Zunehmende Beklemmung & vielversprechender Start der Triologie
Jahre aus SeideBei „Jahre aus Seide“ handelt es sich um mein erstes Buch von Ulrike Renk. Schnell bin ich in die Lebensgeschichte der Krefelderin Ruth Meyer gekippt, die mit ihrer jüngeren Schwester Ilse behütet im elterlichen ...
Bei „Jahre aus Seide“ handelt es sich um mein erstes Buch von Ulrike Renk. Schnell bin ich in die Lebensgeschichte der Krefelderin Ruth Meyer gekippt, die mit ihrer jüngeren Schwester Ilse behütet im elterlichen jüdischen Schuhhändler-Haushalt von Martha und Karl Meyer samt Kindermädchen Leni und Köchin Frau Jansen aufwächst. Komplettiert wird die engere Familie noch durch die eigentümliche Großmutter mütterlicherseits sowie die liebenswürdigen Großeltern väterlicherseits. Besondere Bedeutung für die gesamte Familie hat auch Chauffeur Hans Aretz samt seiner Familie, den Karl Meyer aufgrund seines Augenleidens engagiert hat. Die Verbundenheit der beiden Familien geht bald über das einer normalen Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Beziehung hinaus.
Irritierend empfand ich den Titel „Jahre aus Seide“ samt Klappentext, die einen größeren Anteil von Richard Merländer, dem im Nachbaranwesen lebenden jüdischen Seiden- und Stofffabrikant, vermuten ließ. Dessen Rolle bzw. Namensgeber für den Titel beläuft sich primär über die Tochter seines Chauffeurs, Rosie, die sich mit Ruth anfreundet. Ruths Großmutter bringt den beiden Mädchen das Nähen bei, wobei Merländer ihnen immer wieder Stoffproben aus seinen Musterbüchern zukommen lässt und so Ruths Kreativität geweckt wird (zB diverse Chanukka-Geschenke anzufertigen).
Äußerst beeindruckend beschreibt Ulrike Renk umfangreich das Alltagsleben ihrer Protagonisten und zeigt den schleichenden zunehmenden Antisemitismus, der sich für jeden - egal ob als Kind in der Schule oder als Erwachsene - im Leben bemerkbar machte. Auch dass die Vorkommnisse äußerst unterschiedlich empfunden und interpretiert – vor allem hinsichtlich ihrer zukünftigen Entwicklung – wurden und dass einige sofort Deutschland verlassen, andere zuwarten und wiederum andere bleiben wollten, weil sie annahmen, dass es so schlimm schon nicht kommen wird können.
Auch für Familie Meyer wird es zunehmend schwieriger, wobei Karl Meyer versucht, seinen Kindern und deren Freunden die staatliche Einschränkungen durch persönliches Engagement wettzumachen, um ihnen trotzdem eine möglichst erfüllende Jugendzeit zu bieten.
Als das Familienoberhaupt sich doch dazu durchringen kann, endlich Visa-Anträge für eine Ausreise aus Deutschland zu stellen, wird klar, dass dies mit langen Wartezeiten verbunden ist, nicht klar ist, welches Land ihnen überhaupt eines gewähren würde und ob er auch für alle Familienmitglieder ein Visa wird erhalten können.
Band 1 endet mit einem Cliffhanger am Folgetag der Reichskristallnacht, an dem Ruth und Ilse verzweifelt ihre Eltern in der verwüsteten Villa suchen.
Besondere Tiefe erhält das bislang gute Buch aber durch sein Nachwort, in welchem Ulrike Renk beschreibt, wie sie zu dieser Geschichte gefunden hat. Dass der Kern der Geschichte die Lebensgeschichte der realen Ruth Meyer war, deren Nachfahren ihr unter anderem auch deren Tagebücher zur Verfügung gestellt haben.
Fazit:
Ein beeindruckendes Werk, dessen Fortsetzung ich schon entgegenfiebere!