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Veröffentlicht am 26.08.2020

Volker Jarck - Sieben Richtige

Sieben Richtige
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Das ganz normale Leben zwischen Bochum und Köln, wie es eben so spielt mit seinen Zufällen. Die Ehe von Marie und Victor ist am Ende, ihr Sohn Nick lebt inzwischen in den USA und nach der Krebs-Diagnose ...

Das ganz normale Leben zwischen Bochum und Köln, wie es eben so spielt mit seinen Zufällen. Die Ehe von Marie und Victor ist am Ende, ihr Sohn Nick lebt inzwischen in den USA und nach der Krebs-Diagnose zieht es Marie weg aus dem Ruhrgebiet zu ihrer Schwester an den Rhein. Ihre Nachbarn durchleben derweil im Sommer 2018 den größten Alptraum aller Eltern: ihre Tochter Greta wird durch einen übermütigen Raser lebensgefährlich verletzt. Im Krankenhaus arbeitet die Pflegerin Lucia, die ebenfalls eine schreckliche Nachricht erhält: ihr Vater starb durch einen Wespenstich an einer Autobahnraststätte; er war gerade dabei die Möbel der Autorin Eva Winter zu deren neuer Wohnung in Köln zu transportieren. Diese hat sie kurzfristig bekommen, da die Vormieterin Linda mit ihrem neuen Freund Tim zusammengezogen ist, beide waren einst Schüler von Victor, der seinerseits während seine Studiums von einer gemeinsamen Zukunft mit Eva träumte. Der Kreis schließt sich und die Uhr dreht sich unermüdlich weiter.

„Sieben Richtige“ – quasi der Sechser im Lotto plus Zusatzzahl, ein statistisch unwahrscheinliches Zusammentreffen der richtigen Zahlen im richtigen Moment, das aber dennoch regelmäßig vorkommt. Genauso verhält es sich mit den Begegnungen der Figuren in Volker Jarcks Roman. Nach vielen Jahren als Lektor hat er sich auf die andere Seite des Schreibens gewagt und das mit überzeugendem Ergebnis. Die Geschichten der einzelnen Figuren greifen immer wieder ineinander, sind verwoben und stoßen sich gegenseitig an und werden so zu einem stimmigen Ganzen.

Völlig lose voneinander erscheinen die Erzählungen zunächst, erst im Laufe der Handlung werden die vielfältigen Beziehungen deutlich, die es nicht nur 2018 gibt, sondern auch schon Jahrzehnte zuvor und ebenso viele danach geben wird. Sie sind Geliebte, Partner, Lehrer, Schüler, Nachbarn, Freunde, Ex-Partner, Kinder – in unterschiedlichen Konstellationen treffen wir sie an, mal heiter, mal traurig, beschwingt vom Moment des Glücks, am Verzweifeln ob der sich abspielenden Tragödie. Immer neue Verbindungen werden geschaffen und so einsteht eine kleine Welt in der großen, in der Gegenwart wie in Vergangenheit und Zukunft.

Für jede einzelne Figur sind es große Ereignisse, tatsächlich aber gibt es im Roman nicht die eine weltverändernde Begebenheit; die Geschichte lebt von der Normalität, in die sich jedoch der unglaubliche Zufall einschleicht, so wie er das tagtäglich überall tut. Vor allem das Ineinanderspielen der einzelnen Episoden fasziniert, macht das sichtbar, was Stanley Milgram einst als „Kleine-Welt-Phänomen“ bezeichnete: dass zwei unbekannte Menschen über 6-7 Personen miteinander verbunden sind.

Sprachlich routiniert erzählt mit kleinen, aber feinen Ausreißern nach oben (die Wespe!), ein Roman zum Aufschlagen und einfach nur genießen.

Veröffentlicht am 22.08.2020

Sabine Kunz - Die Saubermacherin

Die Saubermacherin
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Millie ist Expertin im Reinigen, egal ob Küche, Wäsche oder Bad, bei ihr wird alles blitzblank. Dabei ist die serbische Frau mit den buschigen Augenbrauen auch noch diskret und kaum zu hören bei der Arbeit. ...

