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Veröffentlicht am 26.03.2021

Ein Sommer der prägenden Eindrücke

Der große Sommer
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„Wir schwiegen wieder. Der Spätsommerwind wehte durch den Turm. Man konnte frei atmen. Unter uns die Stadt und alles, was passiert war. Und über einem Dorf weit im Westen das V der Gänse in der Luft. Beate ...

„Wir schwiegen wieder. Der Spätsommerwind wehte durch den Turm. Man konnte frei atmen. Unter uns die Stadt und alles, was passiert war. Und über einem Dorf weit im Westen das V der Gänse in der Luft. Beate drückte meine Hand sehr fest und legte ihren Kopf an meinen.“

Inhalt

Für Friedrich steht dieser Sommer unter keinem guten Stern, denn weil er in Mathe und Latein zur Nachprüfung muss, um versetzt zu werden, brummen ihm seine Eltern zwei Wochen Zwangsarrest bei seinen Großeltern auf, damit er sich endlich auf die Schule konzentriert und das Ziel erreicht. Und während er für seine Großmutter noch eine Menge Zuneigung empfindet, gestaltet sich die Beziehung zum Großvater sehr schwierig, denn der ist nicht nur reserviert und schwer durchschaubar, sondern setzt die Messlatte wahnsinnig hoch – eigentlich meint Friedrich, dass es niemand dem praktizierenden Mediziner recht machen kann. Der 16-Jährige tröstet sich mit der Anwesenheit seines besten Freundes Johann und seiner Schwester Alma, die ebenfalls dableiben. Und dann lernt er im Schwimmbad Beate kennen und damit gerät seine Gefühlswelt vollkommen durcheinander, denn dieses Mädchen muss er unbedingt erobern, weil er sich förmlich von jetzt auf gleich in sie verliebt hat. Und während er vormittags für seine Prüfungen lernt, eröffnen ihm die freien Nachmittage eine ganz neue Welt – die bunte, bewegende Welt der Jugend, mit dem Zauber jener unbeschwerten Tage …

Meinung

Dies war mein erstes Buch des deutschen Autors Ewald Arenz aber mit Sicherheit nicht mein letztes. Es ist die wundervoll, warmherzige Erzählung über die Zeit der Jugend mit all ihren Herausforderungen, Prüfungen und Einsichten, die man so oder ganz ähnlich selbst erlebt hat, die sich hier auf einen alles verändernden, prägenden Sommer konzentriert und ganz viel Leben innerhalb einer kurzen Lebensspanne unterbringt. Dieser Roman besticht mit seiner Einfachheit, denn er ist absolut universell, so dass es kaum eine Rolle spielt, in welchem Jahrzehnt wir uns befinden und wie die Vorgänge tatsächlich waren – er beschwört die Gegenwart mit allen Überlegungen der Jugendlichen fast nebenbei herauf.

Besonders positiv beurteile ich die differenzierte, empathische Charakterisierung aller Protagonisten. Denn Friedrich ist umgeben von einer Vielzahl anderer Menschen, die ihn in irgendeiner Weise beeinflussen und zu diversen Handlungen herausfordern. Egal, ob es sich dabei um seine Großmutter handelt, die dem jungen Mann zu erklären versucht, warum sie sich auf den Großvater eingelassen hat oder um seine Schwester Alma, die unter die Kategorie beste Freundin fällt und mit der alles teilen kann, was ihn bewegt.

Die Sprache des Buches ist sehr leicht, die Sätze eher kurz und die Handlung wird mehr in Situationen geschildert als in Rückblicken. Dabei kommt auch der Humor nicht zu kurz und dadurch liest sich die Geschichte flüssig und schnell. Gerade die einzelnen Ereignisse bekommen durch die Verwendung der wörtlichen Rede etwas Unmittelbares, dem man sich kaum entziehen kann – als Leser hat man das Gefühl, den Handlungen direkt beizuwohnen, man sieht sie nicht nur vor dem inneren Auge ablaufen, sondern bekommt die Hintergründe und Unsicherheiten der Protagonisten direkt mit dazu geliefert. Deshalb bin ich der Ansicht, dass man diesen Roman auch sehr gut lesen kann, wenn man selbst der Teenager ist (meiner Tochter, fast 15 Jahre alt, habe ich schon Lust auf das Buch gemacht – sie findet sich darin bestimmt wieder).

