Eine Familie, die keine schwarzen Schafe hat, ist keine charakteristische Familie (H. Böll)
Die WirtinnenSeit Jahrzehnten ist das Gasthaus auf dem Land Dreh- & Angelpunkt im Leben von Johanna, Marianne und Gertrud. Aber so richtig wohl fühlen sich die Frauen weder in ihrer Haut, noch mit dem Klotz am Bein, ...
Seit Jahrzehnten ist das Gasthaus auf dem Land Dreh- & Angelpunkt im Leben von Johanna, Marianne und Gertrud. Aber so richtig wohl fühlen sich die Frauen weder in ihrer Haut, noch mit dem Klotz am Bein, zu dem das Gasthaus im Verlauf der Zeit geworden ist. Auch wenn drei Generationen unter einem Dach leben, ist von Vertrauen und Verständnis keine Spur, denn zu viel ist bisher geschehen,was Misstrauen und Vorsicht notwendig macht. Einzig das Pflichtgefühl ihren Gästen gegenüber eint Großmutter, Mutter und Enkelin. Und noch etwas haben alle drei gemeinsam, ohne dass jemals wirklich darüber gesprochen wird - alle drei hängen ihren Träumen nach, weil immer irgendetwas dazwischen kommt....
"Die Wirtinnen" von Silvia Pistotnig ist ein unglaublich starker Generationenroman, der über die Jahrzehnte hinweg sehr detaillierte Einblicke in die jeweiligen Lebensabschnitte von Johanna, Marianne und Gertrud ermöglicht. Die Autorin zeichnet sehr klare Figuren, die , obwohl sie alle unter einem Dach leben, wenig bis gar nichts voneinander kennen und mehr aus Pflichtgefühl, denn aus tiefer inniger Verbundenheit im sehr wackligen Familienkonstrukt leben.
Da es viele Perspektivenwechsel gibt, ermöglicht Pistotnig ihrer Leserschaft, sich ein sehr genaues Bild von den einzelnen Charakteren zu machen und ihre Lebensgeschichten mit allen ihren Höhen und Tiefen kennenzulernen. Während Johanna als Kind und Heranwachsende das Orgelspiel für sich entdeckt und geradezu begnadet an den Tasten ist, wird sie von der eigenen Mutter emotional ziemlich kurz gehalten und ihre Begeisterung für das Instrument mehr oder weniger verteufelt. Mit der Vergewaltigung durch den Schwager nimmt ihr Leben eine tragische Wendung und Johanna, naiv und wenig aufgeklärt, hat schwer an den Folgen zu tragen. Bis ins hohe Alter wirkt sie verbissen, emotionslos und bemüht, die Fehler ihrer Vergangenheit nicht auf Tochter und Enkelin zu übertragen.
Marianne ist ein Zahlengenie und fühlt sich in der Welt der Mathematik mehr Zuhause, als es ihr das Gasthaus und ihre Ehe je sein könnten. Auch sie fügt sich mehr schlecht als recht in ihre Rolle als Ehefrau, Mutter und Gastwirtin und merkt dabei nicht, dass ihre Gefühlskälte und ihre stoische Gelassenheit der Wegbereiter für weitere geplatzte Träume sind.
Gertrud wächst in einem Elternhaus auf, das viel Arbeit, aber wenig Liebe kennt und ist manchmal übrig wie ein Kanten altes Brot. Ihre Jugend ist geprägt von Entbehrungen, Schwärmerei und dem Gefühl, nie wirklich dazuzugehören, egal was sie auch anstellt.
Der Generationenroman nimmt die Leser;innen mit auf eine Zeitreise durch die Jahre 1936 bis 2022 und lässt die jeweiligen gesellschaftlichen, politischen und moralischen Ansichten aufleben. Zwischen aufkommendem Antisemitismus, Wirtschaftswunder, Flower Power und Grunge scheint das Gasthaus die einzige Konstante im Leben der drei Frauen zu sein, die zwar alle irgendwie mit Talent gesegnet sind, aber dieses nicht wirklich ausleben können, da ihnen das Schicksal immer wieder einen Streich spielt. So werden sie zu schwarzen Schafen der Familie, die aber trotzdem liebenswert sind und in ihrer für sie eigenen Art die Leser;innen von sich einnehmen können.
Ein vielschichtiges und gesellschaftskritisches Familienporträt, das zeigt, dass Frauen stärker sind, als man(n) es vielleicht auf den ersten Blick erwartet. Ein sehr ehrlicher und direkter Roman, bei dem das Schicksal manchmal ein ganz fieser Verräter ist.
Absolut lesenswert !