Hör auf für Menschen zu ertrinken, die nicht für dich übers Wasser gehen würden
22 BahnenSo chaotisch der Zustand, der sich Familie nennt, für Tilda auch ist, so viel Halt gibt ihr die klare Struktur, in der sie ihre Tage einteilt. Auf ihre Mutter ist kein Verlass, denn diese ist dem Alkohol ...
So chaotisch der Zustand, der sich Familie nennt, für Tilda auch ist, so viel Halt gibt ihr die klare Struktur, in der sie ihre Tage einteilt. Auf ihre Mutter ist kein Verlass, denn diese ist dem Alkohol verfallen und lebt in ihrer eigenen, von der Sucht diktierten Welt. An Tilda bleibt alles hängen, sodass sie sich neben ihrem Studium und dem Minijob an der Supermarktkasse auch noch dem Schwimmtraining und ihrer kleine Schwester widmet. Der Gleichklang gerät ausser Takt, als ihr eine Promotionsstelle in Berlin angeboten wird und Tilda steht vor der Frage: Gehen oder bleiben ?
"22 Bahnen" ist kein Roman, der sich mal eben locker flockig von der Hand liest, sondern der viel Zeit braucht, um zu wirken, damit auch alle Botschaften - auch die zwischen den Zeilen - bei den Leser;innen ankommen. Denn es ist keine einfache Handlung, die Caroline Wahl hier zu Papier bringt. Drogen, Alkohol, fehlende Väter, emotionale Kälte, körperliche Misshandlung und der Versuch von Tilda, sich mit dem regelmäßigen Ziehen der Bahnen im Schwimmbad regelrecht freizuschwimmen, sind Themen, die eine sehr gedrückte Grundstimmung verbreiten und große Hürden darstellen.
Während dem Lesen entsteht nämlich ganz oft das Gefühl, auf Grund des Schwimmbeckens zu sinken und sich von der tiefen Traurigkeit, Hoffnungslosigkeit und Ausweglosigkeit nicht mehr losketten zu können. Trotzdem gelingt es Wahl immer wieder, dass Tilda auftaucht, regelrecht nach Luft zum Atmen japst, um für ihre kleine Schwester Ida als Mutterersatz zu fungieren.
Um ihre eigenen seelischen Narben kann oder will sich sich nicht wirklich kümmern, dafür sucht sie Halt im Logischen, den sie in der Mathematik findet. Das notwendige Verschließen ihrer offenen Wunden hat sie nicht gelernt, dafür schottet sie sich einfach viel zu sehr ab und versucht immer wieder neue Möglichkeiten zu finden, um ihrer Schwester die Kindheit so schön wie möglich zu gestalten.
Je mehr die Geschichte fortschreitet, desto mehr Hintergründe werden offen gelegt und es gelingt nach und nach, Tilda besser zu verstehen, ihre Entscheidungen nachvollziehen zu können und ihr dabei zuzusehen, wie sie sich dem Abenteuer Leben wieder öffnet. Der Zusammenhalt zwischen den beiden Schwestern geht mit sehr nah und manchmal blutet mit das Herz wenn ich lese, wie sehr sich die kleine Ida in ihre eigene Welt flüchtet. Auch wenn Tilda ihr nicht immer unbedingt zutraut, dass sie ihren Weg geht, ist Ida mental stärker, als sie denkt. Und das beweist das kleine Mädchen mit einer unglaublichen Leichtigkeit, von der wir uns vielleicht eine Scheibe Mut abschneiden können.
Ein Buch über den Mut, schmerzhafte Dinge zu verarbeiten, loszulassen und sich von Altlasten freizuschwimmen