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Veröffentlicht am 01.05.2021

Diener der idealen Gerechtigkeit

Das Haus des Windes
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„Und wie seltsam, wie merkwürdig, dass etwas so mächtig werden kann, wenn es am falschen Ort Wurzeln schlägt. Ideen auch, murmelte ich. Ideen.“

Inhalt

Joe Coutts steht an der Schwelle zur Pubertät und ...

„Und wie seltsam, wie merkwürdig, dass etwas so mächtig werden kann, wenn es am falschen Ort Wurzeln schlägt. Ideen auch, murmelte ich. Ideen.“

Inhalt

Joe Coutts steht an der Schwelle zur Pubertät und verbringt seine Nachmittage gerne draußen im Indianerreservat in Gesellschaft seiner Freunde, mit denen er alle Gedanken teilt, die sich ihm aufdrängen. Bis eines Tages seine Mutter Opfer einer Vergewaltigung wird und sich wie ein Häufchen Elend in ihr Zimmer verzieht und fortan weder für den Vater, noch den Sohn ansprechbar ist. Für Joe bricht eine Welt zusammen, nicht nur weil die Erwachsenen mehr zu wissen scheinen als er, sondern vor allem weil sein geordneter, friedvoller Familienalltag vollkommen auf den Kopf gestellt wurde. Langsam nähert sich der Heranwachsende einer Wahrheit, die er zwar eigentlich nicht kennen möchte, die ihm aber hoffentlich die Mutter zurückbringt, deren körperliche Hülle mittlerweile wieder durchs Haus eilt, die aber dennoch eine gebrochene Frau ist. Als der mutmaßliche Vergewaltiger wieder ganz in der Nähe auftaucht, reift in Joe ein mörderischer Plan, denn Gerechtigkeit, die nicht vollzogen wird, macht nichts ungeschehen und wenn kein anderer dazu fähig ist, Rache zu üben, dann wird er eben selbst die Dinge, die getan werden müssen, in die Hand nehmen …

Meinung

Der vorliegende Roman der amerikanischen Bestsellerautorin, die hiermit den National Book Award für den besten Roman des Jahres erhielt, thematisiert nicht nur die Vergewaltigung und Selbstjustiz, sondern zeigt ein buntes Leben zwischen der Tradition und der Moderne in den Indianerreservaten von North Dakota. Während die Handlung des Buches im Jahre 1988 angesiedelt ist, schildert der Erzähler die Dinge aus seiner Erinnerung, die durchsetzt ist mit zahlreichen Momentaufnahmen, zwischen dem ganz normalen Leben als Teenager, seiner Identität und Herkunft im Reservat und den Handlungen, denen er sich schuldig gemacht hat. Es sind also eine Menge Hintergründe und viele Jahre des Lebens, die sich hier auf eine relativ kurze Zeitspanne erstrecken und an deren Ende ein abgeschlossener Reifungsprozess steht, bei dem ein Junge zum Mann geworden ist.

Das Buch stand nun schon etliche Jahre ungelesen im Regal, da ich aber nach dem Werk „Der Gott am Ende der Straße“, welches ich im Erscheinungsjahr gelesen habe, unbedingt noch ein weiteres Buch der Autorin kennenlernen wollte, habe ich nun dieses hier in Angriff genommen und bin mit einer bestimmten Erwartungshaltung an die Lektüre herangegangen. Erhofft habe ich mir einen emotional-intensiven Roman über die Frage der Schuld und die Fallen der Entscheidungsgewalt in Verbindung mit dem Leben eines Jungen, der Rache üben möchte und dem es auch gelingt – jedoch mit der Ambivalenz widerstreitender Gefühle, die die Grenzen zwischen Recht und Gerechtigkeit verwischen lassen. Und dieser Sachverhalt wird im vorliegenden Text stiefmütterlich behandelt, weil er eigentlich nur der Aufhänger für die Story ist und das eigentliche Setting ganz andere Prioritäten setzt.

Viel intensiver und konkreter wird das alltägliche Leben im Reservat beleuchtet, ebenso wie die Gefühlswelt heranwachsender Jungen, die sich plötzlich fürs weibliche Geschlecht interessieren und heimlich Bier trinken. Es geht um Freundschaft und Zusammenhalt, um ein Leben in einem Grenzgebiet, wo es klare Richtlinien und unterschiedliche Gesetze gibt und die Menschen sehr genau darauf achten, wer mit wem Umgang pflegt. Tatsächlich hat mir dieser ausufernde, umfassende Stil, der so viele Aspekte aufgreift am allerwenigsten gefallen, denn der Text mäandert und kommt vom Hundertsten ins Tausendste, ohne eine klar erkennbare Linie, eine zielgerichtete Struktur. Die Inhalte, die der Klappentext verspricht, sind dabei eher Nebensächlichkeiten und gehen irgendwo zwischen der Stimmung und den Menschen der Geschichte verloren.

