Cover-Bild Trauriger Tiger
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24,00
inkl. MwSt
  • Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
  • Themenbereich: Belletristik - Belletristik: Familienleben
  • Genre: Romane & Erzählungen / Sonstige Romane & Erzählungen
  • Seitenzahl: 304
  • Ersterscheinung: 12.09.2024
  • ISBN: 9783423284226
Neige Sinno

Trauriger Tiger

»Ein erschütternd eindringliches und wichtiges Buch.« Elke Heidenreich | Die literarische Sensation aus Frankreich, ausgezeichnet mit sechs Literaturpreisen
Michaela Meßner (Übersetzer)

»Man muss ihr zuhören und sie lesen, denn ihre Erzählung wird uns für immer verändern.«  Beata Umubyeyi Mairesse

Das Buch, über das ganz Frankreich sprach, der Überraschungs-Bestseller, mit sechs Literaturpreisen ausgezeichnet, u. a. dem Prix Femina und dem Premio Strega Europeo 2024. »Dieses Buch macht Angst, bevor man es gelesen hat; wenn man es dann liest, verliert man die Angst sofort.« Aus der Begründung der Schüler:innen-Jury für den Prix Goncourt des lycéens

Eine in ihrer radikalen Ehrlichkeit außergewöhnliche Schriftstellerin. Als Kind immer wieder sexueller Gewalt ausgesetzt, erzählt Neige Sinno von einem Familienleben, das um Lügen und Täuschungen herum gebaut ist. Und von den vielen Facetten von Erinnerung, den vielen Gesichtern eines Menschen in Ungeheuerlichkeit und Banalität. Wie werden wir zu denen, die wir sind? Kommt vor Gericht zur Sprache, was in Familien ungesagt bleibt? Neige Sinno erzählt vielstimmig, nähert sich ohne Pathos der Wahrheit. Ein kristallklarer Stil, ein so kluges wie Mut machendes Buch, das in Frankreich die Herzen von Hunderttausenden von Leserinnen und Lesern eroberte.


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Lesejury-Facts

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 05.11.2024

Ein erschütterndes wie wichtiges Buch

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Neige Sinno porträtiert sich selbst. Sie war sieben, acht oder neun Jahre alt, als es anfing, ganz sicher kann sie sich nicht sein, die Geschichte ihrer Vergewaltigung. Andere würden es Missbrauch nennen, ...

Neige Sinno porträtiert sich selbst. Sie war sieben, acht oder neun Jahre alt, als es anfing, ganz sicher kann sie sich nicht sein, die Geschichte ihrer Vergewaltigung. Andere würden es Missbrauch nennen, aber die Autorin möchte es konkretisieren, es so nennen, wie sie es empfunden hat und wie es sich angefühlt hat. Ihr Stiefvater hat sich ihr kindliches Vertrauen erschlichen, denn obwohl Neige Scham empfand und spürte, dass etwas geschah, das nicht richtig war, dass er zu weit ging, hatte sie keine Worte gefunden. Er war der Erwachsene, der Verantwortliche für eine Schutzbefohlene. Sie sollte ihm sagen, dass sie ihn liebte und nett zu ihm sein, denn dann ließe er ihre Geschwister in Ruhe.

Neige Sinno tastet sich an ihren Täter heran. Wie war er? Geachtet in der Nachbarschaft unter Freunden, hilfsbereit, handwerklich begabt. Gut aussehend, sagen die Frauen. Charismatisch und jovial war er, konnte anpacken, hatte Führungsqualitäten und das gefiel der Mutter, die zuvor an Neiges Vater gescheitert war.

Neige war schnell klar, dass sie in der Falle saß. Wäre er verhaftet worden, hätte das Geld, das ihre Mutter mit Putzstellen dazuverdiente niemals gereicht um vier Kinder zu versorgen. Er war der Hauptverdiener. Neige war das älteste Kind und musste ihre Geschwister schützen. Sie lehnte ihren Stiefvater im Familienverbund weiterhin ab, war nicht nett zu ihm. Durch ihre Zurückweisung und Nichtakzeptanz verursachte sie ihm eine tiefe narzisstische Kränkung, die er mit immer heftigeren Praktiken quittierte. Neige hat sich wegdissoziiert, wann immer es ihr möglich war, in den Momenten, in denen sie nicht kurz vor dem Ersticken war.

