sondern selbst unterrichtet. Dort lernt sie Begriffe wie Biomasse, ökologisches Gleichgewicht und Nachhaltigkeit genauer kennen, leider fehlt es an allen anderen elterlichen Gefühlen und so lernt die Protagonistin ohne Namen vor allem eins – was es heißt einsam und verlassen zu leben und von niemandem Zuwendung und Liebe zu erhalten. Und dann folgen auf tote Wörter tote Vögeln und auf diese auch noch tote Menschen. Für die Kleine zementiert sich ein surreales Weltbild, dem man nur mit drastischen Maßnahmen entkommen kann …


Meinung


Dieser absolut andersartige Roman aus der kreativen Feder der jungen deutschen Autorin Simone Hirth, bei dem die Grenzen zwischen echten Ereignissen und utopischen Handlungen verschwimmen, konnte mich von der ersten Seite an gefangen nehmen und entwickelt in seinem Verlauf nicht nur eine dramatische Entwicklung sondern auch eine bedrückende, zutiefst verstörende Stimmung, die immer dunkler und enger wird. So intensiv und verschreckend gleichermaßen, weil die Autorin bewusst eine Ich-Erzählperspektive wählt, um zu zeigen, wie es sich für ein kleines Mädchen anfühlt, vollkommen ungefragt in einem Umfeld aufzuwachsen, in dem scheinbar nur abstrakte Erziehungsziele gelten und alles „Normale“ außen vor bleibt. Ihre Eltern, zwei seltsame Aussteigertypen bilden eine eingeschworene Front gegen die natürliche Neugier des Mädchens, sie erklären nur das Nötigste, niemals geht es um innere Werte, immer nur um äußere Erscheinungen und obwohl die Kleine den vollen Zugang zur Welt ihrer Eltern hat, erscheinen ihr diese immer fremder und inkompetenter als alle anderen.


Zuflucht findet sie nirgends, weil keine Menschenseele nach Bananama kommt. Sie beginnt zunächst Wörter zu beerdigen, indem sie sie unter dem Walnussbaum vergräbt, dann kümmert sie sich um tote Vögel, die der Wind immer wieder an ihre Fensterscheiben wirft und die dann im Garten verenden. Doch als sie plötzlich zwei Tote im Beet entdeckt, denen ihre Eltern keinerlei Beachtung schenken und die ebenso schnell und ungefragt wieder verschwinden, wird ihr mit Erschrecken klar, dass die Welt ihrer Eltern längst nicht mehr ihre eigene ist.


Thematisch behandelt der Roman ein sehr breites Spektrum an Gefühlen, er polarisiert zunehmend und lässt den Leser nicht mehr los. Verzweiflung, Enge und Ausweglosigkeit sind ebenso spürbar wie Überforderung, Abkehr und Distanziertheit. Während die Erziehungsberechtigten ein ungewöhnliches, nicht ganz schlüssiges Leben führen, stirbt in ihrer Tochter immer mehr, ohne dass sie diese Entwicklung bemerken würden. Alles, was man sich für ein Kind wünscht, fast jedes Zuhause wäre ein besseres, doch „Bananama“ ist nur eine Endstation. Ein abgekapseltes Lebensmodell ohne Zuwendung, ohne Anteilnahme und geprägt von einer erschreckenden Unlust, die weder Vater noch Mutter überwinden können. Das Mädchen wird zum Klotz am Bein und bekommt das unmittelbar zu spüren. Was ihr bleibt ist ein Rest Phantasie, Hoffnung auf eine Zeit nach dieser Kindheit und irgendwann vielleicht ein Wechsel der äußeren Umstände. Doch irgendwann kommt sie auf die Idee, den Koffer, den sie sich sehnlichst wünscht, um ihn mit schönen Dingen füllen zu können oder auch um Schreckliches darin zu verwahren, auf ganz andere Art und Weise zu nutzen.


Fazit


Ich vergebe 5 Lesesterne für diesen verstörenden, surrealen Roman, in dem sehr Vieles der Phantasie des Lesers überlassen wird, es gibt fast nie eine logische Erklärung, es gibt bis zum Schluss keine Antworten auf unendlich viele Fragen, stattdessen gibt es leere Wörter, leere Menschen und leere Koffer. In sich ein wunderbar geschlossenes Buch, in dem sich Handlung und Protagonisten treu bleiben, von dem man nicht erwartet, ja nicht einmal hofft, dass auch nur ein Wort des Geschriebenen wahr sein könnte und das lange nachhallt. Wer den Plot komplett verstehen möchte, wird hier leider enttäuscht, wer sich aber auf das wilde Gedankenspiel einlässt, kann zu zahlreichen Möglichkeiten gelangen, die man in dieser Art kaum irgendwo findet. Mir hat es sehr gut gefallen.

