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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 16.10.2024

Wo das Rampenlicht Schatten wirft

Das Comeback
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Seit etwa einem Jahr ist Grace Turner bei ihren Eltern in Anaheim untergetaucht. Einst war sie ein gefeierter Teenie-Star. Zuletzt stand sie kurz vor ihrer ersten Golden Globe-Nominierung. Nun will sie ...

Seit etwa einem Jahr ist Grace Turner bei ihren Eltern in Anaheim untergetaucht. Einst war sie ein gefeierter Teenie-Star. Zuletzt stand sie kurz vor ihrer ersten Golden Globe-Nominierung. Nun will sie sich ihr Leben zurückholen…

„Das Comeback“ ist der Debütroman von Ella Berman.

Die Struktur des Romans ist klar ersichtlich und einleuchtend: Auf einen kurzen Prolog folgen zwei Teile („Davor“ und „Danach“). Darüber hinaus ist die Geschichte in insgesamt 60 kurze Kapitel gegliedert. Der Roman endet mit einem Epilog.

Erzählt wird im Präsens in der Ich-Perspektive aus der Sicht von Grace - zwar in chronologischer Reihenfolge, aber mit diversen Rückblenden. Der Schreibstil ist schnörkellos, aber dennoch atmosphärisch, eindringlich und anschaulich. Er ist geprägt von authentisch klingenden Dialogen.

Mit Grace steht eine interessante Figur im Fokus. Sehr gefallen hat mir, dass dieser Charakter mit viel psychologischer Tiefe ausgestattet ist. Ihre Fehler und Schwächen machen sie nicht ungeschränkt sympathisch, jedoch lebensnah. Ihre Gedanken und Gefühle lassen sich gut nachvollziehen.

Auf der inhaltlichen Ebene ist der Roman sehr aktuell: Es geht es um patriarchale Machtstrukturen in der Unterhaltungsindustrie. Die Geschichte stellt einen „Me too“-Fall dar, wobei die Autorin nicht auf wahre Begebenheiten eingeht. Phänomene wie Gaslighting und Grooming tauchen auf. Damit wirft der Roman ein Schlaglicht auf wichtige Themen wie den Machtmissbrauch, vor allem gegenüber Frauen. Er klärt auf, rüttelt wach, erschüttert und macht nachdenklich. Anderen Betroffenen, die nicht über ihre Erlebnisse und eventuelle Traumata sprechen können, verleiht die Geschichte eine Stimme. Weitere Aspekte wie Abhängigkeit von Alkohol und Drogen sorgen für Vielschichtigkeit.

Auf den mehr als 400 Seiten konnte mich die Story nicht nur berühren, sondern auch gut unterhalten. Schon nach wenigen Kapiteln hat sich ein Lesesog eingestellt, der dank weniger Längen bis zum Schluss erhalten geblieben ist. Die Handlung erscheint schlüssig.

Der deutsche Titel ist wortgetreu aus dem englischsprachigen Original („The Comeback“) übersetzt. Er passt meiner Ansicht nach gut zum Inhalt. Auch das Cover, ebenfalls eine sinnvolle Wahl, wurde übernommen.

Mein Fazit:
Mit „Das Comeback“ hat mich Ella Berman in mehrfacher Hinsicht überzeugt. Ich hoffe, dass auch ihr zweiter Roman in Deutschland verlegt werden wird.

  • Einzelne Kategorien
  • Handlung
  • Erzählstil
  • Charaktere
  • Cover
  • Thema
Veröffentlicht am 13.10.2024

Zwei gute Partien?

Intermezzo
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Die Brüder Peter und Ivan Koubek haben gerade ihren Vater beerdigt. Peter (32) ist klug, erfolgreich und weltgewandt. Er arbeitet als Anwalt in Dublin. Ivan ist fast zehn Jahre jünger und introvertiert. ...

Die Brüder Peter und Ivan Koubek haben gerade ihren Vater beerdigt. Peter (32) ist klug, erfolgreich und weltgewandt. Er arbeitet als Anwalt in Dublin. Ivan ist fast zehn Jahre jünger und introvertiert. Er tourt als Profi-Schachspieler durch Irland. Die Brüder haben nicht viel gemeinsam und doch zwei Parallelen: die Trauer und Probleme in ihren Liebesbeziehungen.

„Intermezzo“ ist ein Roman von Sally Rooney.

Die Struktur des Romans ist klar und durchdacht: Er besteht aus drei Teilen und insgesamt 17 Kapiteln. Erzählt wird im Präsens und in chronologischer Reihenfolge aus wechselnder Perspektive, die sich stilistisch unterscheiden.