Fazit: Neige Sinno hat ein Martyrium öffentlich gemacht, das nicht selten, aber ohne jeden Zweifel erschütternd ist. Mit kluger analytischer Erzählstimme nähert sie sich ihrem Täter und sich selbst. Frei von Pathos schildert sie die abartigen Ereignisse, die sie erleiden musste, die sie zutiefst geprägt haben. Sie nähert sich auch ihrer Mutter, die von den Perversionen ihres Mannes und Vertrauten nichts gewusst haben will und findet Erklärungen. Auch über die mangelnde Bereitschaft der Gesellschaft den Fakten in die Augen zu sehen, der Ignoranz spricht sie. Von Männern, die in Kriegszeiten metzeln und vergewaltigen, um den Gegner bewusst bis in die nächsten Generationen zu traumatisieren und zu zerstören. Warum sie das machen? Weil sie es können. Ebenso nimmt sie Anstoß an der gesellschaftlichen Sexualisierung von Kindern und Jugendlichen am Beispiel Nabokovs Lolita. Die in den 50ern und lange danach als verführerische, provokante Jugendliche verherrlicht wurde, sodass sogar fähige Literaturkritikerinnen das Buch für eine Liebesgeschichte hielten. Die Autorin spricht darüber, dass der Vertrauensbruch, die Manipulation, die Akte an sich, sich so tief in ihre Seele gebrannt haben, dass kein Tag in ihrem Leben ein normaler Tag ist. Wie Albträume, Flashbacks, Depression und Selbstsabotage sie immer begleiten. Während ihr Stiefvater sich von seinem humanen Freiheitsentzug (halboffener Vollzug) wieder auf der Sonnenseite des Lebens befindet, bleibt seine Stieftochter eine „Damage Person“. Als ebenfalls von Missbrauch betroffene Frau hat mir das Buch einiges abverlangt. Ich möchte nicht verheimlichen, dass ich viele Passagen mit Herzrasen, Atemnot und Flashbacks gelesen habe. Eine weitreichende Erkenntnis, die mich nachhaltig zutiefst traurig macht, ist die, dass es da draußen so viele Männer gibt, die bereit sind anderen zu schaden, um einen Mangel zu kompensieren und sich ein gutes oder berauschendes Gefühl zu verschaffen. Machtmissbrauch scheint ein probates Mittel der Wahl zu sein, seine miesen Gefühle in einen Rausch zu verwandeln, ganz ohne Reue oder Beklemmungen und das stimmt mich nachdenklich.

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Veröffentlicht am 12.09.2024

Beeindruckendes Buch

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Das autobiographische Werk von Neige Sinno liest sich wie ein Essay, da sie nicht nur ihre eigenen Erfahrungen schildert, sondern auch die entsprechenden Themen durch sozialwissenschaftliche Informationen ...

Das autobiographische Werk von Neige Sinno liest sich wie ein Essay, da sie nicht nur ihre eigenen Erfahrungen schildert, sondern auch die entsprechenden Themen durch sozialwissenschaftliche Informationen aus verschiedenen Bereichen ergänzt. Der Schreibstil ist sehr angenehm und gut zu lesen. Man fühlt sich von der Autorin direkt angesprochen, der Ton ist freundschaftlich, fast wie eine Plauderei. Aber der Ton täuscht nicht darüber hinweg, dass das Thema sehr ernst ist. Mir gefällt sehr gut, wie reflektiert die Autorin mit ihrer Geschichte umgeht. Sie bemüht sich, Verallgemeinerungen zu vermeiden und man kann ihren Gedankengängen gut folgen. Teilweise wirkt die Erzählung ihrer eigenen Geschichte distanziert, teilweise ist man ihr erschreckend nah. Ich war beeindruckt von dieser starken Frau, die zum Schutz ihrer Geschwister die Anzeige und öffentliche Verurteilung gewählt hat. Mit 20 Jahren Abstand wird sehr nachvollziehbar geschildert, welche Auswirkungen das auf Neige und ihre Familie hatte und die Zweifel, die die Autorin diesbezüglich hat. Ihre Verletzlichkeit und Versehrtheit sind immer spürbar und dieses Buch wurde zu Recht mehrfach ausgezeichnet.

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Veröffentlicht am 29.11.2024

Mutiger Bericht einer Missbrauchsüberlebenden

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"Trauriger Tiger" von Neige Sinno hat mir ein bisschen Angst gemacht, seit ich von dem Buch gehört, es mir gekauft und es mit seinem markanten Cover einer fast Ertrinkenden auf dem Schreibtisch vor mir ...

