Der Weg nach oben?
So reich wie der König„So reich wie der König“ sollte der Mann sein, den Sarah, die sechzehnjährige Französin aus dem Armenviertel Casablancas, einmal heiraten möchte. Ihr Traum von Reichtum ist so groß, dass sie fast zu allen ...
„So reich wie der König“ sollte der Mann sein, den Sarah, die sechzehnjährige Französin aus dem Armenviertel Casablancas, einmal heiraten möchte. Ihr Traum von Reichtum ist so groß, dass sie fast zu allen Mitteln greifen würde, um ihn sich zu erfüllen. So flattert sie von einem reichen Gönner zum nächsten, um sich über Wasser zu halten, lässt sich mit Paninis und Säften bezahlen und hofft auf ein besseres Leben. Als sie schließlich erfährt, dass der unansehnliche und unattraktive Driss „so reich wie der König“ ist, setzt sie alles daran, ihn für sich zu gewinnen.
Eigentlich ist „So reich wie der König“ von der Anlage her eine raue und kalte Aschenputtel-Story, der Wunsch einer Heranwachsenden nach ein bisschen Märchen. Sarah als Figur ist jedoch schwer einzuordnen. Sie ist hart in ihrem Verhalten, berechnend und klar kalkulierend, Gefühle sind ein Luxus, den sie sich nicht leisten kann. Für den Leser ist sie kaum zu fassen. Ist sie zu Beginn des Romans einfach unsympathisch, greift nach einigen Seiten die Sympathielenkung so manipulierend zu, dass man zwischen Mitleid und Hoffnung für sie schwankt – und dass, obwohl man ihre Vorgehensweise klar erkennen kann. Empathie ist dennoch möglich, denn wer würde dieses mittellose Mädchen aus zerrütteten Verhältnissen, dass mit ihrer schwer übergewichtigen Mutter, die sich von einem „Wohltäter“ nach dem anderen aushalten lässt, in Casablanca gestrandet ist, dafür verurteilen, dass sie etwas an ihrer Lage verändern möchte? Dennoch bleibt die offene und diskussionswürdige Frage bis zum Schluss, wie ihre Gefühle tatsächlich aussehen. Mit Sarah ist Abigail Assor auf jeden Fall eine äußerst spannende Figur gelungen.
Schwierig aus heutiger Sicht ist sicherlich der Umstand, dass Sarah ihre bessere Zukunft ausschließlich in der Ehe mit „einem Reichen“ sieht und nicht einen anderen Weg in Betracht zieht, zumal sie ein sehr gutes Gymnasium besucht. Vermutlich ist das der Grund, warum die Autorin den Roman im Jahr 1994 angesiedelt hat, doch konnte mich genau das als einziger Aspekt an dem Roman nicht vollkommen überzeugen. Wenn ich mich recht erinnere, hatten junge Frauen auch 1994 durchaus Karriereziele und der Feminismus war ebenfalls schon so weit vorangeschritten, dass man sogar als Frau in Erwägung ziehen konnte, selbst etwas aus sich zu machen. Bei Sarah ist der „Karriereweg“ eher durch die Mutter vorgezeichnet, als durch den zeitlichen Kontext gegeben. Auch sonst spürt man die 90er – bis auf den Walkman, das Festnetztelefon und vor allem die Abwesenheit von Handys kaum. Es gibt ein paar archaisch anmutende Momente (wie das Regengebet) aus der marokkanischen Gesellschaft, von denen ich nicht beurteilen kann, ob sie heute noch existieren, aber insgesamt habe ich die Notwendigkeit des zeitlichen Settings nicht ganz nachvollziehen können.
Neben Sarah ist der eigentliche Star des Romans die Stadt Casablanca. Mit Sarah streift der Leser durch jeden Winkel dieser Stadt und lernt an ihrer Seite den Alltag und die verschiedenen Viertel kennen. Hier wird viel Atmosphäre ausgeschüttet, die Stadt kann man riechen und fühlen, die marokkanische Lebensart durchdringt die Seiten. Sprachlich ist der Roman zeitweise so unterkühlt wie seine Protagonistin, dann aber blitzen wieder sprachlich sehr schöne Bilder auf, wenn z.B. die Haarfarbe der Frauen mit der Farbe der Schatten auf den Mauern von Marrakesch verglichen wird. Überhaupt wird „Sprache“ auch im Verlauf des Romans zu einem eigenen Thema. Im übertragenen Sinne ist sie auf einer nonverbalen Ebene Ausdruck der rigiden Schichtentrennung, denn Sarah muss erkennen, dass bei aller Mühe sie die „Sprache der Reichen“, das instinktive Erkennen der Zugehörigkeit zur Oberschicht, nicht beherrscht.
„So reich wie der König“ ist ein sehr lohnenswerter Roman mit Sogwirkung und äußerst spannender Sympathielenkung.