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Veröffentlicht am 09.10.2019

Alte Sünden

Melmoth
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Es ist Winter in Prag und die Übersetzerin Helen Franklin (42) ist gerade zu Fuß in der Stadt unterwegs, als sie auf Dr. Karel Pražan, einen guten Freund, trifft. Er hat ein seltsames, in deutscher Sprache ...

Es ist Winter in Prag und die Übersetzerin Helen Franklin (42) ist gerade zu Fuß in der Stadt unterwegs, als sie auf Dr. Karel Pražan, einen guten Freund, trifft. Er hat ein seltsames, in deutscher Sprache verfasstes Manuskript dabei, das das Leben der Engländerin verändern wird. Es handelt von Melmoth, einer mysteriösen Frau in Schwarz. Laut einer Legende ist sie dazu verdammt, ewig über die Erde zu wandeln. Helen findet Hinweise auf Melmoth in geheimnisvollen Briefen und Tagebüchern. Sie fühlt sich verfolgt. Doch gibt es die Gestalt wirklich? Und, falls ja, was hat diese mit Helens Vergangenheit zu tun?

„Melmoth“ ist ein Roman von Sarah Perry.

Meine Meinung:
Der Roman beginnt mit einem Prolog, der aus einem mysteriösen Brief besteht. Im Anschluss ist die Geschichte in drei Teile untergliedert. Erzählt wird aus der Perspektive eines auktorialen Erzählers, der den Leser immer wieder persönlich anspricht und einige Vorausdeutungen macht. Darüber hinaus gibt es auch eine Geschichte in der Geschichte, da auch Teile des Manuskripttextes enthalten sind. Und es sind ein Auszug aus einem Tagebuch, Briefe und andere Quellen eingefügt. Die Struktur des Romans ist also recht komplex. Dennoch erschließt sich der Aufbau schnell.

Der besondere Schreibstil konnte mich begeistern. Die bildgewaltige und poetische Sprache sind eine große Stärke des Romans, der atmosphärisch dicht ist. Viele Metaphern und Symbole sind im Text zu finden. Ein aufmerksames Lesen empfiehlt sich. Allerdings fiel mir der Einstieg in die Geschichte nicht schwer.

Im Vordergrund stehen drei Protagonisten. Neben Helen und Karel spielt der Deutsche Josef Adelmar Hoffmann eine wichtige Rolle, der das Manuskript geschrieben hat. Die Charaktere sind allesamt etwas sonderbar und speziell, aber auch interessant.

Inhaltlich verfügt das Buch zwar über viel Tiefe, hat mich jedoch zum Teil ein wenig enttäuscht. An einigen Stellen fällt die zuvor aufgebaute Spannung immer wieder ab und die Handlung wird langatmig. Thematisch finde ich den Roman darüber hinaus leider etwas überfrachtet, vor allem angesichts der recht überschaubaren Anzahl von kaum mehr als 300 Seiten. Gleichwohl kann mich die Grundthematik der Geschichte begeistern. Die Sagengestalt Melmoth ist zwar in der Literatur keine gänzlich neue Figur. Dennoch ist sie ein reizvolles Sujet. Gut gefallen hat mir auch, dass die Aspekte Schuld und Sühne ebenfalls im Fokus stehen. Insgesamt hatte ich allerdings den Eindruck, dass die Autorin ein bisschen zu viel wollte und daher noch einiges mehr nur anreißt, was die Lektüre bisweilen verwirrend macht.

Optisch ist die gebundene Ausgabe ein äußerst hübsches Schmuckstück. Die etwas düstere und doch sehr geschmackvolle Gestaltung passt gut. Schön finde ich auch, dass sich das Federmotiv nicht nur auf dem Schutzumschlag findet. Der prägnante Titel bietet sich an und wurde 1:1 vom englischsprachigen Original übernommen.

