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Veröffentlicht am 21.01.2019

Leben bis zum Tod

Die Unsterblichen
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Im Mittelpunkt von Chloe Benjamins Roman “Die Unsterblichen“ steht die jüdische Familie Gold in der Lower East Side in New York. Die Romanhandlung setzt im heißen Sommer 1969 ein, als die vier Geschwister ...

Im Mittelpunkt von Chloe Benjamins Roman “Die Unsterblichen“ steht die jüdische Familie Gold in der Lower East Side in New York. Die Romanhandlung setzt im heißen Sommer 1969 ein, als die vier Geschwister – Varya, 13, Daniel, 11, Klara, 9 und Simon, 7 – während der langen Sommerferien eine Wahrsagerin aufsuchen. Daniel hat von Freunden gehört, dass diese Frau jedem seinen exakten Todestag vorhersagen kann. Das tut sie auch bei den vier Kindern, deren Leben von diesem Augenblick an für immer verändert ist.
Der Roman ist in vier Abschnitte aufgeteilt. Aus der jeweiligen Perspektive eines Gold-Sprösslings wird ihre Lebensgeschichte erzählt, beginnend mit Simon, der die geringste Lebenserwartung hat. Angesichts seines baldigen Ablebens genießt er das Leben in vollen Zügen, ohne Rücksicht auf mögliche Risiken. Seine Schwester verhält sich ähnlich. Auch für sie ist es wichtig, ihre Träume umgehend zu verwirklichen, nichts auf später zu verschieben, denn sie wird auch schon in den 30ern sterben. Die beiden jüngsten Geschwister gehen mit 16 und 18 Jahren nach San Francisco und überlassen es Daniel und Varya, sich um die verwitwete Mutter in New York zu kümmern.
In den vier Lebensgeschichten ist nicht zu übersehen, dass die Geschwister die Prophezeiungen nicht einen Augenblick lang vergessen und ihre Entscheidungen im Hinblick auf ihren angekündigten Tod treffen. Dieses Wissen ist offensichtlich so belastend, dass sie Auffälligkeiten entwickeln. Klara scheint manisch-depressiv zu sein, während Varya an Zwangsstörungen leidet, durch die sie mehr überlebt als lebt. Sie meidet soziale Kontakte und hat eine übertriebene Angst vor Unsauberkeit, d.h. vor den Gefahren, die von Viren und Bakterien ausgehen. Nicht nur die Protagonisten werden sich fragen, ob es nützlich oder schädlich ist, wenn man das eigene Todesdatum kennt. Lebt man mit diesem Wissen bewusster, intensiver, oder ist es einfach nur eine unerträgliche Belastung?
Neben dieser zentralen Thematik geht es in dem Roman jedoch auch um Liebe und Trauer und vor allem um Geschwisterbeziehungen. Die Golds sind einerseits untrennbar miteinander verbunden, andererseits einander über weite Strecken entfremdet. Daniel fühlt sich schuldig, weil er den Besuch bei der Wahrsagerin organisiert hat, Klara wirft sich vor, dass sie mit dem Umzug nach San Francisco mittelbar den frühen Tod ihres Bruders verschuldet hat. Der Autorin gelingt eine komplexe Geschichte, die ihre Wirkung auf den Leser trotz einiger Längen und der manchmal etwas künstlich wirkenden Anpassung an das Handlungsgerüst nicht verfehlt. “Die Unsterblichen“ ist sicherlich eines der wichtigeren Bücher dieses Jahres.

Veröffentlicht am 01.01.2019

Die kleine und die große Geschichte

Der Apfelbaum
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Mit “Der Apfelbaum“ legt der bekannte Schauspieler Christian Berkel seinen Debütroman vor. Viele Jahre hat er es vermieden, dieses Buch zu schreiben, und dennoch ließ ihn die bewegte Geschichte seiner ...

