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Veröffentlicht am 17.11.2023

Die Verletzungen des Lebens

Steglitz
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Der Alltag von Leni ist eintönig und wenig aufregend. Als kinderlose Ehefrau des gefragten Architekten Ivan Müller kümmert sie sich vorwiegend um den Haushalt und das Wohlbefinden ihres Gatten. Die Wohnung ...

Der Alltag von Leni ist eintönig und wenig aufregend. Als kinderlose Ehefrau des gefragten Architekten Ivan Müller kümmert sie sich vorwiegend um den Haushalt und das Wohlbefinden ihres Gatten. Die Wohnung im Berliner Stadtteil Steglitz verlässt sie nur, um Einkäufe und andere Erledigungen zu machen. Dann allerdings kann es zu Streifzügen durch das Viertel kommen. Eine Entwicklung zwingt sie dazu, ihr Leben anders zu führen…

„Steglitz“ ist ein Roman von Inès Bayard.

Meine Meinung:
Der Roman gliedert sich in 14 Kapitel. Die Handlung umfasst einen Zeitraum von mehr als einem Jahr und spielt in Berlin, wie der Titel bereits verrät.

Erzählt wird in chronologischer Reihenfolge mit diversen Rückblenden, vorwiegend aus der Perspektive Lenis, wobei dieses Vorgehen an wenigen Stellen durchbrochen wird. Der Schreibstil ist sehr atmosphärisch, dialoglastig und zum Teil bildstark. In sprachlicher Hinsicht bleibt die Erzählerin bisweilen bewusst uneindeutig und vage, was dem Text viel Interpretationsspielraum verleiht und ein aufmerksames Lesen erfordert. Was ist real? Was ist der Fantasie oder der verzerrten Wahrnehmung der Protagonistin zuzurechnen? Dieses Verwirrspiel beherrscht die Autorin sehr gut. Nur wenige sehr detaillierte und damit langatmige Ortsbeschreibungen haben mich gestört.

Die Protagonistin bleibt sehr lange undurchsichtig, ihr Verhalten befremdlich und nicht nachvollziehbar. Allerdings manifestiert sich zunehmend der Eindruck, dass mit ihr etwas nicht stimmt. Auch die übrigen Figuren wirken ein wenig seltsam, zum Teil zwielichtig oder widersprüchlich. Dabei gilt es jedoch zu bedenken, dass die Leserschaft diese Charaktere nur durch die Brille Lenis betrachten kann.

Inhaltlich spielen vor allem psychische Probleme und Traumata eine wesentliche Rolle. Konkret geht es dabei um die Fragen, was passiert, wenn diese nicht richtig aufgearbeitet werden (können), und wie unterschiedliche Menschen damit umgehen.

Auf den knapp 190 Seiten ist die Geschichte recht handlungsarm und bedient sich wiederkehrender Elemente. Dennoch entwickelt der Roman einen Sog und hält die Spannung hoch, indem sich erst im letzten Drittel die Hintergründe von Lenis Trauma offenbaren. Letzteres führt allerdings dazu, dass mich die Geschichte erst gegen Ende wirklich berühren konnte. Nicht alle offenen Punkte werden eindeutig geklärt, was ich jedoch nicht als negativ empfunden habe.

Der deutsche Titel ist wortwörtlich vom französischen Original übernommen. Das Cover mit dem verzerrten Spiegelbild passt aus meiner Sicht hervorragend zum Inhalt.

Mein Fazit:
Obwohl mich die Autorin nicht in allen Aspekten überzeugt und die Lektüre einiges abverlangt, ist „Steglitz“ alles in allem ein durchaus lesenswerter Roman.

Veröffentlicht am 16.11.2023

Sichtbarkeit in einer auf Unsichtbarkeit angelegten Welt

Lügen über meine Mutter
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Das Dorf Obach im Hunsrück der 1980er-Jahre: Ländlich und familiär, so erscheinen die persönlichen Verhältnisse der Grundschülerin Ela auf den ersten Blick. Doch hinter den Mauern des elterlichen Hauses ...

Das Dorf Obach im Hunsrück der 1980er-Jahre: Ländlich und familiär, so erscheinen die persönlichen Verhältnisse der Grundschülerin Ela auf den ersten Blick. Doch hinter den Mauern des elterlichen Hauses herrscht Psychoterror. Ihre Mutter ist zu dick. Das behauptet zumindest ihr Vater - und lässt keine Gelegenheit aus, um seine Frau wegen ihres Gewichts zu beleidigen, zu erpressen und auf andere Weise zu beschämen.

„Lügen über meine Mutter“ ist ein Roman von Daniela Dröscher.