Mein Fazit:
„Melmoth“ von Sarah Perry ist ein in mehrfacher Hinsicht ungewöhnlicher Roman. Zwar konnte mich die Geschichte nicht in allen Punkten überzeugen. Dennoch wird die Lektüre wohl noch einige Zeit nachhallen.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Geschichte
  • Figuren
Veröffentlicht am 04.10.2019

Der Alptraum einer Mutter

Kalte Wasser
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Lauren Tranter hat gerade in einer Klinik in Großbritannien entbunden. Doch kaum sind die Zwillinge, die Jungen Riley und Morgan, auf der Welt, beginnt ihr ganz persönlicher Alptraum. Noch im Krankenhaus ...

Lauren Tranter hat gerade in einer Klinik in Großbritannien entbunden. Doch kaum sind die Zwillinge, die Jungen Riley und Morgan, auf der Welt, beginnt ihr ganz persönlicher Alptraum. Noch im Krankenhaus erscheint eine Frau mitten in der Nacht an ihrem Bett und will ihr einen schrecklichen Deal aufzwingen: Lauren soll eines ihrer Kinder gegen eines der Frau austauschen. Zwar kann sich Lauren mit ihren Zwillingen noch in die Toilette retten und dort die Polizei rufen. Dann jedoch werden ihre Kinder entführt. Niemand nimmt Laurens Aussagen ernst. Nur eine junge Polizistin, Detective Sergeant Joanna Harper, glaubt ihr. Aber hat sich wirklich alles so zugetragen und was hat es dann damit auf sich? Will man Lauren bewusst in den Wahnsinn treiben? Oder wird sie tatsächlich allmählich verrückt?

„Kalte Wasser“ ist der Debütroman von Melanie Golding.

Meine Meinung:
Der Roman besteht aus 43 Kapiteln, denen ein spannender Prolog vorangestellt ist. Erzählt wird vorwiegend aus der Sicht von Lauren, aber auch der von Harper. Die Handlung umfasst einen Zeitraum zwischen dem 13. Juli und dem 10. Oktober. Orts- und Zeitangaben zu Beginn der Kapitel erleichtern die Orientierung. Ab und an sind Zitate aus literarischen Werken, Mythen, Märchen und Liedern eingefügt. Dieser Aufbau funktioniert sehr gut.

Der Schreibstil ist anschaulich und detailliert. Nach dem Prolog braucht die Geschichte ein wenig Zeit, um Fahrt aufzunehmen. Dann aber konnte mich der Roman packen.

Die Protagonisten bleiben insgesamt ziemlich undurchsichtig, was die Spannung aufrechterhält. Niemand außer der Polizistin kommt sehr sympathisch rüber, was mich allerdings nicht gestört hat.

Die recht kreative Grundthematik der Geschichte hat mir gut gefallen. Zwar wird hier mit Ängsten vieler Leser gespielt, zum Beispiel vor einer Kindesentführung. Dennoch werden auch alltäglichere Probleme wie postnatale Störungen und die psychische Gesundheit thematisiert, was durchaus Denkimpulse geben kann.

Der Autorin gelingt es, einige falsche Fährten auszulegen. So wird die Spannung größtenteils bis zum Schluss erhalten, obwohl auf blutige Grausamkeiten und derartiges bewusst verzichtet wird. Nur streckenweise ist mir der fast 400 Seiten umfassende Roman ein wenig zu langatmig. Die Auflösung wirkt schlüssig, aber das Ende lässt auch noch Raum für eigene Interpretationen und Überlegungen. Interessant ist in diesem Zusammenhang das mit „Liebe Leserin, lieber Leser“ beginnende Nachwort der Autorin, in dem sie erklärt, was sie dazu bewegt hat, dieses Buch zu schreiben.

Das ansprechend gestaltete Cover passt gut. Die deutsche Version weicht bei Optik und Titel von der britischen Originalausgabe („Little Darlings“) ab, was ich in diesem Fall jedoch nachvollziehen kann.

