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Veröffentlicht am 17.09.2019

Sehnsucht und Sühne im Schatten des Krieges

Der Wintersoldat
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„Wenn der Tod so nah war, wurde er möglicherweise ja zu etwas, das willkommen war, nicht etwas, vor dem man Angst hatte. Vielleicht wäre es leichter, wenn seine Reise hier endete. Und irgendwie würde es ...

„Wenn der Tod so nah war, wurde er möglicherweise ja zu etwas, das willkommen war, nicht etwas, vor dem man Angst hatte. Vielleicht wäre es leichter, wenn seine Reise hier endete. Und irgendwie würde es auch passen, wieder zurück bei der Kirche zu sein, wo sein neues Leben begonnen hatte. War es das, wohin es ihn gezogen hatte, eine Art von Ende, eine Befreiung?“


Inhalt

Lucius Krzelewski steckt mitten im Studium der Medizin, als der 1. Weltkrieg das Land überrollt und die bisherigen Verpflichtungen aus allen Angeln hebt. Jeder Arzt wird nun gebraucht, selbst wenn er keinerlei praktische Erfahrung besitzt und noch viel lernen müsste. Den 22-Jährigen verschlägt es nach Lemnowice, einer kleinen Ortschaft in den Karpaten, die im Hinterfeld des Kriegsgetümmels liegt. Dort wird er in einem provisorischen Lazarett empfangen, welches sich in der ortsansässigen Kirche befindet.

Allerdings gibt es keinen zweiten Arzt, sondern nur noch die beherzte Krankenschwester Margarete, die sich das Operieren abgeschaut hat und sich derzeit allein durchschlägt. Gemeinsam nehmen sie die Herausforderung an und etablieren eine Art Krankenhausalltag, in dem sogar Genesungen gefeiert werden können. Doch die Soldaten an der Front werden rar, so dass hin und wieder ein Regiment ins entfernte Lemnowice kommt, um die nächsten Männer abzuholen. Lucius wagt es, sich gegen den Abtransport eines Mannes zu stellen, der zwar keine äußerlichen Verletzungen hat, jedoch ein schweres Nervenleiden und Depressionen. Und dafür muss er büßen, wenn auch nicht selbst, denn Ärzte sind rar und unantastbar.

Als wenig später die Kampfhandlungen immer näher kommen, verschwindet Margarete in der Dunkelheit der Nacht und Lucius macht sich auf die Suche nach ihr, nach der starken, unerschrockenen Frau, in die er sich verliebt hat, doch am nächsten Morgen ist er selbst der Front zu nahe gekommen und das Schicksal trennt die beiden …


Meinung

Auf diesen Roman bin ich nicht nur wegen seiner verheißungsvollen Geschichte aufmerksam geworden, sondern auch wegen der begeisterten Pressestimmen und einiger hochlobender Rezensionen. Versprochen wird eine Geschichte vom Krieg und von der Liebe, von verhängnisvollen Irrtümern und immerwährenden Sehnsüchten, von der Zerbrechlichkeit des Glücks und der Widerstandsfähigkeit der Menschen im Angesicht der totalen Zerstörung. Und all das vermag dieses Buch in vollem Umfang zu geben. Es ist eine Geschichte zum Eintauchen in eine andere Zeit, zum Versinken in ein anderes Leben und nah dran an den Protagonisten und ihren Gedankengängen.

Im positivsten Sinne handelt es sich hier um gute, erzählenswerte Unterhaltungsliteratur, die ähnlich wie im Spielfilm viele Eindrücke vermittelt und ständig Bilder vor dem geistigen Auge heraufbeschwört. Dem Autor gelingt es, seinen Leser mitten hinein zu ziehen, in diese Zeit mit ihren entfernten Schrecken, ihren glücklichen und dramatischen Begegnungen, ihren Chancen und Unmöglichkeiten.