Eher überraschend kam für mich die später im Buch aufgeworfene Thematik einer Psychose, die hier zum Glück rechtzeitig erkannt wird, weil Menschen zusammenkommen, die aufeinander achten und denen die krankhaften Veränderungen im Verhalten eines Freundes direkt auffallen. Diese Entwicklung hätte das Buch für mich aber gar nicht unbedingt gebraucht, denn es funktioniert im zwischenmenschlichen Bereich auch ohne diesen Handlungsstrang optimal.

Sehr gefangengenommen hat mich dafür die Beziehung zwischen den Großeltern und ihrem Enkel, darin steckt so viel Wahrheit und Lebensweisheit, dass ich allein mit diesem Spannungsfeld schon zufrieden gewesen wäre. Das Tagebuch der Großmutter, das Unverständnis eines Jugendlichen ob dieser seltsamen Wahl des Partners und die Einsicht, dass die Liebe manchmal seltsame Wege geht und dass Menschen im Kern andere Qualitäten haben, als nach außen vermutet – daran habe ich den größten Gefallen gefunden.

Fazit

Ich vergebe 5 Lesesterne für diesen zeitlosen, berührenden, humorvollen Roman über das Erwachsenwerden, geprägt von persönlichen Erlebnissen, eigenen Entscheidungen, Fehlern, die man nicht rückgängig machen kann, Entschuldigungen die schwer fallen, Hoffnungen die bleiben, und Ereignissen, die aus einem Jugendlichen schließlich nach einer gewissen Zeit einen gereiften Erwachsenen hervorbringen. Manchmal sind es nur Momente, die unwiderrufliche Veränderungen bringen, manchmal bewusste Handlungen und oft sind es einfach nur geliebte Menschen, deren Einfluss kriegsentscheidend sein wird, was die Entwicklung des zukünftigen eigenen Ichs betrifft. Dieses Buch ist sehr empfehlenswert, weil es mittels Leichtigkeit durch einen Sommer der Veränderungen führt und gute Unterhaltung in Kombination mit eigenen Erfahrungswerten bietet.

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Veröffentlicht am 25.03.2021

Berührungspunkte

Immer noch wach
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"Ja, es ist mein Leben, mit dem ich machen kann, was ich will. Aber langsam verstehe ich, wie viele Menschen gerne mit mir getauscht hätten. Gerne mehr Zeit gehabt hätten.“

Inhalt

Mit 30 Jahren holt ...

"Ja, es ist mein Leben, mit dem ich machen kann, was ich will. Aber langsam verstehe ich, wie viele Menschen gerne mit mir getauscht hätten. Gerne mehr Zeit gehabt hätten.“

Inhalt

Mit 30 Jahren holt Alex das Schicksal ein, als bei ihm ein Magentumor diagnostiziert wird, einer von der tödlichen Sorte, einer wie der des Vaters, dessen endloses Leiden Alex bereits im Kindesalter mit ansehen musste und welches ihm deutlich gemacht hat, wie auch seine nächsten Monate aussehen werden und was am Ende auf ihn zukommt …

Der junge Mann findet Freude an alltäglichen Dingen, ist dankbar für schöne Momente und trauert innerlich seinem Leben nach, welches er zu gerne an der Seite seiner Freundin Lisa verbracht hätte und in guter Kameradschaft zu Bene, seinem Freund aus Kindertagen. Sein größter Wunsch jedoch ist ein Sterben in Würde, deshalb möchte er gehen, solange er es noch selbst kann und dann seine letzte Zeit in einem Hospiz verbringen, damit seinen Angehörigen das Zusehen beim Sterben erspart bleibt.