Mein Fazit:
„Kalte Wasser“ von Melanie Golding ist ein mystisch angehauchter Spannungsroman, der für fesselnde Unterhaltung sorgt. Eine empfehlenswerte Lektüre für alle, die nicht viel Blutvergießen brauchen, um auf ihre Kosten zu kommen.

Veröffentlicht am 04.10.2019

Weniger erholsam als gedacht

Herzkur
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Verena Teenkamp ist mit den Nerven am Ende. Ehemann Rainer hat ihr eröffnet, dass er eine Auszeit von der Familie braucht, und sich für mindestens ein Jahr nach Jordanien versetzen lassen. Nun steht die ...

Verena Teenkamp ist mit den Nerven am Ende. Ehemann Rainer hat ihr eröffnet, dass er eine Auszeit von der Familie braucht, und sich für mindestens ein Jahr nach Jordanien versetzen lassen. Nun steht die 38-Jährige mit den gemeinsamen Töchtern Ella (10) und Anni (7) alleine da. Neben der psychischen Belastung durch die kriselnde Ehe zehren ihr Job als Vermessungsingenieurin, der Haushalt in dem Eigenheim in Bonn und die Kinder – trotz der Mithilfe ihrer Mutter – an ihren Kräften. Daher stimmt sie schließlich der Idee zu, eine dreiwöchige Mutter-Kind-Kur in einer Klinik auf Fehmarn zu machen. Doch worauf hat sie sich da nur eingelassen? Um sie herum sind 50 andere, kaum zu ertragende Frauen und ihre nervigen Kinder. Dann aber wird die Kur noch weitaus erfreulicher und aufregender als gedacht...

„Herzkur“ ist der Debütroman von Julia Greve.

Meine Meinung:
Der Roman besteht aus mehr als 20 Kapiteln mit einer angenehmen Länge. Erzählt wird im Präsens in der Ich-Perspektive aus der Sicht von Verena. Abgesehen von wenigen kurzen Rückblenden ist der Roman chronologisch aufgebaut.

Der Schreibstil ist locker und anschaulich. Positiv aufgefallen sind mir die authentisch klingenden Dialoge, wodurch der Roman sehr lebhaft wird. Negativ machen sich ungewöhnlich viele (Tipp-)Fehler bemerkbar, die den Lesefluss allerdings nur geringfügig stören. Der Einstieg in die Geschichte fiel mir leicht.

Mit Verena steht eine Protagonistin im Vordergrund, die mir zwar nicht sofort, aber zunehmend sympathisch war. Ihre Entwicklung habe ich gerne verfolgt. Etliche der übrigen Figuren wirken zu Beginn etwas klischeehaft, werden im Verlauf der Geschichte jedoch vielschichtig und glaubhaft dargestellt.

Gehofft habe ich auf eine humorvolle und unterhaltsame Handlung – und wurde keinesfalls enttäuscht. Die Geschichte konnte mich emotional berühren und brachte mich mehrfach zum Schmunzeln. Trotz der annähernd 400 Seiten kommt beim Lesen keine Langeweile auf. Zwar sind Teile der Geschichte vorhersehbar, doch an anderen Stellen kann der Roman überraschen.

Wie nicht anders zu erwarten, steht das Liebesleben von Verena zwar im Vordergrund. Allerdings kommen auch andere Themen nicht zu kurz, sodass die Geschichte nicht kitschig und zu seicht wird. Besonders interessant empfand ich die lehrreichen Passagen, in dem es um Bernsteine geht. Nicht nur an diesem Punkt wird deutlich, dass die fiktive Handlung auf Recherchen und eigenen Erlebnissen der Autorin beruht. Das verleiht ihr viel Authentizität. Ein Pluspunkt ist für mich außerdem, dass das Buch eine Botschaft vermittelt: Es lädt dazu ein, sich nicht auf Vorurteile und den ersten Eindruck zu verlassen.