In sprachlicher Hinsicht hat mich der Roman definitiv überzeugt. Der Schreibstil ist atmosphärisch, wortgewaltig, bildstark, einfühlsam und stellenweise poetisch. Die Dialoge klingen authentisch. Gelungen erscheint mir auch die deutsche Übersetzung von Zoë Beck.

Die beiden Brüder stehen eindeutig im Fokus der Geschichte. Die Charaktere wirken auf mich nicht sympathisch, aber lebensnah. Die Personen verfügen über viel psychologische Tiefe.

Auf inhaltlicher Ebene geht es diesmal zwar auch um Liebe und romantische Beziehungen, vorwiegend jedoch um die Familie. Wichtige Themen sind die Trauer und das Weiterleben nach einem Verlust. Dies macht die Geschichte ein wenig düster, aber auch bewegend und zum Nachdenken anregend.

Auf den fast 500 Seiten hat der Roman durchaus ein paar Längen. Überwiegend ist die Geschichte dennoch unterhaltsam und fesselnd, obwohl die Handlung recht übersichtlich bleibt.

Der deutsche Titel, ein Begriff aus der Schachwelt, der aus dem englischsprachigen Original wörtlich übernommen wurde, ist wegen seiner Mehrdeutigkeit eine gute Wahl. Auch das Cover gefällt mir.

Mein Fazit:
Mit „Intermezzo“ hat Sally Rooney einen lesenswerten und ausgereiften Roman geschrieben, der Lust darauf macht, auch ihre früheren Geschichten zu entdecken.

Veröffentlicht am 12.10.2024

Was oftmals ungesagt bleibt

Trauriger Tiger
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Genau weiß sie nicht mehr, wie alt sie war, als die sexuelle Gewalt begann. War sie erst sechs Jahre alt oder bereits sieben? Wie ihr Stiefvater sie über etliche Jahre in ihrer Kindheit und Jugend immer ...

Genau weiß sie nicht mehr, wie alt sie war, als die sexuelle Gewalt begann. War sie erst sechs Jahre alt oder bereits sieben? Wie ihr Stiefvater sie über etliche Jahre in ihrer Kindheit und Jugend immer wieder missbraucht und vergewaltigt hat, daran erinnert sie sich detailliert. Die Wahl-Mexikanerin und gebürtige Französin Neige Sinno hat erst als Studentin die Entschlossenheit und den Mut, ihren Peiniger anzuzeigen und vor Gericht gegen ihn auszusagen. Mit Mitte 40 findet sie schließlich die Worte, ihre traumatischen Erlebnisse in schriftlicher Form zu beschreiben…

„Trauriger Tiger“ ist ein autobiografisches Buch von Neige Sinno, das mit mehreren Literaturpreisen ausgezeichnet worden ist.

Die Einordnung des non-fiktionalen Werkes in ein Genre ist schwierig: Ist es ein Memoir, wie die Autorin an einer Stelle des Buches behauptet, oder ein Lebensbericht, wie sie es an anderer Stelle tut? Oder handelt es sich gar um ein Essay, wie die letzten Seiten anmuten? Eindeutig lässt sich das Werk nicht zuordnen.

Stilistisch mäandert das Buch. Mal erzählt die Autorin ihre Familiengeschichte und die Missbrauchserlebnisse nach, mal gibt sie auf essayistische Art ihre Reflexionen über Psychologie, Philosophie, Kriminalistik, Justiz und ähnliche Themen wider, mal zieht sie Verbindungen zur Weltliteratur, mal fügt sie Briefe und Zeitungsartikel ein. Zwar ist das Buch in zwei Teile untergliedert, die sie als Kapitel bezeichnet und die aus einigen mit Überschriften versehenen Passagen bestehen. Diese äußerliche Struktur sorgt jedoch nur bedingt für eine inhaltliche. Vielmehr entsteht der Eindruck, dass die Schriftstellerin ihre Gedanken wie bei einem Bewusstseinsstrom nur unzureichend sortiert niedergeschrieben hat, denn sie springt thematisch immer wieder hin und her und erzeugt Redundanzen.

Die Sprache ist schnörkellos, oft nüchtern, sehr offen und direkt, aber nicht effekthaschend oder überdramatisierend. Zwar bedient sich der Autorin mittels Zitaten anderer Werke. Wie sie selbst betont, greift sie aber nicht auf das literarische Schreiben zurück. Manche Formulierungen haben sich mir auch nach mehrfachem Lesen nicht in Gänze erschlossen. Das mag jedoch gegebenenfalls an der deutschen Übersetzung liegen.