Sprachlich hingegen habe ich kaum etwas zu meckern. Louise Erdrich schreibt formschön, lässt Bilder lebendig werden und bündelt Gefühle an der richtigen Stelle, dass die Inhalte dabei schwanken, ist für die Geschichte rund um Joe Coutts nicht störend, wohl aber für die Gesamtausrichtung des Romans. Für mich war das Lesen ein ständiges Auf und Ab, ein Wechsel zwischen langatmigen, uninteressanten Passagen und dann wieder dem Aufblitzen genialer Gedankengänge, denen ich voller Eifer folgen konnte. Die Story ist also weder langweilig noch absolut spannend, sie entspricht nur nicht meinen persönlichen Ansprüchen.

Fazit

Ich vergebe 3 Lesesterne für diesen Roman über das Erwachsenwerden eines jungen Mannes, der von Rachegelüsten gequält wird und der in einer Welt aufwächst, die sehr genau zwischen Gut und Böse unterscheidet. Leider konzentriert sich das Buch vielmehr auf das Leben im Indianerreservat als auf die tatsächlichen Ereignisse zwischen Vergewaltigung, Rachegedanken und Mord und dadurch hat es mir diesbezüglich eindeutig zu wenig Input geliefert. Die fehlende Ausrichtung und die verschwimmenden Konturen sind Kritikpunkte, die mich ebenfalls sehr gestört haben, so dass ich ein im Kern gutes Buch eher als enttäuschend empfand und es nur bedingt weiterempfehlen kann.

Zunächst dachte ich, dass ich mit „Der Gott am Ende der Straße“ ein inhaltlich schwächeres Buch der Autorin erwischt hätte, doch nun merke ich, dass auch dieses hier nicht ganz meinen Geschmack trifft. Im Regal wartet nun noch „Ein Lied für die Geister“ auf mich, sollte auch dieses nur eine mittelmäßige Bewertung schaffen, dann werde ich die Autorin von meiner Liste streichen, nicht weil sie schlecht schreibt, sondern weil mir die Bücher zu wenig Gedankenfutter liefern und mich emotional nicht erreichen können.

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Veröffentlicht am 01.05.2021

Meine verhängnisvolle Schwäche

Seitensprung
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„Ihr Plan war so effektiv, dass ich mich schließlich selbst fragte, ob ich verrückt war. Vielleicht war der Gedanke, dass ich nicht verrückt war und sie mir nur einreden wollten, ich sei verrückt, ein ...

„Ihr Plan war so effektiv, dass ich mich schließlich selbst fragte, ob ich verrückt war. Vielleicht war der Gedanke, dass ich nicht verrückt war und sie mir nur einreden wollten, ich sei verrückt, ein Ausdruck meiner Verrücktheit.“

Inhalt

Früher war Jack Harper Musiker und führte eine intensive Ehe mit der Frau seines Herzens. Mittlerweile ist er nicht nur trockener Alkoholiker und gesetzter Immobilienmakler sondern auch Vater eines Sohnes, doch sein Leben hat sich dennoch vollkommen falsch entwickelt, wie er nach einem Gespräch mit einem ehemaligen Freund und Bandmitglied erschreckend feststellen muss. Was er braucht ist etwas Abwechslung und sei es nur, um aus seiner verkorksten Situation zu fliehen. Als er sich auf Empfehlung bei einem Onlinedatingportal anmeldet, bei dem sich Männer und Frauen aus festen Beziehungen unverbindlichen zum Sex verabreden können, spürt er endlich wieder etwas Nervenkitzel. Doch die Enttäuschung folgt auf dem Fuß, denn das erste Treffen zwischen ihm und der unbekannten Frau wird zum Fiasko, denn sie liegt ermordet im Bett und Jack ist der erste, der nach dem Täter die Wohnung betritt. Für die Polizei, die er pflichtbewusst alarmiert, ist schnell klar, dass Jack gekommen ist, um seine Gewaltphantasien mit der Frau auszuleben und dabei wahrscheinlich etwas zu weit gegangen ist …

Meinung

Bisher habe ich noch kein anderes Buch des New Yorker Autors Jason Starr gelesen und habe mich ohne bestimmte Erwartungshaltung an die Lektüre seines aktuellen Thrillers gewagt, um eine möglichst spannende Story über einen Ehebruch und seine tödlichen Folgen kennenzulernen.