Besonders authentisch empfinde ich den Blickwinkel, aus dem erzählt wird. Denn Lucius hat natürlich, wie jeder andere auch ein Leben vor dem Krieg gehabt, er wird gezwungen recht bald ein Höchstmaß an Verantwortung zu übernehmen und er muss mit den Konsequenzen seiner Entscheidungen leben. Dieses schnelle Erwachsenwerden des Mannes, seine Selbstzweifel aber auch die kleinen Freuden des Alltags werden liebevoll und umfassend beschrieben. Darüber hinaus wird der Text niemals rührselig, auch nicht sonderlich emotional, bei so viel Traurigkeit ist es eine Kunst die Objektivität zu wahren, ein gelungener Schachzug, wie ich finde.


Fazit

Für diesen wunderbaren Roman vergebe ich begeisterte 5 Lesesterne und eine Leseempfehlung, für alle, die gerne in Geschichten versinken, die man einfach miterleben muss, an der Seite eines jungen Arztes, der selbst noch auf der Suche nach dem Sinn des Lebens ist. Natürlich ist das Buch irgendwann zu Ende, man kann auch keine weiterreichenden Gedanken dazu entwickeln, denn die Erzählung ist in sich geschlossen, sehr rund und lässt wenig Raum für Spekulationen. Literarisch betrachtet, hätte ich mir etwas mehr Anspruch gewünscht, inhaltlich jedoch belohnt dieser Roman mit einer realistischen, aussagekräftigen, aufwühlenden Geschichte über Menschen jenseits der Front, die in ihrer Zeit Großes geleistet haben und Vieles entbehren mussten.

Veröffentlicht am 11.09.2019

Und willst du das ändern?

Der Sprung
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„Leben heißt zurückbleiben hinter den Dingen, den Erwartungen, den Menschen. Besser du fängst früh genug damit an, gut darin zu werden. Wenn du gut leben willst, musst du ein verdammt guter Verlierer ...

„Leben heißt zurückbleiben hinter den Dingen, den Erwartungen, den Menschen. Besser du fängst früh genug damit an, gut darin zu werden. Wenn du gut leben willst, musst du ein verdammt guter Verlierer sein.“


Inhalt

Manuela Kühne geht eines Tages aufs Dach und alle Umstehenden vermuten einen geplanten Suizidversuch. Plötzlich tauchen Einsatzwagen der Polizei auf, ein Sprungtuch wird positioniert und der Einsatzleiter versucht, die junge Frau dazu zu bewegen, auf normalen Weg das Dach zu verlassen. Aber Manuela bleibt standhaft und deckt in der Zwischenzeit die Dachziegel ab und wirft sie in unregelmäßigen Abständen auf die Gaffer vor dem Haus. Denn auf der Straße ist die Hölle los, so viele Schaulustige versammeln sich, einige motzen, andere schütteln den Kopf und der Laden an der Ecke, der eigentlich kurz vorm Bankrott steht, erblüht zu neuem Leben. Einen Tag und eine Nacht hält die junge Frau die Menschen in Atem, gibt ihnen Zeit darüber nachzudenken, warum man sich vom Dach stürzen möchte oder wieso gerade nicht. Und im gleichen Maße, wie Manuela provoziert, berührt sie die Alltäglichkeit und die eingefahrenen Wege der Nachbarschaft. Denn ein Sprung vom Dach will gut überlegt sein, vielleicht kann man auch im Leben etwas ändern, bevor es sich so dermaßen zuspitzt …


Meinung

Simone Lappert wählt für ihre Geschichte eine Ausnahmesituation, indem sie eine junge Frau auf das Dach eines Hauses steigen lässt, von dem sie nur durch aufgeben oder springen wieder herunterkommt. Dabei weiß man gar nicht so genau, warum sie sich das Leben nehmen möchte, oder ob es ein unglücklicher Umstand ist, der sie in diese Lage gebracht hat. Aber ihre geplante Aktion setzt diverse Denkprozesse in den Menschen ihrer Umgebung frei, die selbst ein Päckchen zu tragen haben und deren Leben längst nicht so glücklich ist, wie sie es sich eigentlich vorstellen. Nur wo ist die Grenze zwischen einer Tat, die dem Leben unwiederbringlich ein Ende setzt und der Möglichkeit, genau diesen Umstand abzuwenden?