Meine Meinung:
In vier Teile ist der Roman aufgebaut, die jeweils ein Jahr umfassen und in verschiedene Kapitel untergliedert sind. Die Haupthandlung spielt in den Jahren 1983 bis 1986. Darüber hinaus gibt es zwischen einzelnen Kapiteln Einschübe aus der Gegenwart, die die erzählten Episoden aus erwachsener Sicht einordnen und analysieren.

Der Schreibstil ist insgesamt unauffällig und unspektakulär. Die dialektalen Einstreuungen und phrasenhaften Formulierungen im Vergangenheitsstrang passen jedoch gut zur Geschichte. Erzählt wird in der Ich-Perspektive aus der Sicht von Ela.

Die Charaktere habe ich als vielschichtig und menschlich empfunden. Der Autorin gelingt es sehr gut, Widersprüchlichkeiten und Schwächen herauszuarbeiten, sodass ihre Figuren ambivalent und mit vielen Grautönen daherkommen, obwohl die Sympathien dennoch klar verteilt sind.

Auch inhaltlich ist der Roman durchaus facettenreich. Zwar steht das Bodyshaming beziehungsweise Fatshaming im Vordergrund. Die Geschichte zeigt auf, wie das Gewicht der Mutter ständig im Fokus der Kritik steht und welche psychischen Folgen erzwungene Diäten und verbale Attacken auf Dauer haben. Außerdem hat der Roman einen feministischen Ansatz. Er beleuchtet patriarchale Strukturen und deren Konsequenzen wie finanzielle Abhängigkeiten. Zudem werden weitere Aspekte wie Rassismus, Krankheit und einiges mehr thematisiert, was die Geschichte ein wenig überfrachtet. Nach eigenen Angaben der Autorin ist der Roman autobiografisch motiviert. Deshalb ist es schwierig, die Authentizität zu bewerten und den Wahrheitsgehalt abzuschätzen.

Trotz der mehr als 400 Seiten und mehrerer inhaltlicher Wiederholungen habe ich den Roman lediglich an sehr wenigen Stellen als langatmig empfunden. Nur das zwar überraschende, aber etwas märchenhafte Ende hat mich nicht ganz überzeugt. Auch nach den letzten Kapiteln bleiben ein paar Fragen bewusst offen.

Der Titel ist mehrdeutiger als gedacht und lässt auch nach dem Ende der Lektüre Raum für eigene Interpretationen. Das abstrakte Cover sagt mir dagegen weniger zu, zumal ich die Farbwahl thematisch unpassend finde.

Mein Fazit:
Preisverdächtig ist der für den Deutschen Buchpreis nominierte Roman „Lügen über meine Mutter“ von Daniela Dröscher für mich zwar nicht. Dennoch konnte mich die autobiografisch inspirierte Geschichte gut unterhalten.

Veröffentlicht am 16.11.2023

Ein besonderer Außenseiter

Die leise Last der Dinge
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Eine zerbrochene Christbaumkugel oder ein Paar Schuhe: Ein Jahr nach dem Unfalltod seines Vaters Kenji fängt der 13-jährige Benny Oh an, die Stimmen unbelebter Gegenstände zu hören. Für den Teenager ist ...

Eine zerbrochene Christbaumkugel oder ein Paar Schuhe: Ein Jahr nach dem Unfalltod seines Vaters Kenji fängt der 13-jährige Benny Oh an, die Stimmen unbelebter Gegenstände zu hören. Für den Teenager ist es nicht leicht, die Gegenstände auszublenden, weil seine Mutter Annabelle in ihrer Trauer immer mehr Dinge zu Hause anhäuft. Beide drohen sowohl in einem psychischen als auch in einem realen Chaos zu versinken…

„Die leise Last der Dinge“ ist ein Roman von Ruth Ozeki.

Meine Meinung:
Der Roman setzt sich aus fünf Teilen zusammen, die wiederum aus 91 Kapiteln bestehen. Zudem gibt es zwei Prologe. Der Aufbau ist durchaus kreativ.

Erzählt wird aus zwei Perspektiven: aus der des Buches und der Bennys. Die Idee, ein Buch erzählen zu lassen, ist originell und vielleicht sogar einzigartig. Diese Erzählstruktur wird gegen Ende jedoch aufgeweicht. Eine weitere stilistische Besonderheit ist das Einflechten von Auszügen eines fiktiven Entrümpelungsratgebers. Die Sprache ist dialoglastig, detailliert, insgesamt unspektakulär, aber sehr anschaulich.