Nur leider lies der Thriller nach den tatsächlich fesselnden ersten Seiten absolut nach und hat mich durch den vorrangig naiven, nervigen Hauptprotagonisten sogar verärgert. Zunächst fand ich die gewählte Ich-Erzählperspektive sehr gut, weil dadurch mehr Nähe zum Charakter des Jack Harper entstehen konnte, aber als der Mord schließlich geschehen war, hätte ich mir so sehr eine weitere Erzählstimme gewünscht, die allerdings nicht vorgesehen war. Und deshalb saß ich nun kopfschüttelnd vor der Lektüre und musste mich mit den vielen Fehlentscheidungen der Hauptperson auseinandersetzen, der mehr durch die Geschichte schlittert, als sie jemals zu durchdenken. Seine persönliche Unentschlossenheit setzt dem ganzen dann die Krone auf, denn anstatt sich eine zielgerichtete Strategie zu überlegen, bei der er dann konsequent bleibt, agiert Jack absolut spontan und willkürlich und schafft es tatsächlich bald nicht nur der Hauptverdächtige eines Mordfalls zu sein, sondern gleich mehrerer.

Der Plot selbst ist etwas holprig, die Polizeiarbeit findet eher am Rande statt und die Realitätsnähe hat mir auch etwas gefehlt, aber mit all diesen Dingen wäre ich klargekommen, hätte ich nicht ständig im Kopf von Jack Harper gesessen, mit dem ich leider so gar nichts anfangen konnte. Das Library Journal, New York bewertet den Thriller mit folgenden Worten: „Wie gemacht für Fans des amerikanischen Thrillers, erinnert an Gilian Flynns Gone Girl.“ In diesem Fall hätte mir die Bewertung weiterhelfen können, denn den genannten Thriller von G. Flynn mochte ich ebenso wenig, wie diesen hier.

Wirklich positiv kann ich rückblickend eigentlich nur den Schreibstil bewerten, der sich zeitgenössisch präsentiert, interessante Dialoge aufwirft und sich schnell lesen lässt, aber das ist für mich nur ein einziges Bewertungskriterium und reicht natürlich nicht aus, um ein gutes Urteil zu fällen, bzw. den enttäuschenden Gesamteindruck zu revidieren.

Fazit

Ich vergebe leider nur 2 Sterne für diesen im Kern interessanten Thriller, der durch seinen Aufbau und die gewählten Protagonisten leider nicht meinen Lesegeschmack trifft. Weder der Mord noch die Ermittlungen standen im Zentrum des Buches sondern, ein hilflos rudernder Mann, der neben seinen verhängnisvollen Schwächen auch noch mit einer großen Portion Naivität gestraft ist und vom Leser vielleicht Mitleid erhofft – ich weiß es nicht.

Dieses Buch hat sein gutes Potential verschenkt, zum einen wegen der einseitigen Perspektive, zum anderen wegen der Fokussierung auf die lange Liste der menschlichen Verfehlungen in geballter Ladung. Das war mir eindeutig zu anstrengend/ nervtötend. Dennoch gebe ich Jason Starr eine zweite Chance, die Klappentexte seiner diversen Thriller, die sich hier im Anhang befinden klingen insgesamt ansprechend und wenigstens ein zweites Buch möchte ich gelesen haben, bevor ich mir ein abschließendes Urteil bilde. Wer eine gute Empfehlung hat, kann sie gerne kundtun.

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Veröffentlicht am 01.05.2021

Die Testamentsvollstreckerin

Girl A
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„ Ich nahm an, dass in Hollowfield einiges anders laufen würde. Ich hatte die Tatsache, dass uns hier niemand kannte, mit der Hoffnung verwechselt, dass wir alles werden könnten, was wir sein wollten.“

Inhalt

Alexandra ...

„ Ich nahm an, dass in Hollowfield einiges anders laufen würde. Ich hatte die Tatsache, dass uns hier niemand kannte, mit der Hoffnung verwechselt, dass wir alles werden könnten, was wir sein wollten.“

Inhalt

Alexandra Gracie, mittlerweile Anwältin erhält den Bescheid des Gefängnisses, dass ihre leibliche Mutter, die sie schon viele Jahrzehnte nicht mehr gesehen hat, nun verstorben ist und nun sie, ihre älteste Tochter als Testamentsvollstreckerin eingesetzt hat. Viel ist nicht geblieben vom elterlichen Erbe, nur ein wenig Bargeld und das alte Familiengrundstück, an dass sich Alexandra nur als ihr eigenes Gefängnis erinnert.