Alex zieht diesen Plan durch, selbst wenn niemand ihn darin bestärkt und hat innerlich längst mit allem abgeschlossen, doch im Hospiz lernt er Menschen kennen und schätzen, die ihn teilhaben lassen an ihrem eigenen Leben, egal wie kurz oder lang es war, wichtig sind die Inhalte und Taten, nichts anderes. Als seine vorgegebene Frist im „Haus Leerwaldt“ abgelaufen ist, folgen weitere Untersuchungen, um seinen Aufenthalt zu rechtfertigen, denn die Plätze sind heiß begehrt – doch eine Verlängerung ist für ihn nicht vorgesehen, das Leben meldet sich zurück, wenn auch unter ganz anderen Vorzeichen …

Meinung

Diesen Debütroman des jungen Autors Fabian Neidhardt durfte ich in einer Leserunde entdecken, nachdem mich gerade die ungewöhnliche Betrachtung eines Lebens, mit der Option auf geschenkte Zeit sehr neugierig gemacht hat. Romane mit der Thematik Trauerbewältigung und des Sterbeprozesses lese ich immer ausgesprochen gern, vielleicht weil ich selbst schon viele Kontakte mit dem Verlust nahestehender Menschen hatte. Grundlegend hatte ich mich deshalb auf einen schweren, fordernden Handlungsverlauf gefasst gemacht, bei dem sicherlich auch Tränen fließen würden – aber die Geschichte hat mich eher überrascht, gerade weil sie nicht so erdrückend und schwermütig wirkt, sondern im Gegenteil eher lebensbejahend und perspektivenreich erscheint.

Im Zentrum der Erzählung stehen Menschen, die mitten im Leben mit einer Schockdiagnose konfrontiert werden und irgendwie gezwungen sind, sich mit ihr auseinanderzusetzen. Dabei steht gar nicht so sehr der Hauptprotagonist Alex im Mittelpunkt, sondern fast auf gleicher Stufe sein bester Freund Bene und die langjährige Lebenspartnerin Lisa. Sie alle werden menschlich, emotional und glaubwürdig dargestellt – im Verlauf der Geschichte wachsen sie nicht nur charakterlich, sie nähern sich auch immer weiter an und lassen den Leser teilhaben an ihrer ganz besonderen, wenn auch traurigen Situation. Das Identifikationspotential mit den Figuren ist hoch, selbst wenn man ihre Entscheidungen nicht gutheißt, wecken sie doch ein gewisses Verständnis beim Leser.

Sehr ansprechend und einheitlich auch der Schreibstil – kurze, prägnante Sätze, zahlreiche Dialoge, klare Szenen und inhaltlich mehr Platz für Gefühle als für Aussagen. Alles Dinge, die diesen Roman sehr ansprechend und gefühlvoll wirken lassen, ohne jemals ins Kitschige abzugleiten und damit ein wesentlicher Punkt auf der Bewertungsskala.

Lediglich der inhaltliche Aufbau des Textes hat mir persönlich nicht so gefallen, denn hier wechseln in schneller und beinahe willkürlicher Abfolge die Handlungsszenen. Dieses Vorgehen wirkt gerade am Anfang der Lektüre eher störend, denn die kurzzeitig aufgebaute Stimmung wird abrupt unterbrochen und man findet sich plötzlich in einer ganz anderen Situation wieder. Einer Chronologie kann man dadurch nicht recht folgen und selbst wenn die Handlung spannender wird und mehr wie ein Puzzle wirkt, stört das meinen Lesefluss, zumal die diversen Abschnitte nur als numerische Kapitel voneinander abgegrenzt sind und man sich immer wieder auf den neuen Inhalt einstellen muss. Im Verlauf des Textes werden jedoch die Kapitel selbst etwas länger und dadurch entspannt sich auch der etwas unübersichtliche Kontext.

Fazit

Ich vergebe gute 4 Lesesterne für dieses hoffnungsvolle, eher ungewöhnliche Buch über den Umgang mit dem Tod und dem Sterben. Denn vielmehr steht das Leben im Gespräch, das Leben mit den vielen Möglichkeiten und Chancen, mit guten Freunden und schönen Zeiten und all jenen Inhalten, die uns Menschen erst dann einfallen, wenn die irdische Lebenszeit in ihren letzten Zügen steckt. Alles was schwermütig wirken könnte, wird durch ein positives Erleben aufgewertet, alles was endgültig erscheint, wird durch Möglichkeiten und Freiheiten ergänzt und alles was traurig ist, scheint dennoch Teil eines Lebensplans zu sein, an dem der Einzelne wachsen kann und Entscheidungen überdenken muss. Diese Geschichte ist ehrlich, sie schenkt Vertrauen auf die vielen zwischenmenschlichen Beziehungen im Laufe der Zeit, die manchmal nur kurze Berührungspunkte sein können und dennoch neue Wege eröffnen. Hin und wieder kullert mal eine Träne, aber wenn man das Buch zuklappt, spürt man tief drinnen, was man jeden Tag wertschätzen sollte – die Liebe zum Leben und zu Menschen, die uns etwas bedeuten.