Die Stärke des Romans ist darin zu sehen, dass Sinno nicht nur die bloßen Fakten ihres Falls schildert und ihre persönlichen Umstände aufdröselt. Sie zieht auf den rund 300 Seiten Parallelen zu anderen Schicksalen, analysiert die Mechanismen des Missbrauchs und bietet Einblicke, wie es Opfern nach solchen Taten geht und wie sie mit diesen furchtbaren Erfahrungen weiterleben. Ihre Gedanken zu Aspekten wie der Prävention, Bestrafung und Verarbeitung ihrer schlimmen Erlebnisse finde ich sehr erhellend. Damit rüttelt sie nicht nur auf und setzt ein Schlaglicht auf das wichtige Thema des Kindesmissbrauchs, sondern liefert auch Denkanstöße für die Gesellschaft. Gleichzeitig gibt sie anderen Betroffenen, die sich kein Gehör verschaffen konnten, mit ihrem Buch eine Stimme.

Etwas schade ist, dass der Titel, der wortgetreu aus dem Französischen („Triste tigre“) ins Deutsche übertragen wurde, wohl von einem anderen Werk abgekupfert wurde. Das Cover ist in mehrfacher Hinsicht überzeugend, wobei es leider nicht die Autorin selbst darstellt, wie man auf den ersten Blick missverständlicherweise meinen könnte.

Mein Fazit:
Mit „Trauriger Tiger“ hat Neige Sinno einen wichtigen und interessanten Text geschrieben, der mich inhaltlich überzeugen konnte, aber auf sprachlicher und stilistischer Ebene schwächelt. Ein in seiner Form einzigartiges Buch.

Veröffentlicht am 01.10.2024

Nach dem Verschwinden der Schlechtwetterfrau

Verlassene Nester
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Es ist Sommer 1992 im Planort an der Elbe im Gebiet der ehemaligen DDR, wo Pilly Jäckel mit ihrem Vater Martin lebt. Die Mutter der 13-Jährigen ist schon vor der Wende verschwunden, der Vater flüchtet ...

Es ist Sommer 1992 im Planort an der Elbe im Gebiet der ehemaligen DDR, wo Pilly Jäckel mit ihrem Vater Martin lebt. Die Mutter der 13-Jährigen ist schon vor der Wende verschwunden, der Vater flüchtet sich in den Alkohol. Die Teenagerin versucht, die Zuneigung der älteren Schulkameradin Katja zu gewinnen, die jedoch lieber mit einem Jungen anbändelt. Doch das soll nicht Pillys einziges Problem bleiben…

„Verlassene Nester“ ist ein Roman von Patricia Hempel.

Untergliedert in drei Teile und insgesamt 27 Kapitel, umspannt die Geschichte mehrere Monate. Erzählt wird nicht nur in der Ich-Perspektive aus der Sicht von Pilly, sondern auch aus weiteren Perspektiven, von denen die eine oder andere entbehrlich gewesen wäre.

In sprachlicher Hinsicht hat der Roman seine Stärken. Die anschaulichen Naturbeschreibungen sind besonders gelungen. Kreative Wortschöpfungen stechen hervor. Zudem fallen immer wieder starke Bilder auf. Andererseits haben sich mir spezifisch ostdeutsche Begriffe teilweise nicht aus dem Kontext erschlossen.

Das Personal ist ein wenig zu umfangreich. Zu Beginn fiel es mir nicht leicht, die verschiedenen Charaktere und ihre Beziehungen zueinander zu sortieren. Im Fokus steht Pilly, eine durchaus realitätsnahe und interessante Figur, die mir allerdings bis zum Schluss ein bisschen fremd blieb.

Was die Themen angeht, wirkt der Roman ebenfalls überfrachtet. Es geht um Rassismus, Aspekte des Erwachsenwerdens, wirtschaftlichen Niedergang, Suchterkrankungen, Flucht, Stasi, Gentrifizierung und vieles mehr. Einiges wird bloß angerissen, sodass der Eindruck entsteht, dass die Autorin möglichst viele Themen unterbringen wollte.

Auf den knapp 300 Seiten nimmt die Geschichte nur sehr langsam Fahrt auf. Später wird die Handlung deutlich unterhaltsamer und turbulenter. Sie bietet sogar Überraschungen. Der Schluss hat mich dennoch etwas enttäuscht, da einige Fragen offen bleiben und manche lose Fäden nicht wieder aufgegriffen werden.