Lex ist eines von sieben Geschwisterkindern und hat es geschafft die restlichen Kinder, fast alle jünger als sie selbst aus der familiären Hölle zu befreien. Alexandras Vater, einst ein attraktiver Mann, verstrickt sich immer mehr in seinen religiösen Wahnvorstellungen, verliert seine Arbeit und konzentriert sich nun auf den Ausbau einer religiösen Gemeinde unter seiner Führung. Doch als dieses Vorhaben misslingt, beginnt er seine zahlreichen Kinder, nach eigenem Ermessen zu bekehren, er schickt sie nicht mehr zur Schule, gibt ihnen kaum noch etwas zu essen, verbarrikadiert das Haus und beginnt mit einer ausgeklügelten Misshandlung seiner Schützlinge – und lange Zeit ahnt niemand, was hinter den Mauern tatsächlich passiert …

Meinung

Dies ist der Debütroman von Abigail Dean, die ganz unaufgeregt und dennoch erschreckend real die Geschichte der Familie Gracie erzählt, die zunächst eher unauffällig bleibt, sich aber nach und nach zu einer fatalen Brutstätte für Gewaltvorstellungen und Misshandlungen entwickelt. Unter der Obhut eines starken aber gestörten Vaters und einer hilflosen und schweigsam-ergebenen Mutter verwahrlosen die Kinder immer mehr – gefangen in einer Blase aus Mutlosigkeit und Angst, hoffen alle Beteiligten auf ein Einsehen des Familienoberhaupts oder eine günstige Gelegenheit, um zu entkommen – doch beide Optionen scheinen in weite Ferne zu rücken, nachdem jedes Kind mit Handschellen und Ketten ans eigene Bett gefesselt wird.

Da ich auf Grund der Leseprobe auf diesen Thriller aufmerksam geworden bin, ohne die tatsächliche Spannungshandlung in den Vordergrund zu stellen, konnte ich mich hier voll und ganz auf die Geschichte einlassen, die vielmehr das Psychogramm mehrerer erwachsener Misshandelter ist, als ein nervenaufreibender Pageturner.

Dabei hat mir die Perspektivenvielfalt sehr gut gefallen, die hier trotz der übergeordneten Erzählerin Alexandra genügend Einblicke in die Gedankenwelt ihrer Geschwister offenbart und dadurch regelrecht komplex wird. Denn jedem Mädchen und Jungen der Familie wird ein längeres Kapitel gewidmet, in dem versucht wird, die einzelnen Schicksale und Gedankengänge der Beteiligten nachzuvollziehen. So erschließt sich dem Leser das gesamte Familiengefüge, mit diversen Rollenbildern und innerlichen Fluchtstrategien – jeder versucht irgendwie auf eigene Art und Weise mit dem täglichen Leid umzugehen oder seine persönliche Situation durch ebenfalls unterwürfige Handlungen erträglicher zu gestalten. Und dann schwenkt die Story wieder in die Gegenwart, in eine Zeit nach dem Horrorhaus, jenseits der leiblichen Eltern, verteilt auf diverse Adoptivfamilien und schließlich angekommen im Hier und Jetzt – gestraft mit einer zerrütteten Seele, strauchelnd angesichts des eigenen Lebens oder kampfbereit, wie Alexandra.

Die bedrückende, hoffnungslose Stimmung der Vergangenheit und die bloße Verzweiflung, angesichts eines normalen Alltags wird hier bestens dargestellt, eben weil sie so fragil und zerbrechlich ist und ein Leben ohne therapeutische Betreuung kaum denkbar wäre. Auch die Entfremdung zwischen den Geschwistern, die damals schon in diverse Gruppierungen zerfallen sind, wird auf jeder Seite deutlich hervorgehoben. Obwohl die Überlebenden, längst nicht alle sieben Kinder, losen Kontakt halten und sich angesichts einer Hochzeit zusammenfinden, spürt man die tiefe Kluft zwischen ihnen. Das Problem: kein Fremder wird ihr seelisches Leid jemals ausreichend erfassen und sobald sie sich in Gespräche über die gemeinsame Zeit wagen, brechen alte Wunden wieder auf und es gibt dem Horror nichts entgegenzusetzen.

Zwei kleinere Kritikpunkte hätte ich dennoch: Zum einen wechselt die Erzählung ganz plötzlich ohne erkennbaren Hinweis von der gegenwärtigen Handlung in die Vergangenheit und ebenso unscheinbar wieder zurück, dadurch braucht man immer einige Sekunden, bis man als Leser den Wechsel der Rahmenhandlung entsprechend einordnen kann. Und zum anderen bleiben die Protagonisten irgendwie blass, gerade so als hätten sie ihren Charakter mit der Auflösung des elterlichen Gefängnisses abgelegt, als wären sie nur noch Schatten ihrer selbst, willenlose Figuren, die irgendwie durchs Leben ziehen und keinen neuen, verlässlichen Anker finden können, ohne zu den schmerzlichen Erinnerungen zurückzukehren.