Mit “Der Apfelbaum“ legt der bekannte Schauspieler Christian Berkel seinen Debütroman vor. Viele Jahre hat er es vermieden, dieses Buch zu schreiben, und dennoch ließ ihn die bewegte Geschichte seiner Familie nicht los. Er recherchierte gründlich, reiste an viele Schauplätze des Geschehens und führte Gespräche, u.a. auch mit seiner 91jährigen Mutter Sala, deren Erinnerung allerdings nicht ganz zuverlässig war, z.B. wenn sie behauptete, mit Carl Benz verheiratet gewesen zu sein, der ihr ein Millionenvermögen hinterlassen habe oder dass der Vater des 1953 geborenen Christian im Krieg gefallen sei.
Berkel erzählt die Geschichte seiner Familie über drei Generationen, angefangen mit der jüdischen Urgroßmutter Alta, dann Großmutter Isa und Mutter Sala, die durch die Heirat mit einem Nicht-Juden Halbjüdin war. Es war dem Autor ein dringendes Bedürfnis, mit 60 endlich die verstörenden Leerstellen der ihm bekannten Geschichte zu füllen und seine eigene Identität zu begreifen und zu akzeptieren – das alles vor dem Hintergrund der schrecklichen Ereignisse des 20. Jahrhunderts. Die Frauen der Familie wurden verfolgt und inhaftiert. Großmutter Isa war als Anarchistin in Francos Gefängnissen inhaftiert, Mutter Sala überlebte die Lagerhaft in den Pyrenäen. Der Vater geriet als Arzt der Wehrmacht kurz vor Ende des Krieges in russische Gefangenschaft. Es grenzte an ein Wunder, dass die Eltern, die sich 1932 mit 13 und 17 Jahren kennengelernt hatten, nach einer wahren Odyssee Anfang der 50er Jahre überhaupt wieder zusammenkamen.
Der Autor betont mehrfach, dass man den Nationalsozialismus nicht verdrängen oder vergessen dürfe, sondern ihn als Teil der deutschen Identität begreifen müsse. So heilt der Autor für sich den in seiner Kindheit durch Informationsbröckchen – ein bisschen jüdisch, nicht ganz deutsch – verursachten Identitätsbruch, indem er durch die Auseinandersetzung mit der Geschichte seiner Familie zu seiner Identität findet.
Mir hat der Roman sehr gut gefallen. Er ist interessant und gut geschrieben und berührt, weil er zwar ein Werk der Fiktion ist, aber auf der Basis der Fakten dem Leser reale Personen näherbringt. Ein beeindruckender Romanerstling.

Veröffentlicht am 21.10.2018

Zwei Geschichten

Königskinder
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In seinem Roman “Königskinder“ verwöhnt der Alex Capus den Leser mit zwei Geschichten: eine spielt in der Gegenwart, die andere in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Das Ehepaar Max und ...

In seinem Roman “Königskinder“ verwöhnt der Alex Capus den Leser mit zwei Geschichten: eine spielt in der Gegenwart, die andere in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Das Ehepaar Max und Tina ist in den Schweizer Alpen mit dem Auto unterwegs, als sie auf einer eigentlich gesperrten Alpenstraße im Schnee steckenbleiben. Bis zum Morgen müssen sie sich irgendwie die Zeit vertreiben. Also erzählt Max seiner Frau eine Liebesgeschichte, die teilweise in der Schweiz, zum Teil aber am Hof von Versailles spielt. Der arme Kuhhirte Jakob verliebt sich in Marie, die Tochter eines reichen Bauern. Für den Vater des Mädchens ist Jakob natürlich kein geeigneter Ehekandidat. Der Bauer verhindert diese Verbindung. Marie wartet dennoch viele Jahre auf ihren Jakob, der inzwischen Soldat geworden ist und nach sieben Jahren zwar zurückkehrt, aber dann bald an den französischen Königshof geschickt wird, weil Prinzessin Elisabeth, die Schwester von Ludwig XVI., jemanden braucht, der sich mit Schweizer Kühen auskennt. Als die Prinzessin von den getrennten Liebenden hört, nutzt sie ihren Einfluss und holt Marie nach Versailles. Das Glück dauert jedoch nur bis zur Französischen Revolution. Dann müssen sich die Liebenden neu orientieren.
Capus hat einen gut lesbaren Roman geschrieben, bei dem sowohl das authentische Porträt des zeitgenössischen Versailles als auch die sprachliche Virtuosität auffallen muss. Capus schafft eine Wortkulisse, die das höfische Leben inklusive damalige hygienische Verhältnisse lebendig werden lässt. Das Ergebnis ist kein trockenes Geschichtsbuch, sondern eine Geschichte voller Humor und Satire. Ich habe diesen Roman gern gelesen, obwohl ich ihn nicht für sein bestes Werk halte. Trotzdem ist das Buch eine Empfehlung wert.

Veröffentlicht am 03.10.2018

Ein alles veränderndes Ereignis

Ein Winter in Paris
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“Ein Winter in Paris“ von Jean-Philippe Blondel beginnt mit einer Art Prolog. Der Ich-Erzähle Victor findet bei seiner Rückkehr aus dem Urlaub den Brief eines alten Mannes vor, der ihn in einer Fernsehsendung ...