Veröffentlicht am 30.01.2018

Die Flucht oder der Wettlauf mit der Verzweiflung

Der Reisende
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„Und so wird es vielleicht immer weitergehen. Ich bin jetzt Reisender, ein immer weiter Reisender. Ich bin überhaupt schon ausgewandert. Ich bin in die Deutsche Reichsbahn emigriert. Ich bin nicht mehr ...

„Und so wird es vielleicht immer weitergehen. Ich bin jetzt Reisender, ein immer weiter Reisender. Ich bin überhaupt schon ausgewandert. Ich bin in die Deutsche Reichsbahn emigriert. Ich bin nicht mehr in Deutschland. Ich bin in Zügen, die in Deutschland fahren. Das ist ein großer Unterschied.“


Inhalt


Der wohlhabende Kaufmann Otto Silbermann verliert förmlich über Nacht sein gesamtes bisheriges Leben. Am 9. November 1938 in der Reichspogromnacht rücken Nazis bis in seine Wohnung vor und er flieht in letzter Minute durch den Hintereingang des Hauses. Auch sein bisheriger Firmenteilhaber Gustav Becker, der zwar offiziell kein Judenhasser ist, aber dennoch arischer Abstammung, bricht mit ihm. Zu gefährlich ist eine geschäftliche Verbindung mit dem Staatsfeind Nr.1. Silbermann erhält von seinem ehemaligen Freund noch 40.000 Reichsmark bar auf die Hand und soll sich damit gefälligst aus dem Staub machen, bevor er in Deutschland festsitzt und wie so viele andere in ein Konzentrationslager verfrachtet wird. Fortan ist Otto ein Getriebener, er lebt in den Zügen der Deutschen Reichsbahn und verhält sich möglichst unauffällig. Sein oberstes Ziel ist die Flucht aus Deutschland, doch nachdem er an der belgischen Grenze aufgegriffen wird, verwirft er diese Option. Er schwört sich nur eines, solange er noch Geld hat, kämpft er um sein Leben. Doch eines Tages wird sein Aktenkoffer mit den restlichen 30.000 Mark gestohlen und Otto sieht ein, dass er im Rechtsstaat seines Landes, radikal ausradiert wurde …


Meinung


Dieses Werk des mit bereits 27 Jahren verstorbenen Autors Ulrich Alexander Boschwitz, erschien bereits 1939 in England und wurde nun erstmals durch den Herausgeber Peter Graf auch in einer deutschen Fassung aufgelegt. In Erinnerung an eine Zeit voller Schrecken, in der es Menschen zweiter und dritter Klasse gab, ebenso wie Abteile in deutschen Zügen. Ein umfangreiches Nachwort des Herausgebers zeigt, dass Boschwitz selbst mit dem Regime ausreichend Erfahrung sammeln konnte und der vorliegende Text viele autobiografische Parallelen aufweist. Ein Grund mehr diesen Roman als wichtiges Zeitdokument zu deklarieren, eben weil die Empfindungen und Ereignisse nicht erfunden sind, sondern auf Fakten basieren. Auch dieser historische Hintergrund macht den Mehrwert des Buches aus, denn als Leser bekommt man hier nicht nur eine beängstigende Geschichte präsentiert, sondern ein aussagekräftiges Zeugnis einer menschenverachtenden Zeit.


Die Geschichte selbst wird als eine wahre Odyssee quer durch ein Land beschrieben, denn der Hauptprotagonist, ein anständiger, gewissenhafter Mensch mit ehrenhafter Überzeugung, kann es zunächst einfach nicht glauben, dass gerade er in einem Land, mit dem er sich eigentlich sehr verbunden fühlt, plötzlich zu den Ausgestoßenen zählen soll. Als Kaufmann ist ihm aber auch bewusst, dass ihn sein Vermögen möglicherweise retten wird, er erhofft sich zumindest eine kleine Chance. Doch die Realität trifft ihn mit voller Breitseite. Vermögend zu sein entwickelt sich zunehmend als Handicap, denn wohin soll er mit dem Bargeld?


