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Veröffentlicht am 24.04.2017

großartig in sprache und aussage

33 Tage
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Ich habe dieses Buch während der Lektüre der "Nachtigall" von Kristin Hannah entdeckt, als ich auf der Suche nach etwas "Echtem" über die dort beschriebenen Ereignisse war. Es handelt sich dabei um ein ...

Ich habe dieses Buch während der Lektüre der "Nachtigall" von Kristin Hannah entdeckt, als ich auf der Suche nach etwas "Echtem" über die dort beschriebenen Ereignisse war. Es handelt sich dabei um ein ganz spannendes zeitgeschichtliches Dokument, aufschlussreich und gleichzeitig poetisch und pointiert. Léon Werth, nicht nur ein Freund, sondern der Freund Antoine de Saint-Exupérys, dem dieser seinen Kleinen Prinzen gewidmet hat, befindet sich mit seiner Frau Suzanne in Paris, als die deutsche Wehrmacht im Juni 1940 das verblüffte Frankreich überrennt (Werth spricht von Hypnose, und das scheint es genau zu treffen). Sie verlassen die Stadt mit dem Auto, um das sechzig Kilometer weiter südlich liegende Saint-Amour in einer Tagesetappe zu erreichen. Es kommt anders. Für diese Strecke werden sie 33 Tage brauchen. Gigantische Fahrzeugkolonnen wälzen sich im Schritttempo die Nationalstraßen entlang, werden umgeleitet, beschossen, kommen für mehrere Stunden zum Stillstand, so lange, bis allen allmählich das Benzin ausgeht und jeder irgendwann zu Fuß weitermuss oder versucht, in einem der umliegenden Bauernhöfe Asyl zu bekommen. Dabei erlebt das Ehepaar sowohl menschlich Anrührendes wie auch Skurriles.

Überall machen sich auf den Höfen die deutschen Besatzer breit und werden von den Franzosen skeptisch-ratlos beobachtet, oder auch, in ganz wenigen Ausnahmefällen, hofiert, wie zum Beispiel von "der Soutreux", bei der einige Flüchtlinge für ein paar Tage eher mürrisch geduldet als herzlich aufgenommen werden, bis die Werths es nicht mehr aushalten und das Weite suchen.

Ich würde mich am liebsten beim Leser dafür entschuldigen, diese Worte wiederzugeben. Aber ich schreibe keinen Roman und wähle mir meine Figuren nicht aus. Außerdem hatte die Dummheit dieser Frau durch den Kontrast in diesen Stunden etwas Pathetisches. (über "die Soutreux")

Es ist sehr erhellend, zu lesen, wie unsere besetzenden Vorväter auf die Franzosen gewirkt haben. Wir erfahren zum Beispiel, dass mancher deutsche Soldat mit einer merkwürdigen Verbissenheit verspielt ist - was französische Männer überhaupt nicht verstehen können. Außerdem erfahren wir, dass die Kunst des Pfeifens den Deutschen zu eigen ist. Da muss ich doch schmunzeln.

Manchmal ist es auch kaum erträglich. Als deutscher Leser lernt man hier Fremdschämen, wenn man dieses Wort bisher nur vom Hörensagen kannte. Die Franzosen sind zum Beispiel nicht so viel nackte Haut gewohnt, und die deutschen Soldaten laufen mit Vorliebe oberkörperfrei und mit kurzen Hosen auf den besetzten Anwesen und inmitten der Landbevölkerung herum. Dies in Kombination mit der strammen militärischen Organisation wirkt schon irgendwie derb. Bei Werth liest es sich so:

Sie tragen Badehosen und marschieren in Viererreihen singend im Gleichschritt. Aber ihr Gesang ist militärisch organisiert, vom Soldatenhandbuch bestimmt und wie Trommelschläge festgelegt. ...

Manchmal ist es hinreißend komisch. Abel Delaveau, dieser wunderbare Bauer von Chapelon, bei dem Werth mit seiner Frau schließlich Asyl gefunden hat, versucht, den deutsche Besatzern Krieg und Frieden zu erklären:

Im Wesentlichen sagte er: "Daladier, Chamberlain, Göring, Hitler, alles Dreckskerle..." Was er auch für Anstrengungen unternommen hat, einfach zu sprechen, die Soldaten haben ihn nicht verstanden, und vielleicht war das auch besser für ihn. Aber der Tonfall von Abel Delaveau ist von solcher Überzeugungskraft, dass die Soldaten zustimmend mit den Köpfen nicken.