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Veröffentlicht am 12.03.2021

Eine Welt, die jeden Moment kippen kann

Das Lied der Arktis
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„Während meines langen Lebens als Inuit habe ich gelernt, dass Macht etwas stilles ist. Etwas, das man empfängt und das – genau wie für Kinder und Lieder – durch einen durchgeht. Und das man wieder loslassen ...

„Während meines langen Lebens als Inuit habe ich gelernt, dass Macht etwas stilles ist. Etwas, das man empfängt und das – genau wie für Kinder und Lieder – durch einen durchgeht. Und das man wieder loslassen muss.“

Inhalt

Uqsuralik, die Frau aus Stein mit dem Wesen eines Bären und dem Namen eines Hermelins führt den Leser durch diese Geschichte. Sie selbst wurde in jungen Jahren von ihrer Sippe getrennt, weil die Packeisscholle auf der die Familie lebte, zerbrach. Und fortan ist sie sich dessen bewusst, dass sie in einer Welt lebt, die jeden Moment kippen kann. Als Mensch ist man in der kalten, eisigen, unberechenbaren Natur der Arktis vor allem auf andere Menschen angewiesen, auf deren Schutz und Know-How bezüglich der Jagd und des täglichen Überlebenskampfes.

Und so begleiten wir die junge Frau, die am Ende des Buches auf ein langes, erfülltes Leben zurückblickt, durch die Sommer und Winter ihrer Lebenszeit auf Erden. Sie schildert einfühlsam mit großer, klarer Ruhe die Höhen und Tiefen ihres Alltags, sie geht auf die Bräuche und Sitten ihrer Volksgruppe ein und zeigt, wie nah die Geister den Menschen kommen und warum man sich gut mit ihnen stellen sollte. Für Uqsuralik sind die lebensbedrohlichen Gefahren Normalität, sie kommt zurecht mit einem unerschütterlichen Gespür für die Begrenztheit des eigenen Daseins und einer vollkommen normalen Einstellung zu dem, was in ihrer besonderen Welt möglich ist und was nicht …

Meinung

Auf dieses Buch bin ich nach den vielen begeisterten Leserstimmen sehr neugierig geworden und habe es mit einer konkreten Erwartungshaltung begonnen – möglicherweise war das ein Nachteil für die Gesamtbewertung des Romans. Zunächst einmal hat mich der Einblick in die fremde Welt der Inuit sehr begeistert, denn auf leichte und poetische Art und Weise transportiert die französische Autorin Bérengère Cournut komprimiert auf den Seiten eines Buches wahnsinnig viel Inhalt über das Leben und Denken dieser Volksgruppe.

Angefangen bei der Versorgung, hin zur Jagd, zu den Bräuchen und Glaubensgrundsätzen, zu den verschiedenen Lebensmodellen und dem Zusammenleben innerhalb einer Gruppe – all das ist sehr informativ, fremd aber hochinteressant und liefert ein umfassendes Bild über die Tage im ewigen Eis und die Dankbarkeit derer, die so nah und unmittelbar an der Natur und der göttlichen Schöpfung teilhaben dürfen.

Leider behält dieser Roman seinen informativen Charakter bei und beschreibt mehr das Leben selbst, als die Emotionen der Protagonisten. Dabei sind es zwei Dinge, die mir nach und nach immer weniger gefallen haben: zum einen wird der Fließtext immer wieder durch kurze, situationsbezogene Lieder/Gedichte unterbrochen, die allerdings keinen erkennbaren Mehrwert für mich hatten, zum anderen trifften die Gedanken der Erzählerin immer wieder ab, ganz in die Nähe der Geisterwelt, mit der sie in Kontakt steht und die in teils kryptischen Erscheinungen Zugang zur diesseitigen Welt erhält. Gerade diese Passagen erhöhen zwar die Glaubwürdigkeit der Erzählerin, denn es ist mir absolut verständlich, dass sie alles und jedem eine Bedeutung zumisst, aber dadurch bleibt mir die ohnehin schon fremde Welt, gänzlich unverständlich.