Das grandiose an diesem Buch ist die tiefgreifende psychologische Frage nach den Möglichkeiten der Veränderung jenseits der eingefahrenen Wege. Dabei wählt die Autorin eine ungewöhnliche Erzählperspektive, denn sie gliedert das Buch in viele kleine Kapitel, die jeweils von einem anderen Protagonisten gefüllt werden. Auf diese Art und Weise wird ein ganzes Potpourri an Geschichten offenbart, angefangen vom Leben des Bettlers auf der Straße, weiter zur langjährigen Kneipenbesitzerin, deren Lokal für alle offensteht, bis hin zum jungen Polizisten, der sich der momentanen Situation nicht gewachsen fühlt, weil sie ihn zu sehr an seine eigene traumatische Vergangenheit erinnert. All jene und noch viele Menschen mehr, machen sich plötzlich Gedanken und treffen Entscheidungen, die sie andernfalls nicht in Betracht gezogen hätten.


Diese verbundenen Schicksale sind es, die den Großteil des Romans ausmachen, so dass Manuela auf dem Dach eher wie der Tropfen auf dem heißen Stein wirkt, nicht sie ist es, die bedauert werden muss, sondern all jene, denen es nicht gelingt aus eigener Kraft einen Richtungswechsel voranzutreiben. Ein weiteres Plus dieser kurzweiligen, doch intensiven Geschichte ist der unvergängliche Optimismus, der letztlich den ganzen Text durchdringt. In Anbetracht der dramatischen Ausgangslage empfand ich dieses Urvertrauen, die Kraft der positiven Gedanken regelrecht erquickend, denn es hätte sich auch ganz anders anfühlen können, wenn ein Mensch sich ernsthaft damit beschäftigt, einen so öffentlichen Selbstmord zu begehen.


Fazit

Ich vergebe begeisterte 5 Lesesterne und freue mich über ein weiteres Jahreshighlight 2019. Ein intensiver, dramatischer Roman mit einer aufrüttelnden Geschichte und einer klaren Botschaft. Dieses Buch lädt dazu ein, es auch ein zweites oder drittes Mal zu lesen und immer wieder neue Entdeckungen zu machen. Bestens geeignet für alle Leser, die Unterhaltungsliteratur mit Anspruch mögen und sich gerne in Texte hineinversetzen, die andere Schicksale kennenlernen möchten und einen differenzierten Einblick in das Leben bekommen wollen. Für diese Vielschichtigkeit und hohe Präsenz des Textes kann man nur applaudieren und die Lektüre wärmstens weiterempfehlen.

Veröffentlicht am 02.09.2019

Im Wandschrank des Vertrauens

Alles still auf einmal
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„Denn Daddy machte es auch: Er redete nicht so über Andy, wie er wirklich war. Und so weinen zwar alle und waren traurig, aber nicht über den echten Andy, sondern über einen erfundenen. Es war, als ob ...

„Denn Daddy machte es auch: Er redete nicht so über Andy, wie er wirklich war. Und so weinen zwar alle und waren traurig, aber nicht über den echten Andy, sondern über einen erfundenen. Es war, als ob keiner richtig Abschied von ihm nimmt. Ich wäre am liebsten aufgestanden und hätte alle angeschrien, dass sie aufhören sollen, über meinen Bruder zu lügen.“