Nicht alle deutschen Soldaten sind so unsensibel, dass ihnen ihre Siegerrolle gegenüber der Bevölkerung nicht unangenehm wäre:

An der Tür des Bürgermeisterei-und Schulgebäudes lässt ein deutscher Offizier meiner Frau höflich den Vortritt. Er zögert, und dann, in recht gutem Französisch: "Haben Sie Angst vor uns, Madame?" - "Angst? Nein, Monsieuer. Aber solange Sie bei uns diese Kleidung tragen (sie zeigt mit dem Finger auf seine Uniform), solange werden Sie mein Feind sein." - "Aber unser Führer hat den Krieg nicht gewollt. Frankreich hat ihn erklärt." - "Ich habe Mein Kampf gelesen ..." Der Offizier scheint betreten und antwortet: "Man verändert sich ... man kann sich verändern, und die Schuld liegt bei den Engländern, die verdammt nochmal, die Welt beherrschen wollen."

Allgemein hat man den Eindruck, dass viele der Besiegten über ein gesundes Selbstbewusstsein verfügen. Stark, wie die wackere Delaveau-Bäuerin einen der einquartierten deutschen Soldaten beim Stehlen eines Eis erwischt. Sie hat Autorität. Der Deutsche gibt das Ei wieder heraus ... Man hat keine Nachrichten, außer den einseitigen Propagandameldungen der Besatzer. Oder irgendjemand erzählt, irgendjemand habe im Radio gehört, dass irgendetwas ... Verlässliche Schlüsse können die im eigenen Land Gefangenen nur aus dem unmittelbar Sichtbaren ziehen, wie Léon Werth aus dem Verhalten des Eierdiebes:

Ich bin darüber erstaunt, dass der Soldat nachgegeben hat, und zwar nicht sofort, wie ein beschämter Dieb, sondern nachdem er gedroht und geschrien hat. Ich sehe darin das Ergebnis einer Entscheidung von oben, eines Befehls des Oberkommandos. Das Deutschland Hitlers will vorerst nicht nur durch den Schrecken herrschen.

Viele Tage hängen Léon Werth und seine Frau auf dem Hof von Abel Delaveau fest, was nicht die schlechteste Unterkunft ist. Aber sie sorgen sich mehr und mehr um ihren Sohn und wollen weiter, um sich in die "Freie Zone" durchzuschlagen. Das Wunder vollbringt dann der von ihm "Koloss" genannte deutsche Soldat, der für Werth 30 Liter Benzin stiehlt und sich kaputtlacht, weil dieser es ihm bezahlen will. Das Eis zwischen Sieger und Besiegten ist hier aufgebrochen. "Ich habe ihn nach seiner Adresse in Deutschland gefragt. Ich habe mir vorgenommen, ihm nach dem Krieg ein Fass Beaujolais zu schicken. Werde ich es jemals können?" Es sind solche Stellen, die mir einen Schauer über den Rücken jagen.

Hin und wieder hält der Autor für eine philosophische Betrachtung das Geschehen an. Nicht alles ist leicht zu lesen. Nicht jede feine Anspielung kann man als deutscher Leser des 21. Jahrhunderts verstehen. Es macht nichts. Ich finde dieses zeitgeschichtliche Dokument dennoch sehr spannend, großartig in Sprache und Aussage. Vielleicht gerade, weil es so nüchtern geschrieben ist, sind bestimmte Stellen so bewegend.

Neben der aussagekräftigen Einleitung von Saint-Exupéry findet sich im hinteren Teil des Büchleins noch eine lesenswerte Kurzbiographie über Léon Werth aus der Feder Peter Stamms.

Veröffentlicht am 24.04.2017

ein informatives buch

Luther – Lehrmeister des Widerstands
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Was ist dran an dem weit verbreiteten Vorurteil, Luther habe die Deutschen zur Unterwürfigkeit erzogen und somit Hitler den Weg bereitet? Uwe Siemon-Netto untersucht gründlich die Entstehung dieser Legende ...