Fazit

Hier werden es leider nur 3 Lesesterne, weil es diesem Roman nicht gelungen ist, meine emotionale Seite anzusprechen. Als erweitertes Sachbuch mit diversen Textauszügen, Bildmaterial am Ende des Buches und einem Abriss über das harte, naturverbundene Leben der Inuit, hätte das ganze eine gute Bewertung bekommen, doch da mir immer mehr der Zugang zu den Personen gefehlt hat und ich einfach nicht mit ihren Gedanken mitgehen konnte, verschließt sich mir eine tiefere Bedeutung und vor allem eine gewisse Aussagekraft.

Die erzählerische Komponente kommt mir zu kurz, gerade weil der Zeitraum eines ganzen Menschenlebens wiedergegeben wird, begleitet durch Hungersnöte, Geburten, Krankheiten und dem Tod und dort im ewigen Eis, scheint dieser Prozess nur eine Art Durchgangsstation zu sein – von allen akzeptiert, von allen gelebt, mit Erinnerungen durchsetzt. Und doch sind die Menschen dieser Welt in der sie existieren, so ausgeliefert, dass sie nehmen, was sie bekommen und jeder Tag ein besonderer ist, weil er gleichzeitig auch der letzte sein könnte – darin liegt viel Wahrheit, wenn man diesem Gedankengut etwas abzugewinnen vermag.

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Veröffentlicht am 08.03.2021

Hasserfüllte Botschaften erwarten dich

Hinter diesen Türen
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„Und da wurde mir klar, was für eine verkorkste Dynamik das war – dass es in meiner Beziehung zu diesem gestörten kleinen Mädchen nicht um Geborgenheit und Fürsorge ging, sondern um Macht und Überlegenheit, ...

„Und da wurde mir klar, was für eine verkorkste Dynamik das war – dass es in meiner Beziehung zu diesem gestörten kleinen Mädchen nicht um Geborgenheit und Fürsorge ging, sondern um Macht und Überlegenheit, um Sieger und Verlierer in einem Krieg. Nein. Ganz egal, wie die Situation am Ende ausgegangen war – gewonnen hatte ich nicht.“

Inhalt

Rowan Caine zieht es aus einem ganz bestimmten Grund nach Schottland, dort will sie als Kindermädchen einer Familie beruflich Fuß fassen und darüber hinaus etwas aus ihrer eigenen Vergangenheit klären. Doch das Anwesen der Familie Elincourt übertrifft ihre kühnsten Vorstellungen, die Vorderseite des Hauses befindet sich noch im restaurierten viktorianischen Stil, während der Anbau durch Glas und modernste Technik besticht. Ziemlich schnell wird sie mit den ihr anvertrauten drei Mädchen alleingelassen und sieht sich den Tücken der hochmodernen Haustechnik gegenüber. Binnen weniger Tage wird ihr klar, dass sie dieser Stelle nicht gewachsen ist, so wie auch die fünf Nannys vor ihr, die alle das Weite gesucht haben. Im Haus scheint etwas nicht mit rechten Dingen zuzugehen, sie hört nächtliche Geräusche, stößt auf einen Giftgarten, der nicht gesichert ist, entdeckt das alte Geheimnis des Hauses und bricht bald schon in Panik aus, nachdem mitten in der Nacht alle Lichter angehen, wilde Musik durch die Räume schallt und Türen offenstehen, die sie ganz sicher verschlossen hat …

Meinung

Dies ist mein zweiter Thriller aus der Feder der britischen Erfolgsautorin Ruth Ware, die mich bereits mit „Woman in cabin 10“ gut unterhalten konnte. Ihr aktueller Thriller ist aber noch um Längen besser, so gut, dass ich ihn kaum aus der Hand legen konnte und unbedingt erfahren wollte, ob es sich um mysteriöse Geistergeschichten handelt, oder ob es jemanden gibt, der für die unerklärlichen Dinge die Verantwortung trägt. Beide Möglichkeiten werden hier mittels diverser Erzählstränge verfolgt und lassen den Leser miträtseln.