Der Autor vermag es gekonnt die Sorgen von Otto Silbermann für den Leser lebensecht nachzuerzählen, man spürt die Sehnsucht nach Ruhe, den Wunsch nach einem friedlichen Leben aber auch den Überlebenswillen des Protagonisten. Mit jeder neuen Hürde wächst die Verzweiflung und bald ist auch der Leser ein Getriebener, denn man muss unbedingt wissen, welchen Ausgang diese dramatische Geschichte nehmen wird. Besonders hervorheben möchte ich die Nähe des Textes zum Leser an sich, denn man kann sich vortrefflich in die missliche Lage des Erzählenden hineinversetzen, es sind sehr einfache, äußerst plausible Sachverhalte, die den Handlungsverlauf vorantreiben. Und es sind auch interessante Menschen, die Herrn Silbermann in den Zügen begleiten und seinen Weg auf ganz unterschiedliche Art und Weise beeinflussen.


Dieser Roman ist ein Zeitzeugnis, ein Andenken und eine diskussionswürdige Geschichte zugleich, denn er berührt sowohl Menschliches als auch Historisches, er erzeugt zunächst eine zuversichtliche Grundhaltung, die sich jedoch nach und nach der Tristesse ihrer Zeit anpasst, aus Verständnis wird Unverständnis und letztlich Unvermögen, sich als Individuum ohne Fehl und Tadel dem verhärmten Zeitgeist zu entziehen. Und genau deshalb wirkt der Roman so nachhaltig, denn anhand einer kleinen Einzelgeschichte zeigt sich, wie es dem Mensch an sich im Nationalsozialismus mit all seinen Verblendungen ergangen ist und ebenso wird deutlich, dass der Jude Silbermann nur einer von unzähligen anderen war, ein Mensch unter Wölfen in einem Land jenseits einer moralischen Verantwortung.


Fazit


Ich vergebe sehr gute 5 Lesesterne, denn „Der Reisende“ konnte mich auf ganzer Linie überzeugen. Es ist ein gelungener Mix aus Historie, persönlichem Schicksal und aussagekräftiger Gesamterzählung. Ein leicht lesbarer Schreibstil und ein zeitlich klar strukturierter Handlungsverlauf erfreuen den Leser ebenso. Es ist kein großer, literarischer Wurf, den man erst nach mehrmaligen Lesen zu schätzen weiß, nein es ist die Geschichte des kleinen Mannes, der zur falschen Zeit am falschen Ort gefangen war und dessen innere Überzeugung sich nicht mit den Prämissen der äußeren Geschehnisse decken konnte. Ich habe es ausgesprochen gern gelesen.

Veröffentlicht am 29.01.2018

Was vom Volk noch übrig bleibt ...

Unter der Drachenwand
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„Ein heimatloser Flüchtling, ein heimat-und staatenloser Mensch, unter falschem Namen, mit falschen Papieren, mit falschem Blut, in der falschen Zeit, im falschen Leben, in der falschen Welt.“


Inhalt


Für ...

„Ein heimatloser Flüchtling, ein heimat-und staatenloser Mensch, unter falschem Namen, mit falschen Papieren, mit falschem Blut, in der falschen Zeit, im falschen Leben, in der falschen Welt.“


Inhalt


Für Veit Kolbe, der mutig im Krieg gekämpft hat, haben sich alle Illusionen verflüchtigt. Für ihn bedeutet seine Kriegsverletzung vor allem eines: dem Schrecken entkommen, wenigstens für ein paar Monate nicht mehr an der Front zu kämpfen, sondern sich im Hinterland erholen. In der kleinen Gemeinde Mondsee gelegen im Salzburger Land, direkt unter der majestätischen Gebirgskette der Drachenwand findet er eine bescheidene Unterkunft und versucht sich nun angestrengt mental über Wasser zu halten. Seine Kriegserlebnisse holen ihn immer wieder ein, er leidet unter einer posttraumatischen Störung und ist bald schon auf Medikamente angewiesen, die seine Angstzustände mindern. Und auch, wenn die feindlichen Bomber anderswo sind, merkt er, wie die restliche zivile Bevölkerung auch: Der Krieg hat alles vernichtet, ganze Städte, tausende Menschenleben und selbst die Aussicht auf einen Neubeginn – am Boden zerstört sind die Überlebenden und gewonnen hat nur die lange Hand der Zerstörung. Für Veit wird jeder Tag in Mondsee wertvoll, denn er findet dort eine echte Liebe, ein Quäntchen Glück im Zerfall eines ganzen Landes, doch das Damoklesschwert schwebt bedrohlich über ihm. Wie lange noch, kann er sich mit gefälschten Unterlagen vor der Vaterlandspflicht freikaufen? Wann holt ihn sein ärgster Feind wieder ein?


