Nun habe ich mich also aufgemacht, um eine riesige Bildungslücke zu füllen, einen unangenehmen weißen Fleck in meinem ohnehin recht patchworkartigen Geschichtsverständnis. Ich wollte endlich wissen, was es mit Karl dem Großen auf sich hat. Nur? Welche Biographie soll man aus dem Wust von Veröffentlichungen wählen? Nun, zunächst einmal aktuell sollte sie sein, den aktuellen Stand der Forschung berücksichtigen können. Außerdem wollte ich weder eine blauäugig glorifizierende Lobeshymne noch einen wütenden Verriss lesen. Daher entschied ich mich für dieses erst 2015 erschienene und außerdem bezahlbare Taschenbuch. Bereits das erste Kapitel bestärkte mich in der Hoffnung, richtig gewählt zu haben. Der Biograph zählt zunächst einmal alle positiven wie negativen Vorurteile über Karl den Großen auf und verspricht ausdrücklich nicht, die Frage nach "gutem Kaiser" oder "bösem Kaiser" eindeutig zu beantworten. Man darf sich also auf einen differenzierten und informativen Lesegenuss freuen.
Nachdem die karolingische Grundhaltung des Strebens nach "Eindeutigkeit" erläutert wurde, ohne deren Berücksichtigung man man dieses Zeitalter nicht verstehen könne und nach Aufzählung und Einordnung der zur Verfügung stehenden Quellen wird im dritten Kapitel mein erstes Karlsbild erzeugt, ein widersprüchliches Bild des toten Herrschers. Wurde er auf seinem Thron sitzend begraben, wie ihn angeblich Zeitzeugen 200 Jahre später bei der Graböffnung vorgefunden haben? Oder liegend in einem Sarkophag, wie die neuere Forschung behauptet? Ich merke mir zunächst einmal beide möglichen Ansichten... Meine Kopfbilder werden zu Reliquien. Der Autor führt aus, wie Kaiser Friedrich Barbarossa diese benutzt, um den Papst in seiner Vormachtstellung zu bremsen, und wie Karl der Große über die Legendenbildung der folgenden Jahrhunderte immer mehr zum Mythos wird.
Aus Karls Kindheit ist nicht viel bekannt, aber die Verklammerung von Herrscher und Kirche wurde während der Kindheit Karls des Großen entwickelt, und dass dies auf den späteren Kaiser einen großen Einfluss hatte, ist unumstößlich. Sechsjährig wird Karl als Empfangskomittee dem Papst entgegengeschickt, mit 12 erhält er herrschaftliche Rechte über ein Kloster, dreizehnjährig zieht er zum ersten Mal mit dem Vater in eine Schlacht. Mit 15 wird ihm die Verwaltung von Grafschaften übertragen, mit zwanzig wird er zum König gekrönt. Karl war eine imposante Erscheinung. Er soll 1,90 m groß gewesen sein, wohingegen sein Stimme wohl eher im Tenorbereich angesiedelt war. Das Bild des verklemmten, zu kurz gekommenen Möchtegern-Machos aus einer der letzten Arte-Dokumentationen passt so gar nicht zu dem des hier beschriebenen souveränen Staatsmannes, von dem Autorität und Würde ausgingen. Karl war ein Familienmensch und liebte die Gesellschaft, interessierte sich für Astronomie und glaubte fest an das göttliche Auserwähltsein seiner Familie.
Was nicht heißt, dass es keine dunklen Flecken gibt in der Biographie des großen Herrschers. Dunkel muss die Geschichte um den mysteriösen Tod seines Bruders und Rivalen Karlmann bleiben. Es sieht ganz danach aus, als wären unliebsame Konkurrenten und Erben frühzeitig ausgeschaltet worden. Hier und andernorts finde ich die Biographie immer wieder sehr glaubwürdig, da sie sich nie urteilend auf eine Seite schlägt, sondern differenziert die Quellenlage wiedergibt.