Zunächst einmal passt die Erzählperspektive des Buches ausgesprochen gut, denn Rowan, die Nanny schreibt ihre Geschichte selbst nieder, sie sitzt mittlerweile im Gefängnis und wendet sich hilfesuchend an einen Strafverteidiger, der ihr empfohlen wurde, weil er angeblich auch die ganz hoffnungslosen Fälle zu einem versöhnlichen Ende führt. Rowan wurde angeklagt, denn angeblich hat sie eines der Kinder der Elincourts vorsätzlich umgebracht, aber so war es nicht und die junge Frau muss versuchen, alles so genau wie möglich zu beschreiben, um überhaupt eine realistische Chance auf Freilassung zu erhalten. Wären da nur nicht die vernichtenden Indizien und eine Vorgeschichte, die sie lieber nicht offenbaren würde …

Dieser Thriller ist absolut genial, angefangen bei der Hintergrundgeschichte, hin zu den seltsamen, gruseligen Ereignissen im sanierten alten Herrenhaus und letztlich durch die mentale Nähe zur Hauptprotagonisten, deren Verzweiflung und Beklemmung immer mehr Raum einnehmen und regelrecht beängstigend wirken. Besonders spannend fand ich die Figur des Kindermädchens selbst, denn sie hat sich zwar ein perfektes Image zurechtgebastelt, lässt aber durch ihre subjektive Meinung viel offen: eigentlich mag sie Kinder längst nicht so sehr, wie geglaubt und irgendein Geheimnis umgibt auch ihre Person, weshalb sie sich oft anders verhält, als es normalerweise üblich wäre und der Leser rätselt ständig mit, was sie eigentlich verschleiern möchte und warum.

Selbst die Chronologie des Thrillers konnte mich überzeugen, mit diversen Zeitsprüngen, die sowohl die Vergangenheit einbeziehen als auch die Gegenwart und letztlich auf ein fulminantes Finale zusteuern. Bei den Gedanken und Geschehnissen des allerletzten Abends, hätte ich mir noch mehr Intensität gewünscht, weil Rowan so plötzlich und unwiderruflich vor den Scherben ihres Lebens steht und erst im Nachhinein für Klärung sorgen kann, aber letztlich spielt das keine Rolle mehr, denn es gibt ein dunkles Geheimnis, ein totes Mädchen und unzählige Fragen, die andere beantworten müssen.

Fazit

Dieser temporeiche, subtile Spannungsroman konnte mich absolut überzeugen, so dass ich begeisterte 5 Lesesterne vergebe. Gerade der Mix zwischen Verbrechen und Gruselgeschichte übte auf mich einen ganz besonderen Reiz aus - zwischendurch habe ich diverse Szenarien vor Augen gehabt, die dann doch rational erklärbar waren, aber im ersten Moment nicht so wirkten. Wer Gefallen an mysteriösen Ereignissen und mörderischen Ambitionen findet, ist hier genau richtig. Ich werde wohl mindestens noch ein weiteres Buch der Autorin auf meine Leseliste setzen, und empfehle diesen bedrückenden Gruselthriller gerne weiter.

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Veröffentlicht am 05.03.2021

Die Grenze zwischen gut und böse

NEBEL
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„Aber so war ihr Beruf bisweilen – ein Spiel, das in der Grauzone zwischen Tag und Nacht gespielt wurde. Nie konnte sie ihren Sieg in vollen Zügen genießen. Nie war ihre Arbeit wirklich getan.“

Inhalt

Die ...