Millie ist Expertin im Reinigen, egal ob Küche, Wäsche oder Bad, bei ihr wird alles blitzblank. Dabei ist die serbische Frau mit den buschigen Augenbrauen auch noch diskret und kaum zu hören bei der Arbeit. Das ist auch gut so, es soll ja niemand mitbekommen, wie sie ihre Arbeitgeber ausspioniert. Das tut sie allerdings nicht aus reiner Neugier, sondern für ihre Agentur, die den Putzservice nur als Vorwand nutzt. Tatsächlich sind die Damen ausgebildete Agentinnen, die international auf höchstem Niveau agieren. Der aktuelle Fall gilt den Lobbyisten eines manipulierten Saatguts, das per EU Verordnung den Weg nach Europa finden soll. Mitten in ihrem Auftrag lernt Millie Max kennen, zu dem sie sich unmittelbar hingezogen fühlt, aber kann sie ihm trauen? Und ein weiterer Mann taucht auf der Bildfläche auf, doch bei den Gefühlen zu ihm muss Millie nicht lange analysieren: ihr Leben lang schon hasst sie den Schlächter, dem sie einst nur knapp entkommen konnte.

Es passiert mir eher selten, dass ein Buch meine Aufmerksamkeit durch das Cover erregen kann, in diesem Fall war es aber so, denn das abgebildete klassische Waschbecken erinnerte mich an ein ähnliches, das im Hausflur meines Wiener Apartments hing und daher sofort Sympathien weckte. „Putzfrauen-Krimi“ klang dazu amüsant und in der Tat konnte der Roman meine Erwartungen erfüllen: ein Kriminalfall der ziemlich ungewöhnlichen Art, der auch eine gehörige Portion Humor bietet und die perfekte Balance zwischen Spannung und leichter Unterhaltung schafft.

Die Protagonistin wird zunächst unter ihrer Under-Cover-Identität vorgestellt: als etwas einfältige Putzfrau mit begrenzten Sprachkenntnissen und demütiger Haltung. Dass sie eine wahre „Jane Bond“ ist, zeigt sich jedoch schnell, nicht nur ist sie in Computerspionage perfekt ausgebildet, sie kann auch mit entsprechenden Kampftechniken aufwarten und Feind ebenso wie Freund kurzerhand außer Gefecht setzen. Die Geschichte um das manipulierte Saatgut erscheint mir zwar etwas abenteuerlich, aber letztlich war dies nur der Auslöser für das Kräftemessen zwischen der Agentur der Putzfrauen und der Geheimorganisation der TEA-BAGs.

Interessanter jedoch als dieses Kräftemessen fand ich Millies Erinnerungen an ihre Kindheit, die von den Erlebnissen des zerfallenden Jugoslawiens und den Gräueltaten des Krieges geprägt sind. Auch wenn viel Slapstick und Komik immer wieder zum Schmunzeln einladen, sind es diese Episoden, die auch nachdenklich stimmen und durchaus glaubhaft erläutern, wie ein Mensch ziemlich abgestumpft gegenüber Gewalt werden kann und diese als notwendiges Überlebensmittel zu akzeptieren weiß.

Ein Debüt, das nicht an Klischees spart und dem mit dem Genremix durchaus eine bemerkenswerte Geschichte gelingt.

Veröffentlicht am 21.08.2020

Sorj Chalandon – Wilde Freude

Wilde Freude
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Als die Buchhändlerin Jeanne die Diagnose Krebs erhält, fällt sie in ein tiefes Loch. Schon wieder ein Schicksalsschlag, erst verliert sie ihren Sohn, jetzt ist sie selbst betroffen. Ihr Mann Matt kann ...

Als die Buchhändlerin Jeanne die Diagnose Krebs erhält, fällt sie in ein tiefes Loch. Schon wieder ein Schicksalsschlag, erst verliert sie ihren Sohn, jetzt ist sie selbst betroffen. Ihr Mann Matt kann mit der Situation kaum umgehen und zieht sich schnell zurück. Nur bei den anderen Frauen, die wie sie tapfer die Therapie ertragen, findet sie Trost und bald auch Freundinnen. Die tapfere Brigitte, die nichts im Leben umwerfen zu können scheint; die emotionale Assia, die Jeanne lange misstraut und Mélody, die ihrer entführten Tochter nachtrauert. Jede hat Schicksalsschläge hinter sich, doch das eint sie und lässt sie in der Not zusammenstehen und eine richtige Dummheit begehen.