Interessant für mich war, dass die Idee des "Heiligen Krieges" nahezu zeitgleich von christlichen und muslimischen Herrschern verfolgt wurde. Das von Karl häufig konsultierte Werk des Augustinus "De civitate Dei", "Vom Gottesstaat" scheint mir eine Art Gegenentwurf zum Kalifat zu sein, das sich damals stark ausgebreitet hatte. Im Jahr 710 hatten islamische Heere begonnen, Spanien zu erobern, 772 zog Karl zum ersten Mal gegen die Sachsen und 778 über die Pyrenäen, um Teile Spaniens zurückzuerobern, was allerdings nur mäßig gelang. Spanien befreien ist eine Sache, es dem Frankenreich einverleiben eine ganz andere. Da wollten zum Beispiel die Basken nicht mitspielen und brachten seiner Nachhut in den Pyrenäen die legendäre im Rolandslied besungene Niederlage bei.
Im achten Kapitel erfahren wir, dass die Töchter Karls zu seinen Lebzeiten offiziell ledig blieben - Karl wollte offensichtlich verhindern, dass sich Adlige durch Einheiraten in die Königsfamilie Vorteile verschafften. Inoffiziell allerdings lebten die Töchter in eheähnlichen Verhältnissen, zeugten Kinder und standen sogar in dem Ruf, zu ausschweifend zu leben. Solche Freiheiten genossen Karls Ehefrauen nicht. Ich fürchte, spätestens hier nimmt mein Karlsbild ernsthaft Schaden. Seine erste Frau Himiltrud verstößt er zugunsten einer Langobardenprinzessin, deren Name noch nicht einmal überliefert ist und die er nach kurzer Zeit ebenso verstößt, da sich die politische Lage verändert hat - oder bessergesagt, weil Karl sich entschlossen hat, die politische Lage zu ändern. Himiltrud wurde später von Karls Biographen Einhart zur Konkubine degradiert. Man kann noch so sehr entschuldigend anführen, dass unter den Merowingerkönigen die Vielweiberei durchaus noch verbreitet gewesen war - man kann sich schlecht einen Christen nennen und gleichzeitig so beschämend wie Karl mit dem anderen Geschlecht umgehen. Dennoch bleibt es ein Verdienst der Biographie, dass sie auch hier nicht anklagt, sondern nur informiert. Alle eventuell noch folgende Polemik stammt aus der Feder der Rezensentin. Hildegard, die gerade mal 14 war, als Karl sie ehelichte, diente zwölf Jahre lang als königliche Gebärmaschine, bis sie nach neun Schwangerschaften mit ca. 25 Jahren starb. Trotz dieser vordefinierten Rolle war sie aber auch politisch und wohltätig aktiv. Ihre Nachfolgerin an der Seite Karls war Fastrada, zu der er ein inniges Verhältnis gehabt haben muss. Karls Biograph Einhard nannte sie eine "grausame Königin", was wohl der Tatsache geschuldet war, dass sie von Karl hin und wieder mit der Regentschaft betraut wurde und durchaus durchgreifen konnte. Das hatte man offensichtlich von einer Frau nicht erwartet. Unter denen, die sich gegen die Königin erhoben, war ihr eigener Stiefsohn Pippin der Bucklige (Sohn der Himiltrud). Zur Strafe wurde er zu lebenslanger Klosterhaft ins Kloster Prüm geschickt (da hab' ich mal übernachtet! - unqualifizierte Sponti-Bemerkung einer mitfiebernden Rezensentin...).
Auch kleine unscheinbare Details werden berichtet und machen das Bild lebendig, wie zum Beispiel, dass der heilige Goar von Goarshausen Königin Fastrada vorübergehend von ihrem Zahnweh geheilt haben soll. In den Jahren nach ihrem Tod verlagerte Karl den Familiensitz nach Aachen, wo er sich in Folge häufig mit seinen Töchtern aufhielt. Dort lebte er einige Jahre in einer Beziehung mit einer Alemannin namens Liutgard, deren Schönheit von vielen Dichtern besungen wurde. Es ist nicht ganz klar, ob eine Ehe geschlossen wurde oder nicht. Nach dem frühen Tod Liutgards, die kinderlos blieb, heiratete Karl nicht mehr, hatte aber uneheliche Beziehungen zu mindestens vier weiteren Frauen.