Was ist dran an dem weit verbreiteten Vorurteil, Luther habe die Deutschen zur Unterwürfigkeit erzogen und somit Hitler den Weg bereitet? Uwe Siemon-Netto untersucht gründlich die Entstehung dieser Legende und entkräftet sie nach Strich und Faden. Er widerlegt überzeugend "den verleumderischen Vorwurf der Verächter Luthers, er habe die Deutschen zu einem Volk von Duckmäusern erzogen, zu 'Fürstenknechten'. In Wahrheit war Luther der Lehrmeister der Résistance gegen jegliche Tyrannei."

Supersympathisch, dass der Autor uns, um seine lutheranischen Wurzeln zu erklären, seine sächsische Großmutter vorstellt, die zwischen zwei hingebungsvollen Gebeten locker einen Witz reißen konnte ("Wir grinsten und beteten weiter.") Die ganze Omi-Netto-Episode ist überhaupt herrlich. So viel Humor hatte ich bei diesem akademisch anmutenden Titel nun wahrlich nicht erwartet und wurde angenehm überrascht.

Der Autor befasst sich zunächst ausführlich mit der Definition des Wortes Klischee - "Denn anders lässt sich die anhaltende und zumeist bösartige Verleumdung Luthers nich begreifen." Das Klischee, Luther wäre durch Hitler vollendet worden, entstand durch die Vereinnahmung des Reformators durch die "Deutschen Christen". Luthers Zwei-Reiche-Lehre wurde missbräuchlich als Legitimation der friedlichen Koexistenz der Kirchen mit einem totalitären Staat verwendet. Dieses Verbiegen seiner Lehre war der Grund für den späteren Vorwurf der Doppelmoral. "Der Vorwurf, Luther habe die Deutschen zur Duckmäuserei erzogen, übersieht seine unermüdlichen Ermahnungen an alle Christen, bei obrigkeitlichem Unrecht 'das Maul aufzureißen' [...]. Der Vorwurf, er sei ein Kriegshetzer gewesen, übersieht, dass er alle Angriffskriege verurteilte und die Soldaten zum Ungehorsam aufforderte, wenn ihnen Befehle erteilt werden, die gegen Gebote Gottes verstoßen." Luther verurteilte zwar die gewaltsamen Bauernaufstände, da sie einen Missbrauch des Evangeliums darstellten und da er die Anarchie fürchtete, auf die sie zustrebten, aber er nahm auch den Fürsten gegenüber kein Blatt vor den Mund und schimpfte über faule und unnütze Prediger, "die den Fürsten und Herren ihre Laster nicht sagen". Ausführlich weist Siemon-Netto nach, dass Luther nicht nur von jedem Pfarrer, sondern auch von jedem einzelnen Bürger Zivilcourage forderte. Auch der Rassismus-Vorwurf hält einer genaueren Untersuchung nicht stand. Schließlich war es Luther, der uns Christen daran erinnerte, Jesus sei kein Heide, sondern ein Jude gewesen. Die Judenfeindlichkeit, die bei Luther im Alter mit Vehemenz durchbrach, verurteilt der Autor zwar als menschliche Schwäche des großen Reformators, hält sie aber für allein theologisch und nicht rassistisch begründet.

Sehr aufschlussreich finde ich die Erläuterungen zu Luthers Zwei-Reiche-Lehre. Nicht immer bin ich mit dem Autor einer Meinung, was bestimmte politische Spitzzüngigkeiten angeht. Aber da er, getreu seiner eigenen Maxime, stets relativiert, kann ich diese als seine rechtmäßige Meinungsäußerung tolerieren, und sie tun der Qualität des Buches keinen Abbruch.

Als lebendiges Beispiel für die Widerstandsfähigkeit des Protestantismus führt Siemon-Netto unter anderem das "Magdeburger Bekenntnis" an, mit dem sich die Magdeburger Bürger gegen die Deckelung ihrer Religionsfreiheit durch Kaiser Karl V. wehrten.