Sorj Chalandon ist seit vielen Jahrzehnten ein bekannter französischer Reporter, aus seinen Berichten heraus sind auch Romane entstanden, so habe ich zum ersten Mal Bekanntschaft mit ihm als Autor gemacht. Sein neustes Werk „Wilde Freude“ ist allerdings gänzlich anders als das, was ich bisher von ihm kannte. Komplizierte Lebenssituationen sind sein Markenzeichen, dieses Mal bewegt er sich aber in höchstprivaten Sphären und macht gleich vier Frauen zu ungewöhnlichen Heldinnen.

Das erste Kapitel des Romans wirft viele Fragen auf, die Handlung muss erst einige Monate zurückspringen, um zu verstehen, was sich zutragen wird. Zunächst steht Jeanne im Zentrum der Handlung. Eine niederschmetternde Diagnose nachdem sie noch immer die Trauer um den Sohn nicht ganz verwunden hat. Mehr noch als ihr emotionaler Zustand den Leser berührt, macht das Verhalten ihres Mannes wütend.

„Ganz schön widerlich“, murmelte er.

Mehr fällt ihm zum Haarausfall seiner Frau nicht ein. Statt Stütze zu sein, verschlimmert er die Situation und er erweckt den Anschein, als wenn er ihr die Schuld für den Krebs zuschreiben würde. Die Männer ihrer Leidensgenossinnen sind derweil noch schlimmere Betrüger, was die Frauen rasch zusammenführt. Zu wissen, dass es Frauen in einer ähnlichen oder gar noch ärgeren Situation gibt, spendet ein gewisses Maß an Trost. Besonders beeindruckend fand ich, wie sie mit den kleinen, aber doch bedeutenden Fragen wie den ausfallenden Haaren umgehen und Jeanne dabei begleiten, sich mit der neuen, nicht mehr vorhandenen Frisur, anzufreunden. Sie leisten genau das, was gute Freundinnen in diesem Moment tun müssen. Obwohl sie sich kaum kennen.

Das gegenseitige Geben und für einander einstehen geht noch einen Schritt weiter, als sie beschließen, das Lösegeld für Mélodys Tochter durch einen Überfall auf einen Juwelier zu beschaffen. Clever planen sie den Coup und geradezu abgebrüht können sie ihren Plan umsetzen. Mir erscheint diese Episode zwar etwas abenteuerlich, aber in der Grundaussage – was haben sie denn noch zu verlieren? – fügt sie sich ins Bild.

Man kann den Roman schwer zusammenfassen, zu facettenreich und vielseitig ist das, was er auslöst. Die Krebs-Erkrankungen und die Schicksalsschläge stimmen eher traurig-melancholisch, die Männer machen wütend, bei dem Überfall schwanke ich zwischen Kopf schütteln und auch einer Portion Bewunderung für die waghalsige Courage. Ein durch und durch gelungener Roman, der letztlich zeigt, dass am Ende der Verzweiflung immer noch Mut kommt, um alles in die Hand zu nehmen und das Leben neu anzupacken.

Veröffentlicht am 20.08.2020

Hilmar Klute - Oberkampf

Oberkampf
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Jonas Becker hat seine Zelte in Berlin abgebaut und nichts zurückgelassen. Es zieht ihn nach Paris, wo er eine Biografie über den Autor Richard Stein schreiben möchte, der dort schon lange lebt. In der ...