Meinung


Arno Geiger, der österreichische Autor, der bereits mit dem deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde, fängt in dieser Erzählung ganz vortrefflich die Aussichtslosigkeit und das Unverständnis der Menschen ein, die in den Krieg geraten sind, ohne ihn jemals wirklich forciert zu haben. Das ganze Ausmaß ihrer Verzweiflung wird nun, im Winter 1944/ 1945 besonders deutlich, denn ein Sieg ist nicht mehr zu erwarten und der Schrecken des Krieges, seine allumfassende Vernichtungswirkung trifft jeden zivilen Bürger, trifft Alte, Junge, Frauen und Kinder, Städte und Menschen – die Welt liegt in Schutt und Asche und doch scheint es Hoffnung zu geben. Irgendwo zwischen Entmutigung, Verzweiflung, Sorgen und Überlebenskampf, glimmt die kleine Flamme des möglichen Neuanfangs.


Das Buch besticht durch mehrere Erzählungen und auch diverse Erzählstimmen, die leider nicht immer klar voneinander abgegrenzt sind. Dadurch entsteht ein sehr umfassendes, allumgreifendes Portrait dieser Zeit, welches nicht durch ein einziges, trauriges Schicksal wirkt, sondern eher durch das Ineinandergreifen mehrerer schwerer Ereignisse. Der Leser begegnet Menschen, die fliehen, um ihrer persönlichen Verfolgung zu entgehen, anderen die trotzig versuchen ihren Charakter zu bewahren, auch wenn Rückgrat in der Meinungsbildung gesellschaftlich nicht anerkannt wird. Es gibt die Ausgebombten, deren größter Wunsch ein Bett, etwas zu Essen und Wärme ist und es gibt die Resoluten, die selbst in der ausweglosesten Situation einen kühlen Kopf bewahren und besonnen ihren Weg durch Trümmer und Tränen beschreiten. Diese Vielfalt an Eindrücken macht im Wesentlichen auch den Reiz des Buches aus, weil dadurch das Gefühl einer intensiven, lebensnahen Geschichte entsteht, die das Ausmaß der kriegerischen Handlungen kurz vor Ende des 2. Weltkrieges authentisch und bedrückend zugleich einfängt.


Manchmal jedoch tritt die Handlung etwas auf der Stelle, wirkt die Erzählung sehr träge und ausgelaugt auf mich, so wie eben auch die Menschen, die sie schildern. Der Mangel an glücklichen Momenten, die vielen kleinen aber auch größeren Rückschläge der Protagonisten stimmen mich selbst sehr traurig und führen die Entbehrung jeglicher Notwendigkeit dieser kriegerischen Handlung erst Recht vor Augen. Mir fehlte auch etwas der Blick nach vorn, zunächst der nach vorn an die Front, dann aber auch der zwischenmenschliche Faktor. Denn die Interaktion zwischen den Personen verläuft ein bisschen wie zwischen Seifenblasen – man hält Distanz zueinander, lässt sich treiben und gerät in Gefahr zu zerplatzen, wenn man einander zu nahekommt. Letztlich wirkt das Leben des Einzelnen ebenso kostbar wie zerstörerisch und manchmal sind es nur Momente oder minimale Abweichungen, die den Verlauf der Zukunft willkürlich ändern können.


Fazit


Ich vergebe gute 4 Lesesterne für diesen ernsten, ruhigen Roman über die Schrecken und Wirkungen des Krieges im Hinterland. Er setzt sich mit zahlreichen Emotionen auseinander und veranschaulicht, warum die Menschen verzweifeln, was sie noch antreibt, wenn es scheinbar keinen Motivator mehr gibt und welche Gefühle dennoch auf der Strecke bleiben, gerade weil der Krieg nicht nur Häuser zerstört, sondern auch die Seelen der Menschen. Facettenreich und ansprechend erzählt der Autor eine Geschichte des Schreckens, in deren Materie man hier als Leser eintauchen kann, man muss aber auch bemüht sein, wieder aus dem Sumpf herauszufinden.

Veröffentlicht am 23.01.2018

Der erbitterte Kampf im eigenen Käfig

Der Tod in den stillen Winkeln des Lebens
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„Er sei froh, sagte er schließlich, dass er nur noch im eigenen Käfig kämpfe. Man wisse, wo er beginne und wo er ende. Das sei viel. Solange er außerhalb des eigenen Käfigs gekämpft habe, sei er im Draußen ...