Fazit

Ich vergebe gute 4 Lesesterne für dieses einprägsame Psychogramm einer Großfamilie, welches sich zur Abwechslung mal nicht auf den Täter und seine kranke Seele konzentriert, sondern auf die Opfer und ihre Versuche in einer scheinbaren Realität Bezugspunkte zu finden. Dennoch überwiegt eine traurige Hoffnungslosigkeit, die sehr realitätsnah und glaubhaft wirkt und jeden Schritt nach vorn unsagbar schwer macht, während es so einfach wäre, sich weiterhin in die innere Leere einer gebrochenen Seele zurückzuziehen.

Ich empfehle dieses Buch allen, die weniger auf eine hochspannende Geschichte voller Grausamkeiten spekulieren, als vielmehr auf differenzierte Einblicke in die Möglichkeiten, wie sich traumatisierte Opfer in ihrem späteren Leben zurechtfinden. Mir hat der Ansatz sehr gut gefallen und die Umsetzung ist bis auf Kleinigkeiten ebenfalls gelungen. Sehr gern würde ich das nächste Buch der Autorin kennenlernen.

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Veröffentlicht am 23.04.2021

Der Raum zwischen Schwarz und Weiß

Die siebte Zeugin
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„Das Einzige, was er jetzt noch tun konnte, war, so gut es ihm eben möglich war zu plädieren. Und zu hoffen. Zu hoffen, dass am Ende gegen die eindeutigen Normen des Strafgesetzbuches die Gerechtigkeit ...


„Das Einzige, was er jetzt noch tun konnte, war, so gut es ihm eben möglich war zu plädieren. Und zu hoffen. Zu hoffen, dass am Ende gegen die eindeutigen Normen des Strafgesetzbuches die Gerechtigkeit siegte. Für einen Vater, der sich in seinen Handlungen verrannt hatte. Und für dessen Tochter, die von all den Geschehnissen um sie herum nicht die geringste Ahnung hatte.“

Inhalt

Der Strafverteidiger Rocco Eberhardt hat schon einige Jahre Berufserfahrung und dabei gelernt, dass er sich besser nicht zu persönlich auf die Fälle seiner Mandanten einlassen sollte, weil er sie zwar bestmöglich vor dem Strafgericht verteidigen muss, sie aber dennoch alle irgendeine Form des Verbrechens begangen haben und dadurch Schuld auf sich geladen haben, die selbst das beste Plädoyer nicht ungeschehen machen kann.

Sein aktueller Fall beschäftigt ihn dennoch mehr als beabsichtigt, denn der Täter, von der Presse als „Killer-Beamter“ tituliert, ist ein stiller, unauffälliger Familienvater, der zu allen Vorwürfen schweigt und um keinen Preis sein Motiv offenbaren möchte. Eberhardt bleibt eigentlich nur an dem Fall dran, weil sein Interesse geweckt ist, was Nikolas Nölting tatsächlich zu verbergen hat und warum er mitten am Tag in einer Bäckerei das Feuer eröffnete und zum Mörder wurde. Dank seiner Hartnäckigkeit gelingt es dem Anwalt, die Hintergründe aufzudecken, die weit in das organisierte Verbrechen der Hauptstadt hineinreichen und dennoch ganz gelagert sind, als ursprünglich vermutet …

Meinung

Die beiden Autoren Florian Schwiecker und Michael Tsokos starten mit diesem Justiz-Krimi eine neue Reihe, um den Strafverteidiger Rocco Eberhardt und den Rechtsmediziner Dr. Justus Jarmer. Das ist mein erstes Buch des Autorengespanns und ich bin eher zufällig und ohne große Erwartungshaltung in die Lektüre gestartet. Insgesamt handelt es sich bei diesem Kriminalroman um gute, solide Handwerkskunst, die vor allem durch ihre Realitätsnähe besticht und dadurch interessante Einblicke in das System der Deutschen Rechtssprechung und Gerichtsbarkeit liefert.

Man merkt der Lektüre an, dass die Verfasser selbst über die entsprechende Berufserfahrung verfügen und diese allgemeingültig und plausibel auch an Laien vermitteln können. Allerdings könnte ich mir vorstellen, dass sich gerade diese Abläufe in den Büchern wiederholen werden, wenn Eberhardt und Jarmer zu ihrem nächsten Fall aufbrechen und das, was hier in Band eins noch neu und interessant erschien, im Verlauf der Reihe weniger Interesse wecken könnte.