Jonas Becker hat seine Zelte in Berlin abgebaut und nichts zurückgelassen. Es zieht ihn nach Paris, wo er eine Biografie über den Autor Richard Stein schreiben möchte, der dort schon lange lebt. In der Rue Oberkampf bewohnt er ein kleines Appartement und schon an seinem ersten Tag erlebt er die Metropole in einem Ausnahmezustand, aus dem sie nicht mehr herauskommen wird: die Anschläge auf die Redaktion von Charlie Hebdo schreiben sich tief in das Gedächtnis der Stadt. Die Tage verbringt Jonas mit Interviews Steins, nachts erobert er mit seiner neuen Freundin Christine die Bistros und Bars. Zwei Unterbrechungen erlebt sein neuer Rhythmus, zum einen erhält er unerwartet Besuch von Fabian, seinem früheren Freund und Kollegen, der sich ein monatelang gehütete Geheimnis von der Seele reden muss, zum anderen reist er mit Stein in die USA, um dort dessen Sohn zu suchen. Wieder zurück in Frankreich schließt Jonas die Biografie ab, ein Abschnitt geht zu Ende. Aber dies ist nicht der womöglich fatale Endpunkt seines Paris Aufenthaltes.

Es gibt Bücher, bei denen man schon nach wenigen Seiten merkt, dass das einer der Romane ist, in die man unmittelbar versinkt und gefühlt Teil der Geschichte wird. Hilmar Klute war mir bislang nicht als Autor bekannt, aber unabhängig von der Thematik hat mich sein Schreibstil restlos überzeugen können. Mit versierten, starken Bildern erweckt er nicht die Figuren zum Leben, sondern auch Paris und die Schockstarre, in der sich die Metropole nach den Anschlägen befand, wird immer wieder greifbar.

„Jonas lief dicht an den Hauswänden entlang, so als müsste er sich nah an die Stadt schmiegen, der nun jemand ins Herz geschossen hatte.“

Die Geschichte um den Autor, der interviewt wird, liefert den Anlass für den Umzug und die Handlung, für mich jedoch tritt dies tatsächlich zunehmend zurück. Es sind andere Aspekte, die mich bei der Lektüre gepackt hatten. Den Rahmen setzen die Anschläge, man ahnt schnell, dass Charlie Hebdo der Anfangspunkt war und es ist bekannt, was nur den Endpunkt setzen kann. Zwischen diesen verstörenden Ereignissen liegt eine Sinnsuche, die sich auch im Protagonisten wiederfindet, der vermeintlich alles hinter sich gelassen hat, aber kann man sich wirklich von der eigenen Vergangenheit lösen? Schmerzlich wird Jonas bewusst, dass dem nicht so ist. Das Vakuum, in dem er sich befindet, ist auch nicht sein Leben, er sucht nach selbigen und bis er es gefunden hat, füllt er es mit jenem von Stein, der ihm vorhält, zu ängstlich zu sein, um wirklich zu leben.

Daneben dreht sich der Roman immer wieder um Literatur und Sprache. Der Spruch an einer Hauswand – „Il faut se méfier des mots“ – wird zu einem Leitspruch, der ihn verfolgt. Welche Worte, welche Zeichen benutzt er? Welche hatten die Karikaturisten von Charlie Hebdo verwendet, die so sehr den Hass ihrer Mörder provozierten und mit welchen wird die Trauer um sie öffentlich bekundet? Wie konnten ihn Bücher als Jugendlicher so faszinieren, dass er tagelang gedanklich aus der realen Welt ausbrach und weshalb kann er das als Erwachsener nicht mehr so intensiv erleben? Woraus sich wiederum die Frage ergibt, weshalb er scheinbar permanent auf der Suche nach einem Ausweg, einer Flucht aus dem eigenen, selbst gestaltet oder eher: selbst verschuldeten Leben ist. Er gehört zu einer Generation, der alles möglich, aber nichts perfekt genug ist. Nie festlegen, immer noch ein Türchen offenhalten, weil es noch etwas Besseres geben könnte. Die Jagd nach dem Ultimativen ist letztlich der einzige Sinn des Daseins, der wenig Freude und Befriedigung gibt.

Die Straße im 11. Arrondissement wirkt als Titelgeber, die zugehörige Metro-Station gestaltet das Cover des Buchs. In engem Radius um diese spielt sich die Handlung ab, die auch thematisch kaum ausbricht. Es ist jedoch kein Treten auf der Stelle, sondern eher ein Innehalten, wie dies nach extremen Ereignissen eintritt. Ein in seinen Bildern und der Gesamtkonstruktion stimmiger Roman, der durch eine pointierte Sprache besticht und mit einem interessanten Protagonisten überzeugt.