"Trauriger Tiger" von Neige Sinno hat mir ein bisschen Angst gemacht, seit ich von dem Buch gehört, es mir gekauft und es mit seinem markanten Cover einer fast Ertrinkenden auf dem Schreibtisch vor mir liegen hatte. Es ist von der Thematik her ein sehr heftiges Buch: Neige Sinno wurde als Kind jahrelang von ihrem Stiefvater sexuell missbraucht und vergewaltigt, und erzählt in diesem Buch auf eine ihr sehr eigene Art und Weise davon.

Gleich am Anfang werden wir mit einer sehr explizit geschilderten Missbrauchsszene des Stiefvaters an ihr ins Geschehen hinein gestoßen. Dann folgt eine Reflexion Sinnos darüber, wer der Stiefvater als Persönlichkeit war und ist: ein sehr aktiver, extrovertierter, beliebter und charismatischer Mensch, der genau weiß, wie er Menschen für sich einnimmt, beeinflusst und Macht ausübt. Der Menschen so von sich überzeugen konnte und so viele Unterstützer hatte, dass sich selbst nach seinem Geständnis des Kindesmissbrauchs vor Gericht unzählige Entlastungszeugen fanden, die bereit waren, zu seinen Gunsten auszusagen und seinen ach so tollen Charakter zu loben. Wie übermächtig muss dieser Mensch der kleinen Neige erschienen sein!

Und auf der anderen Seite Neige Sinno, damals ein kleines Mädchen, heute schon lange erwachsen, und bis heute schwer traumatisiert und gebrochen. Das spricht sie auch an verschiedenen Stellen an, zum Beispiel, als sie einmal erwähnt, wie nur ein Teil von ihr hier ist und berichten kann. Und es wird fühlbar durch die starke Intellektualisierung, die sich durch das Buch zieht. Neige Sinno ist Literaturwissenschaftlerin und eine hochgebildete und hochintelligente Frau. Wie so viele traumatisierte Menschen, die gleichzeitig über so hohe kognitive Fähigkeiten verfügen, hat sie im Rückzug ins Intellektuelle auch in gewisser Weise ihre Rettung gefunden.

Trotz des so schlimmen Themas ist das Buch über weite Strecken sehr intellektuell und das führt dazu, dass man emotional beim Lesen immer wieder die Verbindung verliert und kaum gefühlsmäßig mitschwingt. Das hat durchaus seine Vorteile für die Lesenden, weil es dadurch die Lektüre wesentlich erträglicher macht, als wenn es anders wäre. Und es stellt die innere Abspaltung, die die Autorin wohl selbst erlebt, eindringlich dar. Gleichzeitig erreicht das Buch dadurch aber die Lesenden weniger auf der emotionalen Ebene - meine anfängliche Angst war in diesem Fall nicht begründet, das Buch ist wesentlich erträglicher zu lesen, als ich befürchtet habe.

Wenn ich überlege, was nachhallt, dann sind das nun auch nach Abschluss der Lektüre eher theoretische Überlegungen zum Thema, die die Autorin darin mit uns teilt: dazu, ob Gefängnisstrafen legitim sind und welchen Zweck diese erfüllen. Inwieweit Verbrechen und Strafausmaß miteinander zusammenhängen und zusammenhängen sollten. Was "Lolita" von Vladimir Nabokov für ein Buch ist (die Autorin liebt dieses, weil sie es mag, dass dadurch ausnahmsweise mal Kindesmissbrauch aus Sicht des Täters dargestellt wurde, was in der Literatur selten ist, und es ihr erleichtert hat, die Gedanken ihres Vergewaltigers nachvollziehen zu können) und ob es zu Recht so oft gelesen und rezipiert wird oder nicht auch problematisch sein kann. Welche Typologien von Vergewaltigern und Kindesmissbrauchern es geben könnte. Und so einiges mehr.

Geschrieben ist das Buch in einer "stream-of-consciousness"-Weise, es geht mal um dieses, mal um jenes, und ist nicht unbedingt sehr logisch und stringent gegliedert. Wir folgen der Autorin dabei, wie sie sich verschiedenen Aspekten ihrer Erfahrung überwiegend intellektuell annähert und dabei verschiedene Quellen miteinbezieht: aus der Literatur, aus Zeitungsartikeln über den Prozess (sie hat schlussendlich als junge erwachsene Frau den Stiefvater angezeigt, er hat vor Gericht gestanden und wurde zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe verurteilt, die er aber mittlerweile längst verbüßt hat), darüber, warum Menschen überhaupt Verbrechen begehen ("weil sie es können", meint die Autorin und zitiert dabei jemanden, der über Kriegsverbrechen geforscht hat) usw.