Und nicht nur Luther wird in diesem bahnbrechenden Werk rehabilitiert: Wir lernen den Lutheraner Carl Goerdeler kennen, diesen wunderbaren Bürgermeister Leipzigs aus dem konservativen Lager, der 1936 mit seinem Rücktritt eindrücklich gegen die Zerstörung des Leipziger Mendelssohn-Denkmals protestierte, der in Folge von Land zu Land reiste, um der Welt die Augen zu öffnen über Hitler und die Nazis und der 1945 von den Nazi-Schergen hingerichtet wurde. Goerdelers Schriften aus jener Zeit faszinieren auf Grund ihrer schonungslosen Deutlichkeit, mit der er Hitler durchschaute: "Der Mann, der die Lehre von der Totalität der Partei immer besessener aufgestellt hat, ... kann ebensowenig einen anderen Gott neben sich dulden, wie er keiner anderen Weltanschauung Raum und Freiheit zur Entwicklung geben kann ... Am Judentum hat ihn am stärksten gereizt und zum Hasse entflammt die Lehre von dem einen Gott, der das ganze Leben des Menschen mit seinen Gesetzen und Geboten durchdringt. Die nächste in der Reihe des Hasses ist die christliche Religion. Demut und Nächstenliebe machen ihn rasend und wild. Das Geheimnis des Lebens macht ihn rasend. [...]" Erschütternd ist, zu lesen, dass gerade bei einflussreichen britischen und amerikanischen Meinungsmachern und Politikern die Vorurteile gegen die Deutschen so tief saßen, dass sie Goerdeler und den sich formierenden deutschen Widerstand nicht ernstnahmen ... und plötzlich befinden wir uns mitten in der alten Debatte über die kollektive Schuld eines Volkes, und wir sehen auf einmal, wie sehr das Klischee von der Verderbtheit des deutschen Volkes durch systematisches Ignorieren des deutschen Widerstands und das Dämonisieren einer ganzen Nation diesem alternativlos aufgedrückt wurde.

Ich finde dieses Werk durchaus für den Laien verständlich. Fachbegriffe wie "anthropozentrisch" werden zwar hin und wieder verwendet, aber immer gleich auch an Ort und Stelle oder per Fußnote im Anhang erklärt. Einzig bei der oft erwähnten "Zwei-Reiche-Lehre" muss sich der noch unkundige Leser etwas gedulden; eine ausführliche Erläuterung erfolgt aber im Laufe der Lektüre. Gelegentliche lateinische oder auch schon mal französische Zitate werden anständigerweise übersetzt. Sprachlich ist die Lektüre oft ein wahrer Genuss. "Das Luther-Klischee ist eine kirchengeschichtliche Maggi-Soße, mit der sich alle erdenklichen religionssoziologischen Gerichte würzen lassen." Ich liebe diese blumigen Bebilderungen! Manchmal möchte man am liebsten jeden Satz zitieren, so sehr trifft der Autor ins Schwarze.

Es ist Uwe Siemon-Netto daran gelegen, "Luthers Stimme wiederzuentdecken, die viel zu lange mit dem Sirup neuprotestantischer Gefühlsduselei zugekleistert war. Diese Stimme ist unverzichtbar angesichts des apokalyptischen Weltkonflikts, den der 'Islamische Staat' (IS) ausgerufen hat und der sowohl mit geistlichen als auch mit weltlichen Waffen ausgetragen werden muss."

Veröffentlicht am 24.04.2017

eine bewegende autobiografie

Die Erfindung des Lebens
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Staunend erfährt der Leser von einer Kindheit ohne Sprache. Der fünfjährige Johannes ist stumm, seine Mutter ist stumm. Wie es dazu kam, wissen wir zunächst noch nicht so genau, aber was wir wissen, ist ...

Staunend erfährt der Leser von einer Kindheit ohne Sprache. Der fünfjährige Johannes ist stumm, seine Mutter ist stumm. Wie es dazu kam, wissen wir zunächst noch nicht so genau, aber was wir wissen, ist dass die sprachlose Mutter und ihr sprachloser Sohn eine enge Symbiose bilden, einen Cocon, der schützt und gleichzeitig die Entfaltung des hochintelligenten Jungen behindert, der sehr genau begriffen hat, dass ihn seine Umwelt bereits zum Idioten abgestempelt hat. Und plötzlich und völlig unerwartet ist es da, das Klavier. Und holt zum unerhörten Befreiungsschlag aus. Auf einmal hat dieser hilflose kleine Junge ein Ziel, übt wie besessen und entpuppt sich als hochbegabtes Musiktalent. Aber dies ist erst der erste Schritt auf dem langen und mühsamen Weg in die Freiheit. Es wird sich zeigen, ob es dem verständnisvollen und kreativen Vater auch gelingen wird, seinem Sohn den Weg zum Erlernen der Sprache zu ebnen. Auf jeden Fall kein leichter Weg, denn der Kopf dieses Jungen funktioniert anders als gewöhnlich. Einen ausführlichen Einblick in seine Gedankengänge zu bekommen, ist absolut faszinierend, zumal mehr und mehr klar wird, dass es sich bei dem Roman eigentlich um Autobiographie, also um eine wahre Geschichte handelt.

