Profilbild von missmesmerized

missmesmerized

Lesejury Star
offline

missmesmerized ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit missmesmerized über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 23.12.2021

Tina Frennstedt - COLD CASE - Das gebrannte Kind

COLD CASE - Das gebrannte Kind
0

Tess Hjalmarsson hat eigentlich den Fall Jenny im Auge, in dem es scheinbar neue Erkenntnisse von ihren deutschen Kollegen gibt. Doch eine Serie von Bränden, bei denen auch Todesopfer zu beklagen sind, ...

Tess Hjalmarsson hat eigentlich den Fall Jenny im Auge, in dem es scheinbar neue Erkenntnisse von ihren deutschen Kollegen gibt. Doch eine Serie von Bränden, bei denen auch Todesopfer zu beklagen sind, führt wieder einmal dazu, dass ihr Cold Case Team sich mit aktuellen Fällen beschäftigen muss und ihre eigentliche Aufgabe liegenbleibt. In diesem Fall jedoch scheint es Parallelen zu geben zu einer früheren Serie, in der Tess ebenfalls ermittelte und einem anderen, bislang ungelösten Fall einer jungen Mutter, die nachts in ihrem Schlafzimmer umkam, jedoch schon tot war, bevor das Feuer ausbrach. Wie immer geht Tess an ihre Grenzen, doch dieses Mal wird sie persönlich gefordert, denn bald zeigt sich, dass sie selbst ein potentielles Ziel des Täters sein könnte.

Zum dritten Mal bereits schickt die Kriminalreporterin Tina Frennstedt ihr südschwedisches Cold Case Team auf Mördersuche. „Das gebrannte Kind“ verbindet ebenfalls aktuelle Fälle mit ungelösten Morden, die seit Jahrzehnten auf Aufklärung und Ruhe für die Hinterbliebenen warten. Brisant dieses Mal: die Kommissarin ist unmittelbar involviert und kann keine emotionale Distanz wahren, was ihr den Blick für die Gefahr versperrt.

Die bisherigen Bände der Reihe haben mich dadurch überzeugt, dass bei den Figuren auf gängige Klischees verzichtet wurde und man den Eindruck gewinnt, real existierende Menschen sind am Werk, denen man auch auf der Straße begegnen könnte. Auch wenn Zeitdruck herrscht, können sie Alltagssorgen nicht ganz ausblenden, diese überlagern jedoch die Krimihandlung nicht, sondern ergänzen diese glaubwürdig. Sie sind keine Superhelden, sondern arbeiten professionell und beharrlich, wobei es auch mal menschlich wird und Fehler nicht ausgeschlossen sind.

Der Fall benötigt einige Zeit, bis das Ermittlerteam auf die richtige Spur kommt. Den deutschen Titel finde ich dabei aus Spannungsgesichtspunkten leider nicht ganz glücklich, das schwedische Original „Skärseld“, Fegefeuer, passt viel besser, auch wenn mir die biblischen Bezüge etwas zu unmotiviert erschienen. Insgesamt ein routinierter, ruhiger Krimi, der spannend ist, jedoch nicht nervenzerreißend und vor allem ohne unnötig brutale Gewaltdarstellung auskommt.

Veröffentlicht am 22.12.2021

Ruth Ware - Das Chalet

Das Chalet
0

Danny und Erin warten in dem französischen Luxus-Chalet auf die nächste Gruppe von Gästen: ein britisches Start-up, das dort die Neuausrichtung der Firma diskutieren und gleichzeitig entspannen will. Doch ...

Danny und Erin warten in dem französischen Luxus-Chalet auf die nächste Gruppe von Gästen: ein britisches Start-up, das dort die Neuausrichtung der Firma diskutieren und gleichzeitig entspannen will. Doch schon bei der Ankunft wird deutlich, dass es große Spannungen gibt und die Gruppe in zwei Lager zerfällt, die sich zwischen den beiden Gründern und Mehrheitseigentümern Topher und Eva aufspalten. Nur Liz scheint irgendwie nirgendwo dazuzugehören, es ist auch nicht klar, weshalb die ehemalige Mitarbeiterin überhaupt zu dem Trip mitgekommen ist. Die ohnehin angespannte Stimmung wird herausgefordert als erst Eva von einem Ski-Ausflug nicht zurückkommt und dann eine Lawine das Chalet von der Außenwelt abschließt. Doch statt zusammenzuhalten und sich gemeinsam der Situation zu stellen, ereignen sich mysteriöse Todesfälle, die nur eins bedeuten können: unter den Anwesenden ist ein Mörder.

