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Veröffentlicht am 31.10.2023

Die echte Pandemie – auch menschengemacht

Ein Fluss so rot und schwarz
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Die Ausgangssituation in diesem Roman fand ich sehr spannend: Sieben Menschen auf einem ferngesteuerten Militärboot, alle ohne Gedächtnis. Und ebenso ohne Möglichkeiten, selbstbestimmt einzugreifen. Drei ...

Die Ausgangssituation in diesem Roman fand ich sehr spannend: Sieben Menschen auf einem ferngesteuerten Militärboot, alle ohne Gedächtnis. Und ebenso ohne Möglichkeiten, selbstbestimmt einzugreifen. Drei Männer und drei Frauen bleiben übrig, als einer sich erschießt. Irgendwie war es mir schon klar, dass dies eine „Zehn-kleine-Negerlein-Geschichte“ werden würde. Und das wurde es auch. Mehr möchte ich aber an dieser Stelle nicht verraten.

Diese sechs übriggebliebenen Menschen misstrauen einander zutiefst und sie haben alle Narben auf dem Kopf von einer kürzlich erfolgten Operation, denn die Einschnitte sind zwar verheilt, aber relativ frisch. Jeder hat auch eine Namenstätowierung auf dem rechten Unterarm. Alle Namen sind Schriftstellernamen, drei weibliche: Dickinson, Plath & Rhys. Und drei männliche: Pynchon, Huxley & Golding. Huxley ist hier die Hauptfigur und anhand seiner Fähigkeiten muss er wohl Polizist o. Ä. gewesen sein. Des Selbstmörders Tätowierung war Conrad.

Sie alle sind auf einer Bootsreise, die in die Themse mündet. Und je näher sie an London kommen, je schwieriger wird die Lage und es gibt Verluste. Alles ist ständig in einen roten, undurchdringlichen Nebel gehüllt. Dazu ertönen grauenvolle Schreie aus der Ferne, kommen aber langsam näher. Eine Flucht ist unmöglich, denn das beigefügte Schlauchboot taugt dafür nicht und ist auch nicht schnell. Die Situation wird immer bedrohlicher. Stumpfe Befehle, emotionslos, ohne Erklärungen, kommen via Satellitentelefon und nach und nach erfahren die Reisenden zwar mehr über ihre erzwungene Mission, aber nie die ganze Wahrheit.

Kleines Nachdenken über die o. g. Schriftstellernamen zwischendurch: Ich muss gestehen, dass mir der Name Rhys gar nichts sagte, so habe ich mir jetzt von Jean Rhys ihr berühmtestes Buch bestellt: „Die weite Sargassosee“.

Viele Textstellen, die ich mir angemarkert habe, kann ich hier nicht wiedergeben, ohne zu viel zu verraten, aber drei sollen erwähnt werden: S. 182: „Sagen wir mal, du bist eine außerirdische Zivilisation und stößt auf einen hübschen blaugrünen Planeten, den du kolonisieren willst. Das Problem ist, dass er von ein paar Milliarden vernunftbegabter Affen bewohnt ist. Oder befallen, wie man’s nimmt. Nicht nur würden die ziemlich sauer reagieren, wenn du hier aufkreuzt, sondern die vergiften den Planeten auch mit allem möglichen chemischen Zeugs. Vielleicht war es für die Außerirdischen so, wie wir eine Zimmerpflanze mit Insektenspray einsprühen.“ (Huxley an Rhys.)

Seite 247: „Immerhin haben wir eine richtig abgefuckte Welt geschaffen, in der sie gedeihen können. (Mit „sie“ sind hier die Psychopathen, Soziopathen und die selbstsüchtigen Gestörten gemeint.) Eine Welt, in der wir uns von gierigen Lügnern regieren lassen, die sich ständig in die eigene Tasche wirtschaften.“ (Rhys an Huxley)

Seite 251: „Wir sind die Anomalie. Eine Spezies, die so erfolgreich ist, dass sie ihre Umwelt verschlingt und damit ihren eigenen Untergang sichert. Was jetzt geschieht, ist lediglich ein notwendiges Korrektiv.“ (Plath an Rhys und Huxley)

Wie so oft, wenn Menschen, die bunt zusammengewürfelt sind, an einem Ort quasi zusammengepfercht werden, gibt es Sympathien und Antipathien. Das kommt auch gut rüber, vor allem in den Dialogen. Bei der Beschreibung der äußeren Merkmale der „gesunden“ Menschen müssen wir allerdings Abstriche machen.