Es ist ein Buch über die menschliche Sprache, faszinierend wie noch kein anderes Buch zu diesem Thema, das ich je gelesen habe. Als der junge Mann Jahre später in Rom angekommen ist und beschreibt, wie er entgegen seinen früheren Ängsten völlig mühelos und natürlich in die italienische Sprache hineinfindet, halte ich den Atem an. Es ist komplett faszinierend, wie Ortheil mit seiner einfachen und scharfen Beobachtungsgabe in wenigen Worten die Unterschiede zwischen der italienischen und der deutschen Sprache auf den Punkt bringt. Wieder und wieder lese ich ehrfürchtig diesen Absatz. Schlicht und genial. So muss gute Literatur sein.

Kaum ein moderner Roman kommt ohne Zeitsprünge aus. Vielleicht dient dieses Mittel hier auch dazu, durch die Sprünge in das gegenwärtige Erwachsenendasein des Autors die Vergangenheit zu verifizieren. Auf jeden Fall ist dieser Wechsel der beiden Zeitebenen hier gut auf einander abgestimmt und verdichtet sich gegen Ende folgerichtig und rund.

Veröffentlicht am 24.04.2017

ein einblick in das mittelalter

Die Canterbury-Erzählungen
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Der englische Pilger des Mittelaltes pilgerte nicht nach Santiago di Compostela, sondern nach Canterbury, wo der einst ermordete und kurz darauf als Märtyrer verehrte streitbare Erzbischof Thomas Becket ...

Der englische Pilger des Mittelaltes pilgerte nicht nach Santiago di Compostela, sondern nach Canterbury, wo der einst ermordete und kurz darauf als Märtyrer verehrte streitbare Erzbischof Thomas Becket begraben liegt.

Geoffrey Chaucer, der heute als der größte englische Dichter vor Shakespeare gilt, beschreibt in dem 718 Seiten umfassenden und im Versmaß gehaltenen Epos eine Reisegesellschaft von zweiundzwanzig Personen aller möglichen Stände und Berufe (Ritter, Verwalter, Bettelmönch, Büttel, Ablasskrämer, sowie unter anderem dreien allein reisenden Frauen, die mir angenehm gleichberechtigt erscheinen), die sich gemeinsam zu Pferde auf diese Pilgerfahrt begeben und sich den Weg mit der Erzählung verschiedenster Geschichten verkürzen. Jeder kommt mal dran, dafür sorgt der gutgelaunte und scharfzüngige Wirt, der gerne mal eine der abgelieferten Erzählungen zustimmend oder auch spöttisch kommentiert. Auch Chaucer selbst kommt an die Reihe und nimmt sich die unerhörte Freiheit, anstelle des Versmaßes plötzlich Prosa zu benutzen, allerdings erst, nachdem ausgerechnet er, der Dichter, so schlechte Verse gedroschen hat, dass der Wirt ihn genervt unterbrochen hat; offensichtlich macht sich Chaucer mit feiner Ironie über seine Vorredner lustig ... Wir hören Erzählungen aus der Antike, aus der mittelalterlichen Gegenwart, Christliches, Moralisierendes, aber auch die völlig niveaulosen und und zotenhaften Erzählungen des Müllers oder des Verwalters. Der Autor rechtfertigt die unzensierte "Wiedergabe" der derben Texte mit seiner Absicht, das Gesamtbild der extrem unterschiedlichen Charaktere und Bildungshintergründe lückenlos darzustellen. Er empfiehlt aber zarten Gemütern, besagte Seiten zu überspringen. Nachdem ich mir die erste dieser Erzählungen angetan habe, bin ich dann gerne seiner Empfehlung gefolgt und habe die Zweite ausgelassen; mehr von diesem unappetitlichen Zeug braucht man wirklich nicht.