Nachdem man als emotional veranlagter Leser ein wenig auf Distanz zum Helden der Biographie gegangen ist (auch seine Feldzüge gegen die Sachsen zeugen von einer unglaublichen Brutalität und machen ihn dem Leser nicht gerade sympathisch), erfährt man in den folgenden Kapiteln staunend von Karls gigantischer Bildungsreform, die durch Vereindeutlichung des geschriebenen und gesprochenen Wortes die Gottesverehrung fördern sollte ("...damit nicht wegen fehlerhafter Bücher jemand seine Bitten fehlerhaft an Gott richte.") Ich finde diesen Versuch anrührend. Manch einer, der das heute liest, mag die Stirn runzeln, aber das ist wieder etwas, was ich an Karl bewundere: während heute Bildung mehr und mehr auf ihre wirtschaftlichen Auswirkungen abgeklopft wird, sollte sie unter Karl dazu dienen, das Verständnis des Menschen von einer höheren Macht zu erweitern bzw. zu präzisieren. Es folgt eine ausführliche Beschreibung und Aufzählung all der berühmten Gelehrten, die mit Alkuin Einzug an Karls Hof hielten. Schon bald gab es neue Rituale der Gelehrten wie die Erfindung von Spitznamen für jeden Kollegen oder den Dichterwettstreit, eine Art altertümlichen Poetry Slam. Hin und wieder musste Karl sogar eingreifen, wenn sich die Gelehrten zu heftig in den Haaren lagen. Die Gelehrten sollten vor allem für eine korrekte Lehre der lateinischen Sprache sorgen, damit die Bibel nicht mehr durch Übersetzungsfehler in ihrer Bedeutung entstellt werde. Angeführte Beispiele aus dem liturgischen Alltag lassen durchaus Schmunzeln aufkommen. Bezugnehmend auf das Abschreiben tausender Handschriften spricht der Autor von einem "Wissenstransfer mit einzigartiger Nachhaltigkeit" und weist darauf hin, dass uns ohne die karolingischen Bildungsanstrengungen nur ein Bruchteil des antiken Schriftguts erhalten wäre.
Papst Hadrian, mit dem Karl in so enger Verbindung stand, hatte zuvor die Abkehr vom Kaiser von Byzanz vollzogen. Dieser Hadrian scheint ein windiger Bursche gewesen zu sein. Über die gefälschte sogenannte "Konstantinische Schenkung" sicherte und vergrößerte er seine Macht und machte sich einem Kaiser ebenbürtig. Weinfurter nennt ihn den "idealen Partner für Karl den Großen" bezogen auf beider Streben nach Eindeutigkeit.
Im Kapitel "Die Wahrheiten der Kirche und die Deutungshoheit Karls" kriselt's im Gebälk. Kaiserin Eirene von Byzanz, das bisher an einem strikten Bilderverbot festgehalten hatte, bemüht sich in einem nizäanischen Konzil um Lockerung, um freundschaftlich auf Rom zuzugehen. Dumm nur: Man hat Karl und seine Experten nicht eingeladen. Der seinerseits eine Gegenschrift entwirft, in der er sich vehement gegen die Anbetung von Bildern ausspricht. Hier positioniert sich Karl gegen den Papst und behauptet seine eigene Deutungshoheit. Nur um sich kurz darauf mit der nächsten "Attacke" zu befassen: dem aus dem Westgotentum übergeschwappten "Adoptionismus", demnach Jesus als normaler Mensch geboren und erst später von Gott als Sohn "adoptiert" wurde. Karl sorgte dafür, dass der Verfechter dieser Theorie, Felix von Urgel aus den südlichen Pyrenäen, nach einigem Hin und Her aus der Kirche ausgeschlossen wurde. Der Preis der Eindeutigkeit war hoch.