Der Fall selbst ist eher mäßig spannend und dadurch schwankt auch das Spannungsniveau der gesamten Erzählung. Zum Glück legen die Autoren neben der reinen Verhandlung auch ein Augenmerk auf die persönlichen Hintergründe der Protagonisten, die natürlich selbst nicht immer unfehlbar sind und auch die ein oder andere dringende Klärung in familiärer Angelegenheit wahrnehmen müssen. Insgesamt ist es ein gelungener Ausgleich zwischen Fakten, Erlebnissen und persönlichen Erfahrungswerten, der mich größtenteils gut unterhalten konnte.

Der Schreibstil an sich ist klar, sachlich und strukturiert. Dazu tragen auch die kurzen Kapitel und die Übersichtliche Gestaltung des Textes bei, so dass der Leser sowohl der gegenwärtigen Gerichtsverhandlung als auch den Tathintergründen und diversen Nebenhandlungen gut folgen kann. Sowohl zu den Figuren als auch zur Sache an sich bleibt eine gewisse Distanz gewahrt, die Emotionalität gar nicht erst aufkommen lässt. Dieser Tatbestand würde mich normalerweise zu einer schlechteren Bewertung kommen lassen, passt aber hier hervorragend zur erzählten Story, die wesentlich zerfaserter wirken würde, wenn sie nicht so zielgerichtet und neutral geschrieben wäre.

Fazit

Ich vergebe 3,5 Lesesterne (aufgerundet 4) für diesen Reihenauftakt, der ein scheinbar zielgerichtetes Attentat ohne erkennbares Motiv zur Sprache bringt und dessen Wahrheiten sich erst im Laufe der Erzählung gekonnt entfalten.

Man sollte Interesse an Gerichtsverhandlungen mitbringen, sich mit dem Zusammentragen diverser Fakten arrangieren und keinen atemberaubenden Spannungsbogen erwarten. Manchmal gewinnt die Handlung stark an Tempo und man möchte unbedingt weiterlesen, dann stagniert das Ganze wieder und die Energie ist verpufft. An dieser Stelle hätte ich mir persönlich weniger die berichtende Erzählperspektive gewünscht als vielmehr eine Beteiligung mehrerer Personen, vor allem in Hinblick auf ihre inneren Gewissheiten.

Im Zentrum steht hier weniger der Attentäter selbst als die Arbeit des Strafverteidigers, der sich - aus Mangel an Kooperationsbereitschaft seines Mandanten - allein durch die Unwegbarkeiten der Tatumstände kämpfen muss. Prinzipiell habe ich Interesse am Folgeband und würde dann entscheiden, ob ich die Reihe fortsetzen werde oder nicht.
„Das Einzige, was er jetzt noch tun konnte, war, so gut es ihm eben möglich war zu plädieren. Und zu hoffen. Zu hoffen, dass am Ende gegen die eindeutigen Normen des Strafgesetzbuches die Gerechtigkeit siegte. Für einen Vater, der sich in seinen Handlungen verrannt hatte. Und für dessen Tochter, die von all den Geschehnissen um sie herum nicht die geringste Ahnung hatte.“

Inhalt

Der Strafverteidiger Rocco Eberhardt hat schon einige Jahre Berufserfahrung und dabei gelernt, dass er sich besser nicht zu persönlich auf die Fälle seiner Mandanten einlassen sollte, weil er sie zwar bestmöglich vor dem Strafgericht verteidigen muss, sie aber dennoch alle irgendeine Form des Verbrechens begangen haben und dadurch Schuld auf sich geladen haben, die selbst das beste Plädoyer nicht ungeschehen machen kann.

Sein aktueller Fall beschäftigt ihn dennoch mehr als beabsichtigt, denn der Täter, von der Presse als „Killer-Beamter“ tituliert, ist ein stiller, unauffälliger Familienvater, der zu allen Vorwürfen schweigt und um keinen Preis sein Motiv offenbaren möchte. Eberhardt bleibt eigentlich nur an dem Fall dran, weil sein Interesse geweckt ist, was Nikolas Nölting tatsächlich zu verbergen hat und warum er mitten am Tag in einer Bäckerei das Feuer eröffnete und zum Mörder wurde. Dank seiner Hartnäckigkeit gelingt es dem Anwalt, die Hintergründe aufzudecken, die weit in das organisierte Verbrechen der Hauptstadt hineinreichen und dennoch ganz gelagert sind, als ursprünglich vermutet …

Meinung

Die beiden Autoren Florian Schwiecker und Michael Tsokos starten mit diesem Justiz-Krimi eine neue Reihe, um den Strafverteidiger Rocco Eberhardt und den Rechtsmediziner Dr. Justus Jarmer. Das ist mein erstes Buch des Autorengespanns und ich bin eher zufällig und ohne große Erwartungshaltung in die Lektüre gestartet. Insgesamt handelt es sich bei diesem Kriminalroman um gute, solide Handwerkskunst, die vor allem durch ihre Realitätsnähe besticht und dadurch interessante Einblicke in das System der Deutschen Rechtssprechung und Gerichtsbarkeit liefert.