Sowohl das Cover als auch der mehrdeutige Titel sind auf positive Weise ungewöhnlich. Sie passen sehr gut zur Geschichte.

Mein Fazit:
Mit „Verlassene Nester“ hat mich Patricia Hempel leider nicht komplett überzeugt. Die Geschichte hält interessante Themen und Ideen bereit, lässt aber zu viele Leerstellen.

Veröffentlicht am 28.09.2024

Auf einer Insel abseits des Kriegsgetümmels

Die Gräfin
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Es ist August im Jahre 1944 auf der deutschen Hallig Südfall, als der englische Pilot John Philip Gunter mit seinem Aufklärungsflieger eine Bruchlandung in der Nähe hinlegt. Der verletzte und bewusstlose ...

Es ist August im Jahre 1944 auf der deutschen Hallig Südfall, als der englische Pilot John Philip Gunter mit seinem Aufklärungsflieger eine Bruchlandung in der Nähe hinlegt. Der verletzte und bewusstlose Kriegsfeind wird von Diana Gräfin von Reventlow-Criminil, der mehr als 80 Jahre alten Hallig-Bewohnerin, im Wattenmeer gefunden. Zusammen mit ihrem Angestellten rettet sie den jungen Fremden vor der Flut und bietet ihm Unterschlupf. Doch was soll nun geschehen?

„Die Gräfin“ ist der Debütroman der Autorin Irma Nelles, die im Jahr 2024 kurz vor der Veröffentlichung verstorben ist.

Die Struktur des Romans wirkt logisch und durchdacht: Auf einen Prolog folgen sechs Teile, die identisch sind mit sechs aufeinanderfolgenden Tagen. Erzählt wird in chronologischer Reihenfolge in auktorialer Perspektive. Die Handlung spielt auf der Hallig und auf Nordstrand.

Der autofiktionale Roman basiert auf historischen Ereignissen und schildert den Absturz eines englischen Kampfpiloten nahe der Hallig Südfall. Darüber hinaus stellt er das Leben von Diana Gräfin von Reventlow-Criminil vor. Eine schöne Idee.

Das Personal der Geschichte ist umfangreicher als vermutet. Neben dem Fremden tauchen mehrere Einheimische auf. Die als „Hallig-Gräfin“ bekannte Persönlichkeit ist allerdings die zentrale Figur des Romans. Eine eigenwillige, aber durchaus interessante Figur, die einer näheren Betrachtung würdig ist. Ihre Vergangenheit und ihr Charakter werden recht ausführlich dargestellt. Die fundierte Recherche der Autorin wird an diesen Stellen immer wieder deutlich. Leider werden diese biografischen Hintergründe sowie andere historische Fakten größtenteils in realitätsfernen und langweiligen Dialogen beziehungsweise ungelenken Nebensätzen untergebracht.

Ohnehin sind Sprache und Schreibstil das große Manko des Romans. Wiederholungen in den Formulierungen und Wörter aus dem Beamtendeutsch wechseln sich ab mit dem Vokabular eines Groschenromans und Widersprüchlichkeiten. Eine klare stilistische Linie ist nicht erkennbar. Ein strengeres Lektorat hätte dem Text gutgetan. Lediglich die atmosphärischen und anschaulichen Naturbeschreibungen sowie die authentischen Zitate aus dem Plattdeutschen sind besonders gelungen.

Auch in inhaltlicher Sicht hat der Roman Schwächen. Die eingebaute Liebesgeschichte kommt wenig glaubhaft daher. Auf den nur knapp 170 Seiten werden mehrere spannende Fragen aufgeworfen und mögliche Querverbindungen und Zusammenhänge angerissen. Das abrupte, sehr offene Ende greift die meisten dieser Fäden jedoch nicht auf, überlässt zu viel dem Ungefähren und lässt mich ratlos zurück. Insgesamt wirkt der letzte Teil des Romans auf mich fast fragmentarisch.

Die Stimmung des Romans nimmt das sehr ansprechende, aber unaufgeregte Cover auf hervorragende Weise auf. Der prägnante Titel ist, streng genommen, nicht ganz korrekt, da die Protagonistin nicht mehr adelig sein kann.

Mein Fazit:
Mit „Die Gräfin“ hat Irma Nelles einer interessanten Persönlichkeit einen Roman gewidmet, der mich auf inhaltlicher und sprachlicher Ebene nicht in Gänze überzeugen konnte. Leider schöpft die Geschichte ihr volles Potenzial nicht aus.