Der Fokus der Geschichte liegt in erster Linie auf dem jugendlichen Benny, einem reizvollen Charakter, und in zweiter Linie auf dessen Mutter. Während diese beiden Charaktere noch weitgehend realitätsnah dargestellt werden, sind die Nebenfiguren gnadenlos überzeichnet und wirken teilweise geradezu absurd.

Inhaltlich bietet der Roman eine Menge Potenzial. Besonders interessant finde ich, dass psychische Traumata und Krankheiten im Zusammenhang mit dem Messie-Syndrom beziehungsweise Überforderung aufgegriffen werden. Darüber hinaus spielen das Thema Literatur und die Rolle von Büchern eine wesentliche Rolle. Diesbezüglich gibt es mehrere lesenswerte Passagen.

Im ersten Teil schafft es der Roman, mich zu berühren und zu fesseln. Allerdings kommt danach ein Konglomerat an weiteren Aspekten wie Rassismus und Geschlechtsidentität zum Tragen, was die Geschichte zwar facettenreich, aber auch unübersichtlich macht. Der rote Faden geht somit immer mehr verloren.

Auf den fast 700 Seiten kommt es zu einigen Längen, vor allem aufgrund von Wiederholungen und sehr ausschweifenden Passagen. Die Handlung tritt immer wieder auf der Stelle. Den Lesegenuss trüben außerdem widersprüchliche Angaben, Logikfehler und Ungereimtheiten. Leider lässt die Autorin zudem die Möglichkeit ungenutzt, mit einem Plottwist oder anderen Überraschungen einen gelungenen Schlusspunkt zu setzen.

Den deutschen Titel mag ich etwas lieber als das englischsprachige Original („The Book of Form and Emptiness“). Das gilt auch für das liebevoll gestaltete Cover, wobei beide thematisch nicht die gesamte Geschichte abdecken.

Mein Fazit:
Mit „Die leise Last der Dinge“ konnte Ruth Ozeki meine hohen Erwartungen nicht erfüllen. Der mit dem Women‘s Prize for Fiction 2022 prämierte Roman konnte mich leider nur in Teilen überzeugen.

Veröffentlicht am 16.11.2023

Wenn sich Rassismus vererbt

Die Bäume
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Die Kleinstadt Money im US-Bundesstaat Mississippi im Jahr 2018: Innerhalb kurzer Zeit werden mehrere weiße Hinterwäldler auf brutalste Weise ermordet. Das Bizarre daran ist, dass an den Tatorten jeweils ...

Die Kleinstadt Money im US-Bundesstaat Mississippi im Jahr 2018: Innerhalb kurzer Zeit werden mehrere weiße Hinterwäldler auf brutalste Weise ermordet. Das Bizarre daran ist, dass an den Tatorten jeweils eine zweite, ebenfalls übel zugerichtete Leiche aufgefunden wird, und zwar die eines Schwarzen. Die provinziellen Ermittler sind schnell überfordert, zumal sich die Mordserie bald ausweitet…

„Die Bäume“ ist ein Roman von Percival Everett.

Meine Meinung:
Der Roman ist in mehrfacher Hinsicht ungewöhnlich. Das zeigt sich bereits bei dessen Struktur. 108 kurze Kapitel sind auf den rund 350 Seiten aneinandergereiht. Örtlichkeiten und Personen wechseln also in schneller Reihenfolge ab. Erzählt wird aus einer auktorialen Perspektive.

Der Erzählstil ist dialoglastig und von einer recht einfachen Syntax geprägt. In Kombination mit den kurzen Szenen erinnert der Roman dadurch an ein Drehbuch. Dennoch ist der Schreibstil auf den zweiten Blick alles andere als banal. Besonders gut hat mir der Sprachwitz gefallen, der sich durchs ganze Buch zieht. Der Autor spielt beispielsweise auf sehr amüsante Weise mit Namen und Begriffen.

Die Übersetzung von Nikolaus Stingl habe ich trotz ihrer Schwächen insgesamt als noch akzeptabel empfunden. Nach der Lektüre könnte ich mir jedoch vorstellen, dass es sich - sprachlich gesehen - lohnen könnte, den Roman im Original zu lesen.

Das Personal ist sehr umfangreich. Vor allem zu Beginn ist es mir nicht leicht gefallen, die vielen Haupt- und noch zahlreicheren Nebenfiguren zu sortieren. Die Verwirrung hielt aber nur kurz an. Die Charaktere sind zum Teil sehr überzeichnet. Das hat mein Lesevergnügen allerdings noch gesteigert.

Bei dem Roman handelt es sich um einen Genremix. Die Geschichte enthält Krimi-, Horror- und Mysteryelemente und ist zugleich eine Gesellschaftssatire.