„Aber so war ihr Beruf bisweilen – ein Spiel, das in der Grauzone zwischen Tag und Nacht gespielt wurde. Nie konnte sie ihren Sieg in vollen Zügen genießen. Nie war ihre Arbeit wirklich getan.“

Inhalt

Die Weihnachtszeit ist für Hulda Hermannsdóttir im Jahr 1987 die schwerste ihres Lebens, denn nachdem sich ihre halbwüchsige Tochter Dimma das Leben genommen hat, befindet sie sich am absoluten persönlichen Tiefpunkt. Alles Glück scheint ihr abhanden gekommen zu sein und die Ehe mit Jón ist nur noch eine Farce. Schon im Februar hält sie es nicht mehr in den eigenen vier Wänden aus und stürzt sich wieder in die Polizeiarbeit. Diesmal soll sie einen Mord auf einem abgelegenen Bauernhof im Osten des Landes aufklären. Bei den Leichen handelt es sich um ein Ehepaar, welches bereits seit Jahr und Tag den letzten Hof in der Gegend bewirtschaftet. So wie es aussieht liegen die Toten schon mindestens zwei Monate in ihrem Haus und der Täter müsste längst über alle Berge geflohen sein. Hulda nimmt sich dem Schicksal der Ermordeten an, auch wenn sie selbst tief in der Krise steckt und entdeckt Parallelen zu einem Vermisstenfall, den sie schon geraume Zeit auf ihrem Schreibtisch liegen hat …

Meinung

Der isländische Bestsellerautor Ragnar Jónasson beweist auch in seinem dritten Fall der Hulda-Hermannsdóttir-Reihe viel kriminalistisches Feingefühl und entwirft ein angenehm spannendes Szenario, bei dem der Leser vorerst nicht weiß, wer die Bauersleute bedroht und warum, oder ob sich die verwirrte Frau nur einbildet, dass der schutzbedürftige Fremde ihre Gastfreundschaft ausnutzen wird. Der Schreibstil ist zielgerichtet, prägnant und oftmals in wörtlicher Rede verfasst, so dass man fast ein stiller Beobachter der Szenerie sein darf. Dadurch entwickelt die Handlung trotz ihres eher geringen Aktionspotentials, einen Sog, dem man sich nur schwer entziehen kann. Gerade das Düstere, die dunklen Vermutungen und das latente Gefühl der Bedrohung locken den geneigten Leser immer weiter hinein in eine mörderische Stimmung, bei der die Grenze zwischen gut und böse nach und nach verwischt.

Während in den ersten beiden Bänden der Trilogie oftmals die Position der Kommissarin innerhalb ihrer männerdominierten Arbeitswelt zum Thema stand, tritt Hulda hier eher in den Hintergrund. Die Zusammenhänge zwischen dem Tod der Tochter und den häuslichen Vorfällen sind dem Leser ja schon bekannt, da die Geschichte rückwärts erzählt wird und man in Band eins eine kurz vor der Pensionierung stehende Hulda kennenlernt, während sie hier in ihrem vierten Lebensjahrzehnt steckt. Da ich alle Bände kurz hintereinander gelesen habe, muss ich abschließend sagen, dass mir der Stil aller Bücher zugesagt hat, ich aber eindeutig mehr Interesse an den Mordfällen hatte als an dem Leben der Kommissarin. Aus diesem Grund gefällt mir der Abschluss wohl auch am besten, weil der Autor dort bereits die Hintergrundgeschichte erzählt hat und nur noch hin und wieder einen Abstecher ins Detail unternimmt.

Fazit

Ein richtig spannender Roman mit sehr stimmungsvollem Hintergrund und eher leisen Erzähltönen, der mich gerade deshalb sehr gut unterhalten konnte. Hier vergebe ich gerne 5 Lesesterne, für den besten Band dieser Reihe, der alles nochmals Revue passieren lässt und dennoch ein ganz eigenständiges Konstrukt ist. Positiv empfinde ich auch den leichten Ton, mit dem man nun verabschiedet wird, denn manchmal empfinde ich gerade den letzten Band einer guten Reihe etwas wehmütig und blicke ihm mit einem tränenden Auge hinterher. Hier wirkt das in der Gesamtheit nicht so tragisch, vielmehr entsteht der Eindruck eine Person ein Stück ihres Lebensweges begleitet zu haben und tiefer geschaut zu haben, als es ihre unmittelbare Umgebung gekonnt hätte, gerade weil Hulda nicht zu den redseligen Menschen gehört, die jedem ihre Lebensgeschichte offenbart. Ich empfehle die Reihe weiter, sie bietet gute, stimmungsvolle Atmosphäre gepaart mit einer kriminalistischen Handlung, die zwar wenig Neues bietet, dafür aber sehr menschlich wirkt.

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