Veröffentlicht am 18.08.2020

Philipp Winkler – Carnival

Carnival
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Früher waren sie das Ereignis des Dorfes oder des Stadtteils: regelmäßig einmal im Jahr kam die Kirmes vorbei und brachen mit ihren Buden und Fahrgeschäften die gutbürgerliche, geordnete Welt auf. Die ...

Früher waren sie das Ereignis des Dorfes oder des Stadtteils: regelmäßig einmal im Jahr kam die Kirmes vorbei und brachen mit ihren Buden und Fahrgeschäften die gutbürgerliche, geordnete Welt auf. Die Bande kurioser gestalten, die nur dort eine Gemeinschaft finden konnten, waren gleichermaßen verschreckend wie faszinierend und wirbelten die Bewohner kräftig auf. Nach wenigen Tagen war der Spuk wieder vorbei und alle kehrten in ihren üblichen Trott zurück während der Tross weiterzog, um seine Zelte an einem neuen Ort aufzuschlagen. Die Zeiten veränderten sich und auch die Kirmes-Welt musste sich darauf einstellen. Doch zunehmend weniger Interesse machten ihnen das Leben schwerer bis sie schließlich fast ganz aus dem Stadt- und Dorfbild verschwunden waren.

Philipp Winkler konnte mich mit seinem Debüt-Roman „Hools“ restlos begeistern, dort wählte er ebenfalls eine Gruppe, die klassisch am Rand der Gesellschaft steht, die gerne verdrängt wird und mit der so niemand richtig etwas anzufangen mag. Nun also die Kirmes mit ihren Kuriosenkabinett. Der Roman ist ein Abgesang auf eine alte Institution, die gerade für Kinder stets ein echtes Highlight darstellte, das schon wochenlang zuvor sehnsüchtig erwartet wurde. Wieder einmal gelingt es Winkler, die sympathischen Seiten zu zeigen und sprachlich perfekt austariert und zum Inhalt passend den langsamen Niedergang zu schildern. Einziger Wermutstropfen für mich die fehlende Handlung. Viele Figuren werden präsentiert, die verschiedenen Facetten humorvoll dargestellt, aber es wird keine Geschichte erzählt.

„sie alle waren Teil des einen großen Traums gewesen: Der Traum von einem Ort, an dem jeder willkommen ist und jedem, so lange er das will, die Möglichkeit bietet, sich ein wenig zu verlieren, sich neu zu erfinden oder einfach nur eine verdammt noch mal gut Zeit zu verbringen.“

Es gibt die zwei Gesichter der Kirmes, jenes der Besucher, die sich amüsieren oder gruseln wollen, von Fahrgeschäften und Schießbuden angelockt werden und sich vielleicht sogar die Zukunft voraussagen lassen. Doch dies ist nur die Fassade, dahinter ist eine große Familie, die alle aufnimmt, die zu ihr gehören wollen. Für jeden findet sich ein Platz. Es wird zusammen gelacht und gefeiert, ebenso geweint und getrauert. Kinder werden gezeugt und großgezogen, so dass sie die Tradition fortsetzen können. Manchmal gelingt auch jemandem der Ausstieg, andere kommen jedes Jahr zu Saisonbeginn wieder.

Der Text ist wie der heimliche Blick durch das Schlüsselloch, den man dann auch fasziniert nicht mehr abwenden kann. Mit Leichtigkeit erzählt, erweckt er ein melancholisches Gefühl einer längst vergangenen Zeit, einer Tradition, die nicht mehr so existiert, eines Lebensgefühls, das nicht mehr in unsere Gegenwart zu passen scheint. Wo die Menschen abgeblieben sind, bleibt offen, aber ganz sicher ist ein Loch gerissen worden, von dem wir noch gar nicht wussten, dass es da ist. Ein letztes Mal ist der Vorhang gefallen und die Tore für immer verschlossen worden. Eine Erfahrung, die unsere Kinder so nie werden machen können, spielt sich ihr Leben nicht auf Marktplätzen, sondern in virtuellen Welten ab, die nur scheinbar so bunt und schillernd wie jene der Kirmes ist, aber nie die Freude erwecken kann, die man selbst staunend vor den Buden empfunden hat.