“Ein Winter in Paris“ von Jean-Philippe Blondel beginnt mit einer Art Prolog. Der Ich-Erzähle Victor findet bei seiner Rückkehr aus dem Urlaub den Brief eines alten Mannes vor, der ihn in einer Fernsehsendung gesehen hat und seine Bücher liest. Dieser Brief versetzt ihn schlagartig zurück in die Vergangenheit. Victor hat nie vergessen, was 30 Jahre zuvor geschah. Um diese Geschichte geht es im Roman.
Der 19jährige Victor hat die Provinz verlassen und besucht im zweiten Jahr eine Vorbereitungsklasse, die ihm bei erfolgreichem Bestehen der Auswahlprüfung Zugang zum Studium an einer renommierten Universität verschaffen soll. Victor hat es wider Erwarten in die zweite Klasse geschafft, aber einen hohen Preis dafür bezahlt: Ein Jahr lang hat er in völliger Isolation verbissen gearbeitet. Er ist sichtlich anders als alle anderen, was ihn gewissermaßen unsichtbar macht. Victor stammt aus sehr einfachen Verhältnissen, und diesen Rückstand an Kultur und Lebensart holt keiner so schnell auf. Doch dann scheinen sich die Dinge zu ändern. Beim Rauchen in der Mittagspause lernt er den jungen Mathieu kennen, der wie er ein Außenseiter im Jahrgang unter ihm ist. Sie wechseln ein paar belanglose Sätze. Victor kann sich eine Freundschaft mit Mathieu vorstellen, doch dazu kommt es nicht mehr. Eines Tages begeht Mathieu in der Schule Selbstmord, weil er den Leistungsdruck und die Schikanen nicht länger erträgt. Alles ändert sich plötzlich für Victor. Alle interessieren sich für ihn, suchen seine Nähe, auch Pierre Lestaing, der Vater des Toten. Er erhofft sich von Victor Informationen über seinen Sohn und Aufschluss über die Gründe seines Selbstmords. Der verwaiste Pierre und Mathieu, der nie einen solchen Vater hatte, kommen sich immer näher, bis Mathieus Mutter der in ihren Augen kranken Beziehung ein Ende setzt. Victor hat inzwischen Abschied von der Idee einer akademischen Karriere genommen und wird Englischlehrer und Schriftsteller – genau wie der reale Autor Jean-Philippe Blondel.
Blondel erzählt die kurze, zumindest teilweise autobiografische Geschichte in beeindruckender Weise. Er berührt dabei Themen wie Freundschaft und Familie, die Schwierigkeit für einen jungen Menschen, sich außerhalb seines Milieus neu zu orientieren und den gnadenlosen Konkurrenzkampf um einen der wenigen Plätze an einer Elite-Universität. Mir hat dieser Roman sehr gut gefallen. Es wird nicht mein letztes Buch von diesem Autor sein. “6 Uhr 41“ liegt schon bereit.

Veröffentlicht am 03.10.2018

Das Verborgene unter der Oberfläche

Manhattan Beach
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Jennifer Egans neuer Roman „Manhattan Beach“ ist im New York der 30er und 40er Jahre angesiedelt. Die Menschen leben mit den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise und des Zweiten Weltkriegs. Im Mittelpunkt ...

Jennifer Egans neuer Roman „Manhattan Beach“ ist im New York der 30er und 40er Jahre angesiedelt. Die Menschen leben mit den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise und des Zweiten Weltkriegs. Im Mittelpunkt steht die junge Anna mit ihren Eltern Eddie und Agnes und der jüngeren behinderten Schwester. Als 11jähriges Mädchen begleitet sie ihren Vater eines Tages zu dem reichen Gangster Dexter Styles. Worin die Arbeit ihres Vaters für diesen Mann besteht, weiß das Kind nicht. Vier Jahre später verschwindet der Vater spurlos, und Agnes und ihre Töchter sind auf sich allein gestellt. Mit 19 arbeitet Anna in der Werft. Sie nimmt Messungen vor, möchte aber viel lieber eine Tauchausbildung machen und Kriegsschiffe in der Werft reparieren. Es dauert eine Weile, bis ihre Hartnäckigkeit zum Erfolg führt und man sie einstellt. Sie schließt Freundschaft mit einer jungen Frau, die sie in eine Bar mitnimmt. Dort sieht sie Dexter Styles wieder. Sie sucht Kontakt zu ihm, weil sie zu Recht vermutet, dass er etwas über den Verbleib ihres Vaters weiß. Dexter und Anna kommen sich näher.
„Manhattan Beach“ ist ein historischer Roman mit Krimielementen. Einerseits bekommt der Leser ein Bild vom Leben in der damaligen Zeit: den Lebensbedingungen der Menschen zu Kriegszeiten, der Stellung der Frau in der amerikanischen Gesellschaft und der Macht der Gangstersyndikate. Andererseits wollen Anna und der Leser wissen, was mit ihrem Vater passiert ist. Erzählt wird aus drei verschiedenen Perspektiven, der von Anna, Dexter und Eddie und auf wechselnden Zeitebenen. Wichtige Informationen hält die Autorin bis fast zum Schluss zurück. Auch dadurch wird Spannung aufgebaut, denn der Leser begreift nur allmählich, wie eng die drei Schicksale verknüpft sind und welche Geheimnisse die Protagonisten sorgsam verbergen.
Egan legt einen sehr interessanten Roman vor, der allerdings wegen der sehr detaillierten Beschreibung von Tauchgängen und der benötigten Tauchausrüstung etwas Geduld und Durchhaltevermögen erfordert. Mir hat das Buch gut gefallen.