Inhalt


An der Schule des kleinen Zachary Taylor bricht von einer Sekunde zur nächsten das Chaos los, als ein bewaffneter Amokläufer die Türen der Klassenzimmer aufreißt und wahllos auf die Kinder und Lehrer feuert. Geistesgegenwärtig versteckt seine Lehrerin die Kinder und sich selbst im Wandschrank und hofft auf ein glückliches Ende der Situation. Doch nachdem die Polizei den Amokläufer stoppen konnte, zählt man dennoch 19 Todesopfer. Darunter auch Andy, den großen Bruder von Zachary, der bereits in der vierten Klasse war. Fortan bricht die heile Welt von Zachary vollkommen zusammen, denn nicht nur sein eigenes Trauma muss er überwinden, sondern er erlebt auch direkt den Zerfall seiner Familie. Während seine Mutter einen Schock erleidet und später Rachegelüste gegenüber der Familie des Täters hegt, zieht sich sein Vater immer mehr zurück und streitet unaufhörlich mit seiner Frau. Zach versteht längst nicht alles, was genau zwischen den Erwachsenen vorgefallen ist, aber keiner schenkt ihm ein offenes Ohr und spendet Kraft. In seiner Einsamkeit sucht sich Zachary ein Versteck im Wandschrank seines verstorbenen Bruders, dort durfte er früher nie hin, doch jetzt sitzt er auf dessen Schlafsack und erzählt Andy von den Dingen, die ihn wirklich bewegen …


Meinung


In ihrem Debütroman nimmt sich die junge Autorin Rhiannon Navin eines nicht alltäglichen, aber doch bedrohlichen Zustands an, zu dem sie ihr eigenes Kind nach einer entsprechenden Schulübung inspiriert hat. Der Verlag verspricht eine Geschichte wie aus Dunkelheit und Licht: traurig und dabei in jedem Augenblick voll Hoffnung. Und genau so habe ich das Gelesene auch empfunden: direkt, ungeschönt und zutiefst beeindruckend, ganz besonders, weil hier die kindliche Erzählfigur gewählt wurde, die weniger mit dem Verstand als mit dem Herzen denkt und die gerade deswegen den Verlust des großen Bruders in einem ehrlichen, aufrichtigen Licht erscheinen lässt, unabhängig davon, was man angeblich fühlen darf und soll oder auch nicht.

Ganz herausragend finde ich die Charakterisierung der Menschen aus Sicht des 6-jährigen Zacharys, der beide Elternteile irgendwie an diese Ausnahmesituation verliert und sich nichts sehnlicher wünscht als seine Mutter und den Vater so zu bekommen, wie er sie bisher als verlässlich und belastbar erlebte, kannte und liebte. Gerade weil die Autorin sehr geschickt eine Geschichte zwischen den Zeilen entwirft, wird deutlich warum Melissa und Jack nicht so weitermachen können wie bisher, eben weil ihr Leben vor dem Amoklauf auch nicht mehr aufrichtig und in beiderseitigem Einvernehmen stattfand, nur das sie diesen Umstand gegenüber ihren Söhnen gut verbergen konnten.

Wirklich traurig und bedrückend ist das Buch aber nicht, denn Zachary zeigt zwar die gesamte Gefühlspalette zwischen Angst, Trauer, Wut und Einsamkeit, aber immer wieder schöpft er auch Hoffnung, findet kurzzeitigen Trost in Kleinigkeiten und ist sich sicher, dass er seine Eltern hier unterstützen muss, denn diese sind im Angesicht des Schicksalsschlags vollkommen hilflos.

Irgendwie eine verkehrte Welt, wenn sich kleine Kinder genötigt fühlen, ihren Eltern zu helfen, die ihrerseits nicht einmal die Kraft aufbringen, ihrem jüngsten Sohn die Wahrheit zu sagen und ihn in verschiedene Dinge einzuweihen. Dieser Umstand hat mich während des Lesens enorm gefesselt, denn er zeigt, wie viel kleine Kinder wahrnehmen, wie viel ihnen zuzumuten ist und warum es in meinen Augen essentiell wichtig ist, sich auf gleicher Augenhöhe mit den Kindern zu verständigen, ihnen zuzuhören und auch schlimme Situationen im Gespräch zu verarbeiten. Sowohl Melissa als auch Jack können das nicht und deswegen sucht sich Zachary lieber den schweigsamen Wandschrank als emotionalen Rückzugsort, um dort seinem Bruder Andy nachzuspüren.