Wie gewohnt routiniert erzählt Ruth Ware auch ihren neuesten Thriller und erfüllt mit diesem genau die Erwartungen, die ich hatte: Die Story beginnt harmlos und entwickelt sich dann langsam zu einem spannenden Katz-und-Maus-Spiel, bei dem man keiner Figur trauen kann, denn alle haben ihre kleinen und großen Geheimnisse. Der Kreis der Verdächtigen ist überschaubar, aber es ist nicht nur die Frage, wer da ein perfides Spiel treibt, die einem das Buch nicht mehr weglegen lässt, sondern noch viel mehr jene nach dem Warum.

Die Abgeschiedenheit des Chalets hoch in den Alpen bietet die perfekte Kulisse für den Thriller, die junge hippe Gruppe des Start-Ups erfüllt zunächst auch alle Klischees, die die Sympathien herausfordern. Es scheint als sei das im Raum stehende Übernahmeangebot das Moment, das sie auseinanderdividiert, bald jedoch wird deutlich, dass noch viel mehr dahintersteckt und dass das Beziehungsgeflecht komplexer ist als vermutet. Als Mordmotiv würden zig Millionen aus dem Deal ja allemal ausreichen, aber das wäre hier bei weitem zu kurz gedacht.

Die Handlung wird im Wechsel aus zwei Perspektiven erzählt, die zunächst verwundern. Zum einen von Erin, die als Mitarbeiterin des Chalets Außenseiterin der Gruppe ist und diese mit einem gewissen Abstand betrachten und analysieren kann und der man aufgrund ihrer zuvorkommende und hilfsbereiten Art auch gerne glaubt. Bis ihre Figur Fragen aufwirft, viele Fragen, große Fragen. Nicht minder sieht dies bei der zweiten ich-Erzählerin Liz aus, deren Anwesenheit ebenfalls verwundert und die ein natürlicher Störkörper zu sein scheint. Sie passt in keiner Weise zu den anderen, aber hätte sie wirklich ein Motiv, ihnen was Böses zu wollen?

Die Autorin hat ihren Stil gefunden, der mir immer wieder gefällt und mich bestens unterhält. Wenn man mehrere ihrer Romane gelesen hat, weiß man worauf man sich einlässt und was einem erwartet, auch „Das Chalet“ ist diesbezüglich keine Überraschung, was ich allerdings keineswegs negativ sehen würde.

Veröffentlicht am 15.12.2021

Anne Nørdby - Eis. Kalt. Tot.

Eis. Kalt. Tot.
0

Eine Leiche wird in Kopenhagen aus dem Wasser gezogen. Der Kopf fehlt und auch ansonsten ist der Mann schrecklich zugerichtet. Kommissarin Kirsten Vinther stürzt sich mit Feuereifer auf den Fall, ihren ...

Eine Leiche wird in Kopenhagen aus dem Wasser gezogen. Der Kopf fehlt und auch ansonsten ist der Mann schrecklich zugerichtet. Kommissarin Kirsten Vinther stürzt sich mit Feuereifer auf den Fall, ihren neuen Kollegen Jesper Bæk beäugt sie dabei mit Vorsicht, er wirkt unnahbar und sie kann nicht herausfinden, weshalb er aus der Provinz in die Hauptstadt versetzt wurde. Unterstützt werden sie von der Super-Recognizerin Marit Rauch Iversen und bald merken sie, dass sie auch jede Hilfe gebrauchen können, denn sie haben es mit einem bestialischen Serientäter zu tun, der seine Opfer präpariert und ausstellt. Seine zweifelhaften Kunstwerke entlehnt er dabei der Grönländischen Sagenwelt, Marits Heimat, weshalb sie auch schnell die Verbindung herstellen kann. Doch was will er ihnen damit sagen? Und was verbindet die Opfer, von denen immer mehr auftauchen?

Unter dem Pseudonym Anne Nørdby veröffentlicht Anette Strohmeyer ihre Skandinavien Thriller. „Eis.Kalt.Tot.“ ist der Auftakt zu einer neuen Reihe um Marit Rauch Iversen und ihre speziellen Fähigkeit der Gesichtserkennung. Diese steht jedoch nicht ganz so sehr im Vordergrund des ersten Bandes wie die Mythen der autonomen dänischen Insel. Diese sind Ausgangspunkt und Schlüssel für das Ermittlerteam, um dem Täter auf die Schliche zu kommen. Doch der Weg dorthin ist weit und ausgesprochen spannend.