Man merkt der Lektüre an, dass die Verfasser selbst über die entsprechende Berufserfahrung verfügen und diese allgemeingültig und plausibel auch an Laien vermitteln können. Allerdings könnte ich mir vorstellen, dass sich gerade diese Abläufe in den Büchern wiederholen werden, wenn Eberhardt und Jarmer zu ihrem nächsten Fall aufbrechen und das, was hier in Band eins noch neu und interessant erschien, im Verlauf der Reihe weniger Interesse wecken könnte.

Der Fall selbst ist eher mäßig spannend und dadurch schwankt auch das Spannungsniveau der gesamten Erzählung. Zum Glück legen die Autoren neben der reinen Verhandlung auch ein Augenmerk auf die persönlichen Hintergründe der Protagonisten, die natürlich selbst nicht immer unfehlbar sind und auch die ein oder andere dringende Klärung in familiärer Angelegenheit wahrnehmen müssen. Insgesamt ist es ein gelungener Ausgleich zwischen Fakten, Erlebnissen und persönlichen Erfahrungswerten, der mich größtenteils gut unterhalten konnte.

Der Schreibstil an sich ist klar, sachlich und strukturiert. Dazu tragen auch die kurzen Kapitel und die Übersichtliche Gestaltung des Textes bei, so dass der Leser sowohl der gegenwärtigen Gerichtsverhandlung als auch den Tathintergründen und diversen Nebenhandlungen gut folgen kann. Sowohl zu den Figuren als auch zur Sache an sich bleibt eine gewisse Distanz gewahrt, die Emotionalität gar nicht erst aufkommen lässt. Dieser Tatbestand würde mich normalerweise zu einer schlechteren Bewertung kommen lassen, passt aber hier hervorragend zur erzählten Story, die wesentlich zerfaserter wirken würde, wenn sie nicht so zielgerichtet und neutral geschrieben wäre.

Fazit

Ich vergebe 3,5 Lesesterne (aufgerundet 4) für diesen Reihenauftakt, der ein scheinbar zielgerichtetes Attentat ohne erkennbares Motiv zur Sprache bringt und dessen Wahrheiten sich erst im Laufe der Erzählung gekonnt entfalten.

Man sollte Interesse an Gerichtsverhandlungen mitbringen, sich mit dem Zusammentragen diverser Fakten arrangieren und keinen atemberaubenden Spannungsbogen erwarten. Manchmal gewinnt die Handlung stark an Tempo und man möchte unbedingt weiterlesen, dann stagniert das Ganze wieder und die Energie ist verpufft. An dieser Stelle hätte ich mir persönlich weniger die berichtende Erzählperspektive gewünscht als vielmehr eine Beteiligung mehrerer Personen, vor allem in Hinblick auf ihre inneren Gewissheiten.

Im Zentrum steht hier weniger der Attentäter selbst als die Arbeit des Strafverteidigers, der sich - aus Mangel an Kooperationsbereitschaft seines Mandanten - allein durch die Unwegbarkeiten der Tatumstände kämpfen muss. Prinzipiell habe ich Interesse am Folgeband und würde dann entscheiden, ob ich die Reihe fortsetzen werde oder nicht.

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Veröffentlicht am 14.04.2021

Am Puls des Konbini

Die Ladenhüterin
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Morgens war ich dann wieder zur Stelle, ein Rädchen im Getriebe der Welt. Nur das machte mich zu einem normalen Menschen.“

Inhalt

Keiko Furukura war schon immer etwas seltsam und mausert sich schließlich ...

Morgens war ich dann wieder zur Stelle, ein Rädchen im Getriebe der Welt. Nur das machte mich zu einem normalen Menschen.“

Inhalt

Keiko Furukura war schon immer etwas seltsam und mausert sich schließlich zur absoluten Außenseiterin, weil sie mit 36 Jahren nach wie vor keinen Mann hat, keine Kinder bekommt und immer noch den Aushilfsjob im Konbini absolviert und sich tagtäglich mit der optimalen Warenpräsentation und bestmöglichen Verkaufszahlen auseinandersetzt.