Fazit


Für diesen ungewöhnlichen, emotionalen Roman mit vielen Denkansätzen und liebevoll gezeichneten Charakteren und Situationen vergebe ich 5 Lesesterne. Tatsächlich ein unverbrauchtes Thema, ein kindlicher Ansatz, ein großes Drama und all das innerhalb eines kleinen Familienverbandes, der durch das Schicksal gebeutelt und geprüft wird. Sicherlich ein Unterhaltungsroman aber kein seichter, sondern einer, der nachdenklich stimmt und Eltern-Kind-Beziehungen aus diversen Blickwinkeln betrachtet. Gerade wenn man selbst Kinder hat, findet man hier wichtige Grundsätze, die man verinnerlicht haben muss, um Vorbildfunktion leisten zu können. Diese Geschichte berührt den Leser, sie macht ihn aufmerksam auf das wichtige im Leben und die Unverzichtbarkeit von Zuwendung und Zärtlichkeit. Absolut empfehlenswert!

Veröffentlicht am 07.07.2019

Ein Gefangener, der es bleiben wird

Am Tag davor
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„Die Verantwortlichen für dieses Verbrechen, die Überlebenden, die Zeugen waren der Reihe nach gestorben. Nur die zerstörten Familien waren noch übrig, Witwen und Waisen, um die Frankreich nie getrauert ...

„Die Verantwortlichen für dieses Verbrechen, die Überlebenden, die Zeugen waren der Reihe nach gestorben. Nur die zerstörten Familien waren noch übrig, Witwen und Waisen, um die Frankreich nie getrauert hatte. Und für diese Familien, diese Witwen und Waisen, diese vernichtende Erinnerung, für die Würde Joseph Flavents musste ich den letzten Schuldigen büßen lassen. Und selbst dafür bezahlen.“


Inhalt


Zeit seines Lebens beschäftigt sich Michel Flavent mit dem Grubenunglück von 1974, als 42 Männer auf der Zeche Saint-Amé in Liévin-Lens ums Leben gekommen sind. Sein eigener Bruder, ein Bergarbeiter in ebenjener Grube, ist nur 22 Tage nach dem Unglück an seinen schweren Verbrennungen gestorben, nicht wie seine Kumpel noch direkt unter der Erde erstickt und verschüttet, aber dennoch schonungslos mit gerade einmal 30 Jahren aus dem Leben gerissen. Michel selbst, damals ein Teenager, sehnt sich nach Rache, nach Vergeltung, nach einem Strafprozess, der die Schuldigen rächt, doch außer großer Landestrauer und wenigen markigen Worten der Politiker, reiht sich auch dieses nationale Unglück in ein einfaches Vergessen, weil man dem Schicksal nun einmal nichts entgegensetzen kann.

Nachdem ein halbes Leben später Michels geliebte Frau Cécile verstirbt, nimmt sich der mittlerweile 50-Jährige vor, den letzten Schuldigen auf eigene Faust zur Strecke zu bringen und kehrt nach so vielen Jahren in seinen Heimatort zurück. Tatsächlich gibt es den mittlerweile betagten Lucien Dravelle noch immer, er sitzt im Rollstuhl, hustet sich nach Jahren auf der Zeche die Seele aus dem Leib und wartet nur noch auf sein eigenes Ende. Michel freundet sich mit ihm an, gewinnt sein Vertrauen und stülpt ihm letztlich eine Plastiktüte über den Kopf, um mit aller Macht einen Strafprozess zu erzwingen. Denn wenn Lucien stirbt, wird Michel endlich jene Gerechtigkeit zu Teil, die er sich für seinen Bruder und dessen Kumpel sehnlichst wünscht. Doch Lucien überlebt und der beginnende Prozess bringt Wahrheiten ans Licht, die Michel nur schwer akzeptieren kann …