Ende des Jahres 800 erfolgt Karls feierlicher Einzug in Rom und seine Krönung zum Kaiser durch den Papst in der Peterskirche, die, glaubt man dem Biographen Einhardt, unabgesprochen durch den Papst vorgenommen wurde. Karl selbst war mit der Art des Verfahrens alles andere als glücklich. Setzte doch der Papst geschickt Maßstäbe: der Kaiser hatte künftig durch den Papst gekrönt zu werden. Am byzantinischen Kaiserhof hingegen nahm man Rom nun als "unter der Herrschaft der Barbaren" wahr. Das gedemütigte Byzanz bäumte sich noch eine Weile auf, war aber machtlos und musste schließlich das Kaisertum Karls anerkennen.
Gute Beziehungen unterhielt Karl zum Kalifen von Bagdad, Harun ar-Raschid. Auch dieser liebte und förderte die Wissenschaften. So hatten die beiden eine gemeinsame Basis für gute nachbarschaftliche Beziehungen. Karls Motiv für diesen Kontakt war vor allem ein Verantwortungsgefühl und sein Schutzfunktion gegenüber den Christen im Orient. Mit Abnahme der Macht des Kalifen allerdings gegen Anfang des 9. Jh. mehrten sich pogromartige Überfälle auf christliche Einrichtungen, so dass Karl Geld schickte, um Kirchen wieder aufzubauen.
Schicksalsschläge und Verluste suchen den alternden Kaiser in den Jahren 809/ 810 heim, und in ihm vollzieht sich eine Wandlung vom überzeugten Heilsbringer und Weltverbesserer zum Zweifler, vom Äußeren zum Inneren, zur Wahrheit des Herzens. Gleichzeitig will es der alte Karl noch einmal wissen: er erstellt Fragebögen, gibt Untersuchungen in Auftrag, um zu erfahren, wie es tatsächlich um sein Volk steht. Das Ergebnis ist teilweise niederschmetternd: Korruption hat die Schere zwischen Arm und Reich vergrößert; die Bürger sind weniger willig, dem Kaiser zu dienen, als Jahre zuvor. Das scheint er sich zu Herzen zu nehmen. Der Kaiser beginnt zu zweifeln, gibt eine Menge Bußerlasse heraus, führt weniger Kriege, schließt mehr Friedensverträge. Gesundheitlich geht es seit 810 bergab mit Karl. Im Jahr 811 macht er sein Testament und verteilt erstaunlicherweise den Großteil seiner Güter an die Kirchen und an die Armen; auch das Hofgesinde geht nicht leer aus. Er verstirbt im Jahr 814.
In seiner Schlussbemerkung geht der Autor darauf ein, dass Karl gegen Ende seines Lebens nicht mehr vom Erfolg seiner Bildungsoffensive überzeugt war, führt aber aus, dass sie durchaus nachhaltige Folgen hatte, zum einen in den später auf ihrer Grundlage entstandenen Universitäten, zum anderen in der Entwicklung, die die Klöster in den folgenden Jahrhunderten nahmen und ihrer Eigenschaft als Träger der Bildung, des Wissens und der Wissenschaften.
Dieses Buch hat mich einige Zeit gekostet, aber sie war gut investiert. Die Geschichte Karls des Großen ist keine einfache Schwarz-Weiß-Zeichnung. Und doch wird es nie langweilig. Trotz des wissenschaftlichen Anspruchs versteht es der Autor, vor meinem inneren Auge einprägsame Bilder lebendig werden zu lassen. Stets vergleicht er die verschiedenen Quellen und zieht behutsame, kluge Schlüsse. Ich finde die thematische Chronologie der Kapitel auch gut und logisch aufgebaut. Stefan Weinfurter bringt die Dinge so gut auf den Punkt, dass keine Fragen offen bleiben (gefühlt, denn natürlich bleiben Fragen offen, wie bei jeder Biographie). Der ganz große Verdienst dieser Biographie ist, dass sie umfassend und sachlich informiert, ohne zu beschönigen, aber auch, ohne zu verurteilen. Sie lässt des Leser mit seinem Gewissen allein in der Entscheidung, ob und wie er sein moralisches Urteil über Karl den Großen fällen möchte.