Den Abschluss bildet "Die Erzählung des Pfarrers", die nicht nur unkommentiert bleibt, sondern ungewöhnlicherweise wieder in reiner Prosa abgefasst ist. Tatsächlich handelt es sich auch nicht wirklich um eine Erzählung, sondern um eine sehr ausführliche Predigt über die Buße. Was ja naheliegt, da sich die Gesellschaft mit jeder Erzählung dem Ziel ihrer Pilgerschaft nähert. Diese Predigt lässt nun nichts aus; sie zelebriert derart intensiv die verschiedenen Arten der Sünde, der diversen Höllenqualen und der Buße, dass auch jedem noch so gläubigen heutigen Christen davon schlecht werden muss. Hier hat sich die mittelalterliche katholische Lehre dermaßen festgefahren, das sie das alte Wort Jesu wahrmacht: "Sie binden schwere und unerträgliche Bürden und legen sie den Menschen auf die Schultern [...]" (Mat.23.4). Aus diesem Grunde sah ich mich aus reinem Selbstschutz letztendlich gezwungen, mit diesem Text ebenso zu verfahren, wie mit den vorherigen pornographischen Erzählungen; ich brach die Lektüre ab und sprang in das kurze Nachwort Chaucers, in welchem er ein paar einfache Worte an den Leser richtet und nochmals seinen ehrenhaften christlichen Standpunkt kundtut.

Die vorliegende Ausgabe von Anaconda gibt die Übersetzung von Adolf von Düring aus dem Jahr 1885 wieder, eine absolute Meisterleistung; ich weiß nicht, ob heute noch irgendein Übersetzer zu so etwas fähig wäre. Die über 60 Seiten umfassenden Anmerkungen gehen auf die unzähligen politischen, biblischen und literarischen Anspielungen im Text ein, die heute kaum mehr jemand ohne solche Hilfe verstehen würde.

Trotz der erwähnten gewissermaßen unleserlichen Passagen war die Lektüre insgesamt ein großer Gewinn. Man erhält aus erster Hand einen unglaublich spannenden Einblick in die Welt des englischen Mittelalters. Ein wenig Ausdauer muss man freilich mitbringen, denn man maß damals einen guten Roman noch nicht an der Bekömmlichkeit für unsere heutige Häppchenmentalität.

Veröffentlicht am 24.04.2017

toller erzählstil

Wie Schneeflocken im Wind
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Eden ist mit ihrem fünfjährigen Sohn Micah auf der Flucht. Wovor genau, das erfährt der Leser zunächst nur bruchstückhaft. Nur so viel ist schnell klar: es geht um ihr Leben. Auch Beau Callahan, der mit ...

Eden ist mit ihrem fünfjährigen Sohn Micah auf der Flucht. Wovor genau, das erfährt der Leser zunächst nur bruchstückhaft. Nur so viel ist schnell klar: es geht um ihr Leben. Auch Beau Callahan, der mit seinen Brüdern einen Weihnachtsbaumhandel betreibt und die verzweifelte junge Mutter vorübergehend als Haushaltshilfe für seine Tante einstellt, hat Schwierigkeiten, Genaueres über die Vergangenheit der geheimnisvollen Schönen herauszufinden. Bald schon ist es mehr als Neugier, aus der er sich näher für die geheimnisvolle Schöne interessiert. Womit er allerdings sich und seine Familie, aber auch Eden und Micah, in große Gefahr bringt ...

Die Geschichte ist wirklich gut geschrieben, spannend, temporeich und mit einer feinen Prise Humor gewürzt. Und freikirchlich. Ich glaube, es ist überhaupt der erste freikirchliche Liebesroman, den ich lese. Außerdem mein erstes Buch, in dem Gott gleichberechtigt neben dem Weihnachtsmann vorkommt. Naja, ich weiß nicht, ob ich Letzteren jetzt unbedingt gebraucht hätte. Und irgendwann nerven auch diese Mistelzweige ganz gewaltig. Aber die christliche Orientierung des Romans empfinde ich als sehr wohltuend. Es ist eine sehr angenehme leichte Winterlektüre, und genau das hatte ich ja jetzt gerade mal zur Abwechslung gebraucht.

Auch wenn mich der actionreiche Showdown gegen Ende nicht hundertprozentig überzeugte und auch beim ausführlichen Zelebrieren der Liebesromanze zwischen Eden und Beau für mich persönlich vielleicht etwas weniger mehr gewesen wäre, war es doch insgesamt ein sehr schönes Buch, intelligent und kurzweilig geschrieben, mit einer Grundthematik, die mich sehr angesprochen hat. Überzeugte vier Sterne!