Meinung


Sorj Chalandon zählt zu den wichtigsten zeitgenössischen französischen Schriftstellern und ist bereits mehrfach für dem Prix Goncourt nominiert wurden. Dies war mein erster Roman aus seiner Feder und es wird bestimmt nicht der letzte bleiben, denn selten erlebt man so ein vielschichtiges, tiefgründiges und emotionales Buch, welches ohne großes Tam-Tam ein dramatisches persönliches Schicksal in Worte kleidet und dabei weder auf Effekthascherei noch Mitleid abzielt. Es bleibt neutral, sachlich und doch voller Traurigkeit und Erinnerungsflut. Die wichtigen Fragen des Lebens bilden den Hintergrund zu einer Erzählung über Rache, Schuld und Angst, möglicherweise den falschen Weg gewählt zu haben.

Sehr ungewöhnlich aber im Verlauf immer besser fand ich den sachlich-neutralen Erzählton, der es mir möglich machte, für den Protagonisten Michel nicht nur Verachtung und Unverständnis zu empfinden, sondern die von Liebe durchtränkte Bruderbeziehung und ihr tragisches Ende in vollem Umfang wahrzunehmen. Inhaltlich gliedert sich das Buch in mehrere Teile, so das man zwei junge Männer kennenlernt und ihre auseinandergerissene Welt, einen durchs Leben gereiften Mann, der sich intensiv mit seinen Rachegelüsten beschäftigt und schließlich die Vollendung durch den erzwungenen Prozess, in dem Michel weder Mitleid noch Recht möchte, sondern letztlich eine gerechte Strafe. Besonderes Augenmerk legt der Autor auf die inneren Beweggründe, aber auch auf die Tat und den Verlauf des Strafverfahrens, welches viele Jahre später nochmals Medienpräsenz erzeugt. Und immer mehr verliert man sich in einer alles umfassenden Melancholie, einer Lebenstraurigkeit, die langsam und unaufhaltsam gewachsen ist, kämpft selbst gegen die haarsträubende Ungerechtigkeit und den bitteren Beigeschmack, den die Zeit nicht verwischen kann.


Fazit


Ich vergebe begeisterte 5 Lesesterne und habe ein Jahreshighlight 2019 gefunden. Für mich einfach das perfekte Buch - es bietet eine spannende Handlung, glaubhafte Protagonisten, eine intensive Selbstreflexion, einen geschichtlichen Bezug und literarischen Anspruch. Aber der eigentliche Mehrwert liegt in dieser alles umfassenden Schwere, die das Schicksal, die eigenen Hoffnungen, die traurigen Wahrheiten und unveränderlichen Ereignisse der Vergangenheit in einer wunderbaren Komposition zusammensetzt, so das ich eine klare und ungemein bewegende Aussage daraus ziehen kann: „Das Leben nimmt und gibt, der Mensch ist nur ein kleines Rädchen im Getriebe und muss sich damit abfinden, das Wahrheiten das Gewissen einholen und geliebte Menschen dennoch immer im Herzen bleiben, egal wie ungerecht das Schicksal auch zuschlagen mag, unabhängig davon, ob man in der Vergangenheit richtige oder falsche Entscheidungen getroffen hat.“ Einfach ein wahnsinnig gutes, stimmiges Buch!

Veröffentlicht am 13.04.2019

Die fensterlose Hütte im Wald

Liebes Kind
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„In seiner Wirklichkeit hatte er mich gefragt, ob ich bereit war zu sterben, und ich hatte mich mit einem stummen Nicken einverstanden gezeigt. Ihm meine Erlaubnis erteilt.“


Inhalt


Seit 14 Jahren wird ...