Fazit: Der Roman ist hochspannend und ein echter Pageturner. Wer Dystopien mit blutigem Gemetzel und fragwürdigem Ende gut ertragen kann, der wird hier kreativ bedient. 3,5 Sterne runde ich auf 4 Sterne auf.

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Veröffentlicht am 29.10.2023

Bedient das Narrativ

Die Privilegierten
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Da ich den Roman der Longlist 2023, der später in die Shortlist kam, „Muna“ gelesen hatte, wollte ich auch ganz bewusst einen Roman lesen, der in diesem Jahr nicht nominiert wurde. Und das war dann eben ...

Da ich den Roman der Longlist 2023, der später in die Shortlist kam, „Muna“ gelesen hatte, wollte ich auch ganz bewusst einen Roman lesen, der in diesem Jahr nicht nominiert wurde. Und das war dann eben Thomas von Steinaeckers „Die Privilegierten“ mit 623 Seiten.

Der Roman beginnt mit dem Schulalter des Protagonisten und Ich-Erzählers Bastian Klecka und endet weit in der Zukunft, etwa im Jahr 2039. Er umspannt also ungefähr sechzig Jahre. Die Geschichte hat herausragende Momente, besonders bei den Tiergeschichten: drei Mal Katze, einmal Wolf. Dazu kommt Bastians Verzweiflung im Alter, die so berührend und nachvollziehbar beschrieben ist, dass man nicht nur mitfühlt, sondern sogar Angst bekommt vor dem möglichen eigenen Erleben solcher Zustände. Respekt!

Eine lebenslange Freundschaft verbindet die drei Klassenkameraden: Bastian, Ilie Popescu und Madita. Sie gründen den „Klub der Katze“. Auch wenn die Berufe, Lebenswege und späteren Wohnorte dieser drei Freunde so unterschiedlich sind, wie sie nur sein können, halten sie immer Kontakt, mal mehr, mal weniger, aber immer.

Bastians Eltern sterben früh bei einem Unfall und der Großvater zieht ihn auf. Wir lesen von seiner Schul- und Studentenzeit, bis zur Heirat und Geburt des Sohnes Samy und weit darüber hinaus. Über Berufs- und Wohnortwechsel, alles sehr ausführlich und streckenweise auch recht langatmig.

Das Kennen- und Liebenlernen der späteren Ehefrau Brigitte bleibt für mich sehr blass. Die gegenseitigen Abmachungen und Vereinbarungen, z. B. wer aufs Kind aufpasst, wirken roboterhaft und unglaubwürdig. Schublade auf, Absprache raus, Schublade wieder zu. Sogar die Streitigkeiten der Eheleute wirken seltsam unecht. Die Stärken des Autors liegen eindeutig woanders. Siehe oben.

Kommen wir zur unerquicklichen Bedienung des gerade gängigen Narrativs, dafür gibt es hier unzählige Beispiele. Mit dem jetzigen Wissen: Ich hätte dies Buch nicht lesen mögen. Das können leider auch die oben erwähnten herausragenden Momente nicht wettmachen. S. 187: „Ich hielt immer zu den Demokraten, den Schwarzen, Homosexuellen und anderen benachteiligten Minderheiten. […] Ich war zwar weiß, deutsch, wohlhabend, männlich, mittelalt. Doch am Ende des Tages gehörte ich zu den Guten.“

Und ja, es geht noch weiter, S. 242: „Madita hatte sich zunächst geweigert, nach Ibiza mit dem Flugzeug zu reisen. Erst nach einer nächtlichen Konferenzschaltung, in deren Verlauf Ilie und ich ihr versprechen mussten, ein dreistelliges CO2-Zertifikat zu kaufen, hatte sie sich breitschlagen lassen.“

S. 245: „[…] wir diskutierten sehr angeregt-produktiv über Trump und die sehr offensichtlich unvermeidbare rechte Apokalypse.“ Es folgen die „Unwörter“, die man nicht mehr sagen darf, wie z. B. „Zigeuner“, S. 268.

S. 284: „Der Sender vertrat eine extrem liberale Gesinnung.“ Und dann, Achtung aufgepasst: „Wäre bekannt geworden, dass jemand aus den Redaktionen AfD wählt oder eine abweichende Gesinnung vertrat, wäre er früher oder später gegangen worden.“ Das ist nun wirklich extrem liberal. Satire aus.