Sie hat keine echten Freunde, kein Hobby, ja scheinbar keinen Lebenssinn – nur stört das immer die anderen und niemals Keiko. Ganz im Gegenteil, ihre Arbeit im Supermarkt erfüllt sie mit tiefer Zufriedenheit und gibt jedem Tag eine gleichförmige Struktur, ohne die sie in ein tiefes Loch fallen würde. Aber zuliebe der anderen kündigt sie doch noch und beginnt ein scheinbar gesellschaftlich akzeptiertes Leben, aber der Konbini lässt sie nicht los und sein Takt begleitet sie nach wie vor – Keiko muss sich entscheiden, ob sie weiterhin die verschrobene Einzelgängerin bleiben möchte und ihrer inneren Stimme folgt, oder nicht …

Meinung

Dieses kleine Buch (145 Seiten) steht bereits seit seinem Erscheinungstermin in meinem Regal, weil mich sowohl die Grundidee ansprach als auch die inhaltliche Aufarbeitung der Thematik des „Andersseins“. Und ich wurde nicht enttäuscht, denn die im Kern eher traurige Geschichte der Angestellten Keiko, die so gar nicht zum gesellschaftsfähigen Bild in Japan passt, hat mich nicht nur bestens unterhalten, sondern impliziert trotz der aufgelockerten, fast heiteren Stimmung einen ernsthaften Hintergrund, mit dem ich mich während des Lesens ganz nebenbei beschäftigen konnte.

Zunächst lernt der geneigte Leser die Protagonistin sehr genau kennen, weil die Ich-Perspektive in der Textform gewählt wurde. Zwar bleibt vieles von Keiko im Dunkeln, weil sie tatsächlich wenig Ansprüche zu haben scheint, aber man fühlt sich ihr dennoch nah und akzeptiert ihr Wesen voll und ganz. Umso nervtötender wirken „die anderen“, die hier in Form von losen Bekannten, Arbeitskollegen oder Familienangehörigen daherkommen und sich ununterbrochen einmischen. Irgendwann ist man dann der Überzeugung, dass es für Keiko keinen Sinn macht, sich an die Normen der Gesellschaft anzupassen, weil sie damit ihr innerstes Wesen verleugnet und gleichzeitig fragt man sich, wie viel Wert überhaupt darin liegt, dass die Menschheit immer danach strebt, so gleichförmig und ähnlich sein zu wollen und für Individualismus so wenig Platz bleibt.

Besonders hervorheben möchte ich die für mich absolut unschlagbare humorvolle Umsetzung des Ganzen, denn gerade die einzelnen Szenen im Supermarkt empfand ich, die selbst im Handel tätig ist, wahnsinnig treffend und urkomisch, ich musste sehr oft sehr laut lachen und allein dieser Umstand macht mir das Buch auf der zwischenmenschlichen Ebene sympathisch. Ohnehin überwiegt ein positiver, lebensbejahender Erzählton, der die geschilderten Umstände eher komisch und abstrus wirken lässt als bitterernst und anklagend. Ein Weichmacher, der dafür plädiert, jeden so sein zu lassen, wie er eben ist. Die einen finden Erfüllung daran, sich gesellschaftsfähig hervorzutun, die anderen möchten einfach nur ihre Ruhe und irgendetwas, was sie im Herzen glücklich sein lässt, auch wenn es dabei nur darum geht, möglichst erfolgreich Reistaschen zu verkaufen.

Fazit

Ich vergebe gute 4 Lesesterne, aus denen beinahe 5 geworden wären, wenn das Ende nicht ganz so abrupt gekommen wäre und auch die weitere Entwicklung der Protagonistin noch ein paar Seiten länger nachvollziehbar gewesen wäre. Es ist ein witziges, abstraktes und sehr unterhaltsames Buch, welches eine ernstzunehmende Botschaft gekonnt in eine locker-leichte Geschichte verpackt und gerade durch diese ungewöhnliche Kombination das Herz des Lesers erobern kann.

Es gibt weder den erhobenen Zeigefinger, noch die ultimative Lösung des Problems, stattdessen appelliert die japanische Autorin Sayaka Murata an die Fähigkeit des Menschen, auch anders gestrickte Personen hinzunehmen, die sich um Konventionen im herkömmlichen Sinne überhaupt keine Gedanken machen und einfach nur einen Platz im Gefüge möchten, der nicht ununterbrochen in Frage gestellt wird. Ich setze nun „Das Seidenraupenzimmer“, einen anderen Roman der Autorin auf meine Wunschliste, denn dieser hier hat mir sehr gut gefallen.

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