„In seiner Wirklichkeit hatte er mich gefragt, ob ich bereit war zu sterben, und ich hatte mich mit einem stummen Nicken einverstanden gezeigt. Ihm meine Erlaubnis erteilt.“


Inhalt


Seit 14 Jahren wird die damals 23-jährige Studentin Lena Beck vermisst. Ihre Eltern haben die Hoffnung nie aufgegeben, sie eines Tages wiederzufinden. Doch als Lenas Vater Matthias zu einer Schwerverletzten ins Krankenhaus gerufen wird, um sie möglicherweise als seine Tochter zu identifizieren, wird er enttäuscht. Die Fremde hat ein Martyrium in einer einsamen, fensterlosen Hütte im Wald hinter sich, dem sie nur mit Mühe und Gewalt entkommen konnte. Mit ihr geflohen ist ein 13-jähriges Mädchen, angeblich ihre Tochter Hannah, doch diese sieht Lena frappierend ähnlich und wird mittels DNA-Test auch als Kind der Vermissten anerkannt. Für Matthias stellt sich nun die bange Frage, was aus seiner Tochter wirklich geworden ist, wenn die Misshandelte behauptet, Lena zu sein und doch eine ganz andere ist …


Meinung


Dieses Thriller-Debüt der Münchner Autorin Romy Hausmann ist eine Wucht und vereint alles, was ein grandioser Spannungsroman haben muss. Zunächst fällt eine ungewöhnliche Aufteilung der Protagonisten auf, denn hier spricht nicht nur die Gefangene selbst, sondern auch ein schwer gestörtes Kind und ein psychisch labiler, verzweifelter Vater – und jeder öffnet für den Leser eine andere Tür, um ihn am Höllenszenario in der Hütte teilhaben zu lassen. Äußerst geschickt wechselt die Autorin nicht nur die Erzählstimme, sondern auch die Zeitebene.

Während man manchmal direkt in der Hütte mit dem ausfallenden Zirkulationsapparat, der für die Frischluft verantwortlich ist, auf ein grausames Ende einer rekrutierten Zwangsfamilie wartet, liest man im nächsten Moment die sensationslüsternen Zeitungsartikel über ein angebliches Partygirl, welches sich mit dem falschen Mann eingelassen hat.

Darüber hinaus fesselt aber gerade die gegenwärtige Situation, einer schwer traumatisierten jungen Frau und zweier ebenso beschädigten Kinderseelen, die sich nun in einem Alltag jenseits ihres fensterlosen Zuhauses zurechtfinden müssen. Jede Seite bringt neue Erkenntnisse und macht den Leser auf die Entwicklung neugierig.

Der eigentlich perfekte Schachzug dieses Buches ist jedoch die sich immer mehr verdichtende Möglichkeit, dass der Täter gar nicht tot ist. Vielleicht ist ihm die Flucht gelungen, vielleicht will er seine perfekte kleine Familie zurückhaben und sinnt auf eine Möglichkeit erneut in deren Leben zu treten. Und warum gibt die falsche „Lena“ immer wieder Unwahrheiten kund? Wer schützt hier wen und wovor? Kluge, aufregende Unterhaltungsliteratur, die tiefe Ängste hervorruft und ein Lügengeflecht aufbaut, bei dem sich jeder fragt, was der andere verbirgt.


Fazit


Dieser Thriller spielt in der ganz großen Liga mit und konnte mich auf Anhieb überzeugen, deshalb vergebe ich begeisterte 5 Lesesterne. Definitiv eine neue Richtung und diverse Highlights, die immer genau im richtigen Moment gezündet werden. Dennoch spielt die Handlung mehr auf psychologischer Ebene, sie beschreibt traumatisierte Menschen jeder Altersklasse, sie ruft Beklemmung und Bestürzung hervor und agiert weniger mit wilden Mutmaßungen, als vielmehr mit bitteren Wahrheiten.

Seit langer Zeit hat mich ein Thriller wieder einmal derart ausgiebig gefesselt. Es gelingt dem Text, dass er in Erinnerung bleibt, dass man auch nach der Lektüre noch darüber nachsinnt und sich in die Beweggründe aller Beteiligten hineinversetzen möchte. Durch eine Empfehlung bin ich überhaupt erst auf das Buch aufmerksam geworden, wie gut, dass es immer wieder Überraschungen gibt. Auf weitere Bücher der Autorin bin ich sehr gespannt, ein echtes New-Comer-Talent!