Eine Psychotherapie hat die Autorin nie gemacht, diese lehnt sie - vielleicht auch aufgrund von schlechten Erfahrungen mit Psychologen, die ihren Stiefvater mehr oder weniger freigesprochen haben - für sich ab. Ihre Auseinandersetzung ist und bleibt mehr eine intellektuelle, als eine emotionale. Das ist sehr gut nachvollziehbar, denn bei so einer tiefen, wiederkehrenden Traumatisierung diese alleine und ohne therapeutische Unterstützung auch emotional und nicht nur intellektuell aufzuarbeiten, das ist fast unmöglich. Es ist auch das gute Recht der Autorin, überwiegend auf der intellektuellen Ebene zu bleiben, vermutlich hat ihr diese ihr Überleben ermöglicht - oder zumindest das Überleben des Teils ihrer Persönlichkeit, der sich in dem Buch an uns Lesende wendet.

Es ist kein bequemes Buch für Lesende und richtet sich in seiner Art und Strukturierung auch nicht unbedingt vorrangig an uns. Eher ist es als persönliches intellektuelles Bewältigungstagebuch mit Quellen zu verstehen, an dem uns die Autorin teilhaben lässt, ohne sich in ihrem Schreibstil allzu sehr an uns und unsere Bedürfnisse beim Lesen und Verstehen anzupassen.

Immer wieder ist das Buch sperrig und nicht alles, was die Autorin erwähnt, erklärt sie auch schlüssig. Es ist und bleibt ihre sehr persönliche und eigene Sichtweise auf das Thema. Unklar ist mir auch bis heute der Titel und was in diesem Kontext "Trauriger Tiger" bedeutet. Die Autorin erwähnt ein Gedicht, in dem der Tiger und dessen Beutetier vorkommen und dass wohl beide vom gleichen Schöpfer erschaffen wurden, aus der gleichen Quelle stammen. Sie setzt also offensichtlich den Tiger mit dem Vergewaltiger gleich. Dann ist mir aber nicht klar, warum dieser Tiger traurig sein soll? Traurig, aber vor allem sehr wütend, kommt mir eher das Opfer, die Autorin vor... sieht sie sich dann auch als Tiger? Der Vergewaltiger wird hingegen eindringlich charakterisiert und scheint in Summe alles Mögliche zu sein - eingebildet, charismatisch, selbstbewusst, großkotzig - und in der Lage, nach 9 Jahren Gefängnis eine neue junge Frau zu finden und mit dieser weitere vier Kinder zu kriegen - aber traurig wirkt er nicht.

Vielleicht besteht aber gerade auch in der Sperrigkeit des Buches und in dem, was uns die Autorin nicht genauer erklärt und wo sie sich beim Schreiben des Buches nicht an potentielle Lesende anpasst, ein Akt der Rebellion gegen die Vergewaltigungen und ein großer Befreiungsschlag: nun, wo sie erwachsen ist und sich wehren und für sich einstehen kann, braucht die Autorin niemandem gegenüber mehr gefällig sein, auch nicht den Lesenden ihres Buches.

Ich bin froh, dieses Buch gelesen zu haben. Es ist ein eindringliches, besonderes Buch, das auf seine Weise sicher lange nachwirken wird.

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Veröffentlicht am 12.09.2024

Bedrückend

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Neige Sinno hat sich in dem Roman
Traurige Tiger ihre Kindheit erinnert.
Der Roman zeigt eigentlich eine normale liebevolle Familie. Aber im Hintergrund lauern die Übergriffe ihres Stiefvaters. Typisch, ...



Neige Sinno hat sich in dem Roman
Traurige Tiger ihre Kindheit erinnert.
Der Roman zeigt eigentlich eine normale liebevolle Familie. Aber im Hintergrund lauern die Übergriffe ihres Stiefvaters. Typisch, die Warnung, wenn du still bist, geschehen den anderen nichts.
Die Autorin hat alles sehr gut geschrieben, aber es hat mich zutiefst deprimiert.
Es ist eine wichtige Lektüre, die ich aber nicht durchhalten konnte.

Veröffentlicht am 12.10.2024

Was oftmals ungesagt bleibt

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Genau weiß sie nicht mehr, wie alt sie war, als die sexuelle Gewalt begann. War sie erst sechs Jahre alt oder bereits sieben? Wie ihr Stiefvater sie über etliche Jahre in ihrer Kindheit und Jugend immer ...