Das Design des liebevoll gestalteten Covers wirkt etwas altbacken, passt aber ganz gut. Gut gefallen hat mir, dass das Möwen-Motiv im Inneren aufgegriffen wird. Der genretypische Titel ist prägnant formuliert.

Mein Fazit:
„Herzkur“ von Julia Greve ist ein unterhaltsamer Roman mit viel Witz, der mir schöne Lesestunden bereitet hat. Empfehlenswert vor allem für diejenigen, die eine leichte, aber nicht gänzlich anspruchslose Lektüre suchen. Ich werde mir sicherlich auch die nächsten Bücher der Autorin anschauen.

Veröffentlicht am 01.10.2019

Wie ein Insekt im Marmeladenglas

Hinter Glas
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Die 17-jährige Alice hat sich schon daran gewöhnt, still und vorsichtig zu sein und sich klein zu machen. In ihrer Klasse wird sie von einigen Mitschülern drangsaliert und beschimpft. Auch in ihrem Zuhause, ...

Die 17-jährige Alice hat sich schon daran gewöhnt, still und vorsichtig zu sein und sich klein zu machen. In ihrer Klasse wird sie von einigen Mitschülern drangsaliert und beschimpft. Auch in ihrem Zuhause, einer schicken Villa, findet sie keine Geborgenheit. Ihr Vater und ihre Mutter, eine ehemalige Schauspielerin, können ihr zwar materiell viel bieten, aber nicht das geben, was sie wirklich braucht. Nach außen hin müssen der schöne Schein gewahrt und dunkle Geheimnisse unter dem Deckmäntelchen gehalten werden. Sie fühlt sich wie ein Insekt, das in ein Marmeladenglas gesperrt wurde, in dem sie nicht atmen kann. Als sich Alice in den ein Jahr älteren Niko verliebt, entschließt sie sich, mit ihm zusammen unterzutauchen. Doch der junge Mann ist auch nicht so, wie es zunächst scheint…

„Hinter Glas“ ist ein Jugendroman von Julya Rabinowich.

Meine Meinung:
Der Roman beginnt mit einem Prolog und endet mit einem Epilog, die beide in der Gegenwart spielen. Darüber hinaus besteht er aus 24 Kapiteln, die als „Spiegelscherben“ bezeichnet werden und jeweils einen kurzen Titel tragen. Die Haupthandlung ist in den Wochen und Monaten vor der Gegenwart angesiedelt. Erzählt wird vorwiegend in der Ich-Perspektive aus der Sicht von Alice. Immer wieder gibt es allerdings auch Einschübe einer geheimnisvollen Erzählstimme, die die Spannung steigert. Der Aufbau des Romans funktioniert sehr gut.

Der ungewöhnliche Schreibstil ist ein großer Pluspunkt des Romans. Er ist insgesamt recht reduziert, aber trotzdem intensiv. Der Autorin gelingt es, mit nur wenigen Wörtern und Sätzen eine dichte Atmosphäre zu erzeugen und viele Emotionen zu transportieren. Jugendtypische Formulierungen wechseln sich ab mit starken Sprachbildern und Vergleichen.

Mit Alice steht eine interessante Protagonistin im Vordergrund, zu der ich jedoch nicht sofort einen Zugang finden konnte. Ihre Gedanken- und Gefühlswelt ist sehr gut nachvollziehbar. Obwohl sie in einer bemitleidenswerten Lage ist, tat ich mich jedoch stellenweise schwer damit, Sympathie für sie zu empfinden. Auch mit Niko und der damit verbundenen Liebesgeschichte wurde ich nicht so recht warm. Alles in allem werden die Charaktere und ihre Entwicklung jedoch authentisch dargestellt.