„Er sei froh, sagte er schließlich, dass er nur noch im eigenen Käfig kämpfe. Man wisse, wo er beginne und wo er ende. Das sei viel. Solange er außerhalb des eigenen Käfigs gekämpft habe, sei er im Draußen immer mehr verloren gegangen, wo zugegeben vieles sein möge, die Fantasie, die Moral, das Abenteuer, der Ruhm nur eines eben nicht: er selbst, sein Kern.“


Inhalt


Der kurz vor der Pensionierung stehende Kriminalkommissar Ioan Cozma bekommt einen heiklen Fall zugeteilt. Ein junges Mädchen wurde brutal ermordet, angeblich von ihrem Liebhaber Adrian Lascu– doch schon bald wird klar, dass es zwischen dem Flüchtigen und dem Mordopfer gar keine sexuelle Beziehung gab, stattdessen finden sich an dem Opfer Spuren eines anderen Mannes. Und dieser wurde wahrscheinlich von Lascu beobachtet. Die Spur führt in die Heimat der Ermordeten, hinein ins beschauliche Prenzlin und Cozma erkennt, dass hinter dem Mord noch weit mehr steckt als ein persönliches Rachemotiv. Seine Ermittlungsarbeit deckt einen unmittelbaren Bezug zu einer ominösen rumänischen Firma auf, die immer wieder kleine Parzellen Agrarland von privaten Besitzern aufkauft, um diese gewinnbringend zu vermarkten. Das organisierte Verbrechen streckt diesmal seine Hand aus und wirft die Frage nach dem übergeordneten Plan und den Drahtziehern im Hintergrund auf. Cozma und sein gleichaltriger Kollege Cippo wühlen tief in den korrupten Machenschaften der Verantwortlichen und geraten bald selbst in die Schusslinie der Unberechenbarkeit …


Meinung


Der deutsche Erfolgsautor Oliver Bottini, der bereits mit dem deutschen Krimipreis ausgezeichnet wurde, konzentriert sich mit dem vorliegenden Roman auf ein dunkles Kapitel der jüngeren Vergangenheit, welches gesellschaftskritisch und sachlich inspiriert über Verbindungen zwischen europäischen Staaten berichtet und weit mehr Input bietet, als ein herkömmlicher Kriminalroman. Besonders intensiv und ungewöhnlich fand ich die Kombination aus persönlichen Schicksalen, Ermittlern mit Profil, Nebencharakteren mit dramatischen Lebensgeschichten und ganz generell dem Vorhandensein einer großen, erzählenswerten Geschichte.


Dieser stille, doch keineswegs spannungsarme Krimi, setzt den Fokus auf eine Hintergrundhandlung, die erst aus dem Zusammenspiel der Charaktere und deren Verfehlungen, sowie auf einer großen Gemeinsamkeit beruht. Einerseits sind da die Guten, die für Gerechtigkeit sorgen, die objektiv und unparteiisch handeln und mit Integrität aufwarten und zum anderen die Bösen, die sich mittels Macht und Gier auf jede Unwegbarkeit einlassen und voller Skrupellosigkeit vor Mord und Gewalt nicht zurückschrecken. Der Knackpunkt jedoch ist der, dass es der Autor vermag, glaubwürdige Charaktere zu schaffen, die Ecken und Kanten haben, die sich nicht immer geradlinig durchs Leben bewegen und denen man als Leser eine große Authentizität zuschreibt.


Besonders hervorheben möchte ich auch die Vielschichtigkeit, mit der Bottini aufwartet. Zwar spürt man durchaus die Ermittlungstätigkeit der Beamten und auch die Angst der Opfer, selbst die unglückliche Involvierung diverser Randfiguren, doch letztlich ist es das Geflecht aller Begebenheiten, die diesen Kriminalroman so gut und andersartig gestalten. Als Leser hat man das Gefühl, immer tiefer in eine Geschichte einzutauchen, die sich erst nach und nach in ihrer vollen Dimension entfaltet. Und so ist es nicht nur die einprägsame Sprache, die Nachhall bringt, sondern in erster Linie ein geradliniger, umfassender Plot, der sich nicht vordergründig auf Action und Gewalt stützt, dafür aber immer mehr vermittelt, als man es aus manch anderer kriminalistischer Erzählung gewöhnt ist.


Fazit


Ich vergebe 5 Lesesterne und eine unbedingte Leseempfehlung für diesen Kriminalroman, der mit leichter Hand eine bedrückende Geschichte der Menschen erzählt, der Gefühle wie Machtlosigkeit, Hoffnungsschimmer und Einsamkeit thematisiert und selbst Werte wie Freundschaft, Loyalität und Aufrichtigkeit aufgreift. Für mich eine belletristische Glanzleistung, die sich sehr positiv von anderen Romanen abhebt und einen unverwechselbaren Erzählton anschlägt. Für alle Leser, die Bücher mit Substanz mögen und sich gerne mit diversen Charakteren auseinandersetzen – eine gelungene Mischung, die mir lange in Erinnerung bleiben wird.