Genau weiß sie nicht mehr, wie alt sie war, als die sexuelle Gewalt begann. War sie erst sechs Jahre alt oder bereits sieben? Wie ihr Stiefvater sie über etliche Jahre in ihrer Kindheit und Jugend immer wieder missbraucht und vergewaltigt hat, daran erinnert sie sich detailliert. Die Wahl-Mexikanerin und gebürtige Französin Neige Sinno hat erst als Studentin die Entschlossenheit und den Mut, ihren Peiniger anzuzeigen und vor Gericht gegen ihn auszusagen. Mit Mitte 40 findet sie schließlich die Worte, ihre traumatischen Erlebnisse in schriftlicher Form zu beschreiben…

„Trauriger Tiger“ ist ein autobiografisches Buch von Neige Sinno, das mit mehreren Literaturpreisen ausgezeichnet worden ist.

Die Einordnung des non-fiktionalen Werkes in ein Genre ist schwierig: Ist es ein Memoir, wie die Autorin an einer Stelle des Buches behauptet, oder ein Lebensbericht, wie sie es an anderer Stelle tut? Oder handelt es sich gar um ein Essay, wie die letzten Seiten anmuten? Eindeutig lässt sich das Werk nicht zuordnen.

Stilistisch mäandert das Buch. Mal erzählt die Autorin ihre Familiengeschichte und die Missbrauchserlebnisse nach, mal gibt sie auf essayistische Art ihre Reflexionen über Psychologie, Philosophie, Kriminalistik, Justiz und ähnliche Themen wider, mal zieht sie Verbindungen zur Weltliteratur, mal fügt sie Briefe und Zeitungsartikel ein. Zwar ist das Buch in zwei Teile untergliedert, die sie als Kapitel bezeichnet und die aus einigen mit Überschriften versehenen Passagen bestehen. Diese äußerliche Struktur sorgt jedoch nur bedingt für eine inhaltliche. Vielmehr entsteht der Eindruck, dass die Schriftstellerin ihre Gedanken wie bei einem Bewusstseinsstrom nur unzureichend sortiert niedergeschrieben hat, denn sie springt thematisch immer wieder hin und her und erzeugt Redundanzen.

Die Sprache ist schnörkellos, oft nüchtern, sehr offen und direkt, aber nicht effekthaschend oder überdramatisierend. Zwar bedient sich der Autorin mittels Zitaten anderer Werke. Wie sie selbst betont, greift sie aber nicht auf das literarische Schreiben zurück. Manche Formulierungen haben sich mir auch nach mehrfachem Lesen nicht in Gänze erschlossen. Das mag jedoch gegebenenfalls an der deutschen Übersetzung liegen.

Die Stärke des Romans ist darin zu sehen, dass Sinno nicht nur die bloßen Fakten ihres Falls schildert und ihre persönlichen Umstände aufdröselt. Sie zieht auf den rund 300 Seiten Parallelen zu anderen Schicksalen, analysiert die Mechanismen des Missbrauchs und bietet Einblicke, wie es Opfern nach solchen Taten geht und wie sie mit diesen furchtbaren Erfahrungen weiterleben. Ihre Gedanken zu Aspekten wie der Prävention, Bestrafung und Verarbeitung ihrer schlimmen Erlebnisse finde ich sehr erhellend. Damit rüttelt sie nicht nur auf und setzt ein Schlaglicht auf das wichtige Thema des Kindesmissbrauchs, sondern liefert auch Denkanstöße für die Gesellschaft. Gleichzeitig gibt sie anderen Betroffenen, die sich kein Gehör verschaffen konnten, mit ihrem Buch eine Stimme.

Etwas schade ist, dass der Titel, der wortgetreu aus dem Französischen („Triste tigre“) ins Deutsche übertragen wurde, wohl von einem anderen Werk abgekupfert wurde. Das Cover ist in mehrfacher Hinsicht überzeugend, wobei es leider nicht die Autorin selbst darstellt, wie man auf den ersten Blick missverständlicherweise meinen könnte.

Mein Fazit:
Mit „Trauriger Tiger“ hat Neige Sinno einen wichtigen und interessanten Text geschrieben, der mich inhaltlich überzeugen konnte, aber auf sprachlicher und stilistischer Ebene schwächelt. Ein in seiner Form einzigartiges Buch.