Die Leichen werden als sogenannte Tupilait inszeniert, groteske spirituelle Mischwesen, halb Mensch halb Tier. Wegen ihrer unsichtbaren Mächte und Fähigkeiten sind sie sehr gefürchtet, in Kopenhagen stoßen die seltsamen Gebilde aus menschlichen und Tierkörper eher ab. Viel erfährt man nebenbei über den Glauben der Grönländer, der ihnen das Leben in der kargen Einöde ermöglicht hat, da die Sagen immer auch Warnungen waren, die letztlich ihrem Schutz dienten. Marit mag schon lange in Europa leben und rational denken, ganz lösen kann sie sich jedoch von den alten Geschichten nicht und sie verlässt sich immer auch auf ihre Intuition, die sie mehr als einmal zurecht warnt.

Das Ermittlerduo Kirsten und Jesper ist recht konträr aufgebaut, was zu einigen Spannungen führt, aber so auch die menschlichen Unzulänglichkeiten der beiden durchscheinen und sie authentisch wirken lässt. Der Fall ist komplex und eröffnet erst nach und nach durch akribische Polizeiarbeit sein ganzes Ausmaß. Es sind keine Zufälle, sondern Beharrlichkeit und konsequentes Spurenverfolgen, dass sie letztlich auf die richtige Spur führt.

Ein überzeugender und fesselnder Thriller, der perfekt in den Winter passt mit dem kalten und abstoßenden Klima, in dem die Handlung angesiedelt ist. Interessante Figuren, die Lust auf mehr Fälle machen.

Veröffentlicht am 09.12.2021

Arianna Farinelli - Aufbrüche

Aufbrüche
0

Bruna, Professorin für Globalisation Studies in New York, ist erschüttert, als sie mit ansehen muss, wie ihre amerikanische Wahlheimat 2016 ins Chaos taumelt und der unsäglich und ungenannte Immobilienhai ...

Bruna, Professorin für Globalisation Studies in New York, ist erschüttert, als sie mit ansehen muss, wie ihre amerikanische Wahlheimat 2016 ins Chaos taumelt und der unsäglich und ungenannte Immobilienhai zum Präsident gewählt wird. Sie kennt als Expertin die Strukturen von Hass, weiß, wie Menschen reagieren, wenn sie unzufrieden sind mit ihren Regierungen und welche Folgen das haben kann, droht das nun auch den USA? Doch nicht nur die politische Lage ist prekär, auch ihr Familienleben liegt in Trümmern: seit einigen Wochen schon hat sie eine Affäre mit Yunus, einem ihrer Studenten. Nun steht die Polizei in ihrem Büro und fragt nach dessen Verbleib, denn es scheint, als hätte sich der junge Mann radikalisiert und dem IS angeschlossen. Dass sie von ihm schwanger ist, macht die Lage mit ihrem erzkonservativen Mann und den beiden Kindern nicht leichter.

Arianna Farinelli ist selbst, genauso wie ihre Protagonistin, italienischer Abstammung und lehrt Politikwissenschaften in New York. „Aufbrüche“ ist ihr vielbeachtetes Debüt, das im Originaltitel „Gotico Americano“ auf ein Bild von Grant Wood anspielt („American Gothic“), einem Nationalheiligtum, das den amerikanischen Pioniergeist und das ländliche Leben preist. Genau jene ländliche Bevölkerung war es auch, die mit ihrem rückwärtsgewandten Blick, den das Bild illustriert, den politischen Erdrutsch verursachte. Die politische Ebene wird durch jene der Familie gespiegelt, in der die beiden Ehepartner ebenfalls auseinandertriften: Tom aus konservativer Familie mit ebensolchen Ansichten, der den progressiven Ansichten seiner Frau kaum mehr folgen kann.

Der Roman wird in vielen Rückblenden erzählt und kommt immer wieder in die Gegenwart, die sich bereits in einem desaströsen Zustand befindet, zurück. Dabei wechseln sich die großen Blickwinkel der weltpolitischen Lage und ihrer wissenschaftlichen Analyse zunächst mit den Disruptionen im Nukleus der Familie ab. Besonders interessant hier, wie differenziert es der Autorin gelingt, die Situation der italienischen Einwanderer, die je nach Einwanderungszeitpunkt gänzlich unterschiedlich in die amerikanische Gesellschaft aufgenommen wurden, mit zu integrieren. Bruna bleibt formal genauso ein „Alien“ wie sie sich Toms Familie immer fremd fühlt.

Einen Nebenkriegsschauplatz ist die Situation ihres Sohnes, der schon als kleines Kind lieber mit Puppen spielt und Kleider tragen will als den gesellschaftlichen Vorstellungen eines Jungen zu entsprechen und mit den anderen wilde Spiele zu verfolgen. Mario benötigt zunächst keine Bezeichnung für das, was er ist oder wie er sich fühlt, nur wäre er lieber eigentlich Maria als Mario - dass er damit für seinen Vater und dessen Familie Enttäuschung darstellt, ist keine Frage. Der Großvater hat auch keine Hemmungen, den noch kleinen Jungen übel abzuqualifizieren. Mit einer unsichtbaren Freundin und seiner cleveren und mental starken Schwester jedoch kann er seinen Platz finden.