Die zweite Stärke des Romans sind die darin auftauchenden Themen. Es geht um Mobbing und andere Formen von Gewalt. Zudem wird geschildert, was in einer dysfunktionalen Familie passieren kann. Ich halte es für lobenswert, dass sich Literatur in diesem Genre mit solchen Aspekten auseinandersetzt. Der Roman sendet eine klare Botschaft aus: Man darf und muss sich Gewalt nicht gefallen lassen. Die Geschichte regt dazu an, sich mit solch wichtigen Themen zu befassen.

Die Handlung kommt ohne Logikfehler aus und ist sehr kurzweilig. Die Spannung, die schon auf den ersten Seiten entsteht, wird fast bis zum Ende aufrechterhalten. Leider haben mich die letzten Kapitel des Romans jedoch enttäuscht. Das liegt erstens daran, dass ich die Auflösung bezüglich des Familiengeheimnisses insgesamt doch etwas schwach finde. Zweitens hat mich die Idee, wer sich hinter der mysteriösen Erzählstimme verbirgt, in ihrer Umsetzung überhaupt nicht überzeugen können. An dieser Stelle gleitet die Geschichte ins Unglaubwürdige ab. Zudem sind die Entwicklungen drittens gegen Ende hin so rasant, dass die Authentizität der Romans leidet. Daher fällt der Roman zum Schluss sehr stark ab. Darüber hinaus gibt es mehrere Punkte, die sich vor allem jüngeren Lesern sicherlich nicht in Gänze erschließen, weil sie überhaupt nicht erklärt werden, zum Beispiel den Grund dafür, wieso ausgerechnet Alice zum Mobbingopfer wird.

Gut gefallen hat mir wiederum, dass sich die Symbolik des (zerbrochenen) Spiegels konsequent durch das Buch zieht. Das äußert sich in sprachlicher Hinsicht immer wieder, aber auch in der optischen Gestaltung. Das ansprechende Cover der gebundenen Ausgabe passt daher ganz hervorragend. Im Inneren sind ebenfalls Spiegelscherben abgebildet. Auch der treffend gewählte Titel greift das Symbol auf.

Mein Fazit:
„Hinter Glas“ ist ein ungewöhnlicher Jugendroman von Julya Rabinowich, der trotz des tollen Sprachstils und der interessanten Thematik sein großes Potenzial leider nicht ganz ausschöpft. Vor allem zum Ende hin hat mich die Geschichte enttäuscht, weshalb ich sie nur mit Einschränkungen empfehlen kann.

Veröffentlicht am 28.09.2019

Die Außenseiterin ohne Namen

Miroloi
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In einem kleinen Ort namens Schönes Dorf, gelegen auf einer recht einsamen Insel, ticken die Uhren noch anders. Dort haben die 13 Männer des Ältestenrates das Sagen und die Religion spielt eine zentrale ...

In einem kleinen Ort namens Schönes Dorf, gelegen auf einer recht einsamen Insel, ticken die Uhren noch anders. Dort haben die 13 Männer des Ältestenrates das Sagen und die Religion spielt eine zentrale Rolle im Alltag der Bewohner. Im Haus des Geistlichen Prahan lebt eine 15-Jährige, die als Findelkind noch im Babyalter von ihm aufgenommen wurde. Der sogenannte Bethaus-Vater verlangt seinem Pflegekind einiges an Arbeit ab, ist aber gut zu ihr und tut sein Möglichstes, um dem Teenager die Eltern zu ersetzen. Doch außerhalb des geborgenen Heims hat es die Jugendliche schwer. Wegen ihrer unbekannten Herkunft wird der Außenseiterin ein Name verweigert, sie wird beschimpft, gemobbt und in vielfacher Hinsicht ungerecht behandelt. Allerdings haben sich auch die übrigen Einwohner des Dorfes an strenge Regeln und einige Einschränkungen zu halten. Vor allem die Frauen haben es nicht leicht. Die 15-Jährige jedoch beginnt, das System zu hinterfragen, und probt im Geheimen den Aufstand…

„Miroloi“ ist der Debütroman von Karen Köhler.