Inhaltlich geht es vor allem um den Rassismus und seine Folgen. Der Schwerpunkt liegt auf den Lynchmorden in den Südstaaten der USA. Die menschlichen Abgründe, die in diesem Zusammenhang geschildert werden, machen nachdenklich und betroffen. Obwohl einige Hintergründe ihren Ursprung in der Vergangenheit haben, hat das Thema nichts von seiner Aktualität eingebüßt, wie die „Black lives matter“-Bewegung und deren Motive deutlich werden lassen. Zudem lässt der Roman Raum für eigene Interpretationen.

Die Geschichte überrascht mit einigen Wendungen. Obwohl sie viel Tiefgang besitzt, bleibt das Tempo hoch. Ganz zum Schluss hat mich der Roman mit der außergewöhnlichen Auflösung ein bisschen verloren. Das schmälert den Lesegenuss aber nur wenig.

Der deutsche Titel ist wortgetreu aus dem englischsprachigen Original („The Trees“) übersetzt. Er ist zwar durchaus passend, erschließt sich aber nicht sofort. Das Cover gefällt mir dafür umso besser, weil es auf mehreren Ebenen sehr stimmig ist.

Mein Fazit:
Für seinen Roman „Die Bäume“ wurde Percival Everett völlig zurecht für den Booker-Prize 2022 nominiert. Sowohl in inhaltlicher als auch sprachlicher Hinsicht eine äußerst empfehlenswerte Lektüre, die mich nicht nur sehr gut unterhalten, sondern auch berührt hat. Ich kann mir für diese wichtige Geschichte eine Hollywood-Verfilmung prima vorstellen.

Veröffentlicht am 16.11.2023

In all seinen Werken gegenwärtig

Mann vom Meer
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Er war ein Schriftsteller von Weltruhm, Nobelpreisträger und Familienmensch. In Lübeck geboren, war ihm das Meer nahe. Doch auch in seinem späteren Leben hatte es für Thomas Mann eine besondere Bedeutung.

„Mann ...

Er war ein Schriftsteller von Weltruhm, Nobelpreisträger und Familienmensch. In Lübeck geboren, war ihm das Meer nahe. Doch auch in seinem späteren Leben hatte es für Thomas Mann eine besondere Bedeutung.

„Mann vom Meer“ ist ein Sachbuch über Thomas Mann, eine Art Kurzbiografie, geschrieben von Volker Weidermann.

Meine Meinung:
Das Buch umfasst 25 Kapitel, eingerahmt von einer Einleitung und einem Nachwort. Ergänzt wird es mit einer Bibliografie. Erzählt wird überwiegend in chronologischer Reihenfolge, beginnend in der Kindheit Thomas Manns beziehungsweise - streng genommen - noch davor.

Die Sprache ist - für das Genre ungewohnt - keineswegs nüchtern, sondern bildhaft und atmosphärisch. Als etwas störend empfinde ich allerdings den großen Umfang an Zitaten und Auszügen aus dem Werk Manns sowie die vielen Referenzen zu anderen Autoren.

Anders als ich zunächst vermutet hatte, dreht sich das Buch nicht ausschließlich um Thomas Mann, sondern beleuchtet auch weitere Familienmitglieder wie seine Mutter.

Wie der Titel erwarten lässt, wird insbesondere Manns Faszination für das Meer dargestellt. Schlaglichtartig werden unterschiedliche Episoden aus dem Leben des Nobelpreisträgers geschildert. Einige Facetten Manns werden ausführlich erzählt, beispielsweise sein homoerotischen Gedanken. Hierbei zeigt sich die umfassende Recherche Weidermanns. Andere Aspekte seiner Persönlichkeit werden hingegen ausgeblendet.

Auf den nur etwas mehr als 200 Seiten können auch Leserinnen und Leser, die mit der Vita Thomas Manns bereits etwas vertraut sind, noch unbekannte Details erfahren. Ein Manko des Buches ist es jedoch, dass diejenigen, die bisher wenig über die Familie wussten, sich aufgrund mangelnder Vorkenntnisse über weite Teile des Buches ein wenig verloren vorkommen dürften.

Sowohl der Titel als auch das Cover sind ansprechend gestaltet. Schade jedoch, dass Thomas Mann nur auf der Rückseite abgebildet ist.

Mein Fazit:
Für Fans der Werke der Familie Mann ist „Mann vom Meer - Thomas Mann und die Liebe seines Lebens“ eine Pflichtlektüre und eine lesenswerte Ergänzung für das heimische Bücherregal. Als Einstieg in die Biografie des berühmten deutschen Schriftstellers halte ich das Buch von Volker Weidermann allerdings nur bedingt geeignet.