Ein vielschichtiger Roman, der gleich mehrere große Themen anreißt, alles zentriert um eine interessante und ebenso vielschichtige Protagonistin, deren Leben an einem Scheidepunkt steht, bei dem nicht klar ist, welcher Weg für sie am Ende wartet.

Veröffentlicht am 02.12.2021

Édouard Louis - Die Freiheit einer Frau

Die Freiheit einer Frau
0

Der junge französische Autor Édouard Louis setzt die Erzählung seiner Familie fort. Nachdem er in „En finir avec Eddy Belleguele“ (dt. „Das Ende von Eddy“) seine eigene Geschichte erzählte, in „Histoire ...

Der junge französische Autor Édouard Louis setzt die Erzählung seiner Familie fort. Nachdem er in „En finir avec Eddy Belleguele“ (dt. „Das Ende von Eddy“) seine eigene Geschichte erzählte, in „Histoire de la violence“ (dt. „Im Herzen der Gewalt“) eine nahezu unerträgliche Gewalteskapade ausführte, näherte er sich in „Wer hat meinen Vater umgebracht“ seinem Vater. Jetzt ist seine Mutter, die auch das Cover ziert, in „Die Freiheit einer Frau“ im Fokus. Genau jenes Bild, das er zufällig entdeckte, war auch der Auslöser für das Buch, das einmal mehr in seiner ganz eigenen literarischen Form zwischen Erzählung, Memoiren und Biografie verfasst wurde.

„Sie war gedemütigt, aber sie hatte keine andere Wahl, oder sie dachte, sie hätte keine, die Grenze dazwischen ist schwer zu bestimmen, (...)“

Moniques Leben gerät früh schon auf die schiefe Bahn. Während der Ausbildung wird sie als Teenager schwanger, bekommt bald schon das zweite Kind. Sie verlässt den Vater der Kinder für einen anderen Mann, der jedoch ebenso gewalttätig und unterdrückend ist. Mit ihm folgen weitere Kinder, darunter auch Édouard. Ihr bleibt das Leben als Hausfrau und Mutter auf dem nordfranzösischen Dorf. Dass sie einmal eine lebenslustige Frau mit Träumen war, davon ist nichts mehr zu spüren. Stoisch erträgt sie das Schicksal, das ihr scheinbar zugewiesen wurde. Sie braucht Jahrzehnte, um sich zu erinnern, dass sie schon einmal geflüchtet ist und dass sie sie diese Möglichkeit wieder hätte.

„Sie war sich ganz sicher, dass sie ein anderes Leben verdiente, dass es dieses Leben irgendwo gab, abstrakt gesehen, in einer virtuellen Welt, so gut wie in Reichweite, und dass ihr Leben in der wirklichen Welt eigentlich wegen eines Versehens so aussah wie es war.“

Was die Erzählungen Édouard Louis‘ auszeichnet, ist die gnadenlose Beschreibung einer unschönen Realität. Er kommt aus einem prekären Milieu, das von Gewalt und Hoffnungslosigkeit geprägt ist und eröffnet mit seinen Büchern einen Blick in diese Welt, vor der man lieber die Augen verschließen möchte. Ihm selbst ist nicht nur der soziale Aufstieg geglückt, er kann mit dem Abstand von Zeit und Raum auch das reflektieren, was er als Kind und Jugendlicher erlebt und gesehen hat und schreibt dies nieder.

Auch wenn die schon bekannte endlose Spirale, die sich von Generation zu Generation wiederholt - geboren in Gewalt und Armut, den Ausweg nicht finden, den Weg der Eltern reproduzieren, selbst gewalttätig werden und mit prekären Jobs gerade so überleben – auch hier geschildert wird, erlaubt der Blick auf die Mutter doch auch einen Funken von Hoffnung. Und Versöhnung, denn der Sohn ist älter und reifer, erkennt seine eigenen Fehler gegenüber der Mutter, seine Fehleinschätzungen, die blinden Flecken, die er in jungen Jahren nicht sehen oder richtig deuten konnte. Somit wird der Bericht auf eine Reflektion über das eigene Denken und das Eingeständnis von selbst ausgeübter Gewalt, die in seinem Fall eher psychologisch denn physisch war.

Eine Hommage an eine letztlich starke Frau, keine schöne Lebensgeschichte, aber eine aus dem echten Leben, das nun einmal nicht immer rosarot ist.