Meine Meinung:
Der Roman besteht aus 128 kurzen Kapiteln, die als Strophen deklariert werden und jeweils eine knappe Überschrift haben. Die Geschichte wird im Präsens in der Ich-Perspektive aus der Sicht der jungen Frau erzählt – und zwar in chronologischer Reihenfolge, aber mit mehreren kurzen Rückblenden. Der Aufbau ist gut durchdacht.

Sprachlich konnte mich der Roman überzeugen. Der Schreibstil erscheint zunächst recht primitiv, stellt sich nach einigen Seiten aber als einzigartig heraus. Eine einfache Syntax mit einigen Wortwiederholungen ist auffällig. In semantischer Hinsicht ist die Lektüre allerdings vor allem wegen ihrer kreativen Metaphern und Wortneuschöpfungen interessant. Gut gefallen haben mir auch die poetische Note und der Detailreichtum. Zudem gelingt es der Autorin, mit wenigen Sätzen eine dichte Atmosphäre zu schaffen. Schon nach den ersten Kapiteln hat es der Roman geschafft, mich zu fesseln.

Mit der namenlosen Jugendlichen dreht sich die Geschichte um eine reizvolle Protagonistin, deren Gedanken- und Gefühlswelt sehr gut nachvollziehbar ist. Ihre Entwicklung wirkt glaubhaft. Auch einige andere Personen wie die alte Mariah sind interessant dargestellt. Zwar gleitet das Buch bisweilen bei manchen Figuren etwas zu sehr ins Schemenhafte ab, was vor allem bei den „Bösen“ auffällig ist. Das hat mich allerdings nicht besonders gestört, weil sich darin der Parabel-Charakter des Romans offenbart.

Angesiedelt ist die Geschichte in einem fiktiven Ort, in dem die Bevölkerung in einer fiktiv ausgestalteten Gesellschaftsform lebt, die rückständig ist und viele Errungenschaften der modernen Zivilisation ablehnt. Das Worldbuilding wirkt schlüssig, Logikbrüche sind für mich nicht zu erkennen. Das System erschließt sich Stück für Stück. Zwar gibt es Redundanzen. Der mehr als 450 Seiten umfassende Roman bleibt jedoch kurzweilig und kann einige Überraschungen bieten.

Inhaltlich ist der Roman keine leichte Kost und verfügt über eine Menge Tiefgang. In der öffentlichen Wahrnehmung wird oft die feministische Komponente des Werkes betont. Der Kampf gegen patriarchische Strukturen und die Unterdrückung der Frau spielen tatsächlich eine große Rolle. Doch thematisch hat die Geschichte noch viel mehr zu bieten: die Folgen einer Diktatur von wenigen, verschiedenartige Gewalt an den Schwachen, Mobbing von Minderheiten, religiösen Wahn und Diskriminierung jeglicher Art. Es geht um den Kampf für Freiheit in unterschiedlichen Ausprägungen, um Freundschaften, Zusammenhalt und Liebe. Obwohl die Geschichte wohl vor etwa 30 Jahren spielt (ein genauer Zeitpunkt wird nicht genannt), ist die Thematik brandaktuell, sodass der Roman zum Nachdenken anregen kann. Dazu passt hervorragend, dass am Ende doch noch die eine oder andere Frage offen bleibt.

Das Cover der gebundenen Ausgabe gefällt mir sehr. Der Titel, der sich auf das Totenlied bezieht, das jedem Verstorbenen individuell gesungen wird, ist ebenfalls treffend gewählt.

Mein Fazit:
„Miroloi“ von Karen Köhler ist ein außergewöhnlicher Roman, in dem mehr steckt, als sich auf den ersten Blick zeigt. Eine empfehlenswerte Lektüre vor allem für denjenigen, die sich auch gerne mit unbequemer Literatur auseinandersetzen.