Und nein, es hört noch nicht auf, S. 298: „Die Kirchensteuer konnte man ohnehin sinnvoller verwenden, für NGO-Projekte in Afrika oder CO2-Zertifikate zum Beispiel.“ Oder auf Seite 376: „was sie oder er sich für die Zukunft in Deutschland erhoffe, mehr Toleranz gegenüber Geflüchteten, mehr Diversity, mehr alternative Energien, mehr Kreativität, mehr Farbe, ja, als ein winziges Mädchen piepste, sie wünsche sich mehr Frauenpower in Führungspositionen, […] und mir war … auf einmal nicht mehr bange um die Zukunft.“

Selten gibt es auch Gegenstimmen, natürlich von jemandem, der abwegige Thesen verbreitet, so meint es Bastian, der so Empathie bewusste Erzähler. Also der abwegige Thesen-Verbreiter stellt auf Seite 471 die historische Einmaligkeit des Holocausts angesichts des Genozids im osmanischen Reich und in Ruanda in Frage. – Also ja, auch andere Völker als die Deutschen haben sich des Genozids schuldig gemacht, sogar viel neueren Datums. Quelle Spiegel, diverse Artikel: „In nur hundert Tagen töteten radikale Hutu 1994 in Ruanda rund 800.000 Tutsi und gemäßigte Hutu, die sich weigerten mitzumachen.“ Natürlich hat derlei normalerweise in einer Rezension nichts zu suchen, aber ich möchte den zahlreichen o. g. Zitaten etwas entgegensetzen. Und politisiert wird ja in diesem Roman reichlich.

Fazit: Wer auch nur ansatzweise mit der derzeitigen Politik im Lande nicht einverstanden ist, der sollte diesen Roman lieber nicht lesen. Denn zu viel Meinungsmache verdirbt das Lesevergnügen. **

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Veröffentlicht am 05.10.2023

Ein Irrer und eine Hörige

Muna oder Die Hälfte des Lebens -
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„Muna“ hatte ich schon lange auf meiner Wunschliste, bevor ich wusste, dass dieser Roman auf der Longlist (und später auf der Shortlist) des Deutschen Bücherpreises 2023 landen würde. Einfach, weil Terézia ...

„Muna“ hatte ich schon lange auf meiner Wunschliste, bevor ich wusste, dass dieser Roman auf der Longlist (und später auf der Shortlist) des Deutschen Bücherpreises 2023 landen würde. Einfach, weil Terézia Mora unvergleichlich ist und ich ihren Roman „Das Ungeheuer“ so umwerfend gut fand, dass ich gerne wieder etwas Neues von ihr lesen wollte. Dafür erhielt sie verdienterweise den Deutschen Buchpreis 2013.

Irgendwie sind ja gerade toxische Beziehungen (nicht nur) in der Literatur angesagt und dieses Thema ist immer wieder neu und auch immer wieder alt, bzw. unvergänglich.

Hier also bewegen wir uns im Germanisten-Milieu, was mich ohnehin schon reizt. Muna, die Protagonistin, und Ich-Erzählerin wächst in einer fiktiven DDR-Stadt auf, der Vater ist lange verschwunden und die Mutter ist Schauspielerin am Theater. Bei einem Volontariats-Job lernt Muna Magnus kennen, der ist Fotograf und Französischlehrer. Und ja, er sieht umwerfend gut aus, hat aber m. E. ansonsten so gut wie keine Qualitäten. Eher im Gegenteil. Muna und Magnus landen im Bett, danach verschwindet er spurlos. Er will sich halt nicht festlegen, dauerhaft nicht festlegen.

Alle anderen Männer sind nicht gut genug für Muna. Zwar gibt es Einige und Interesse haben viele, denn Muna ist blond und attraktiv, aber gegen das imaginäre Dauervorbild Magnus können die anderen Männer nicht anstinken. Keiner von ihnen.

Bis irgendwann, bei einem total bescheuerten Freilichttheater Magnus von Muna erblickt wird und mehr oder weniger widerstrebend lässt er sich auf eine Beziehung ein. Jedenfalls auf das, was er unter Beziehung versteht. Es findet sogar eine gemeinsame Reise statt, aber immer geht alle Initiative von Muna aus. Er behandelt sie schlecht, aber das hält sie nicht davon ab, ständig bei ihm und um ihn sein zu wollen. So schade um diese intelligente und schöne Frau, die so die Hälfte ihres Lebens buchstäblich verschwendet.

"Der Schlüssel ist, so zu tun, als wärst du eine von ihm unabhängige Frau mit einem eigenen Leben, einer eigenen Laufbahn. Unkompliziert sein und gut aussehen. Nicht zu viel Quatsch erzählen, nicht klagen und nicht zu viel fragen." (Seite 254)

Wie man sieht, betreibt Muna hier Selbstverleugnung ohne Grenzen, erreicht aber nie, was sie erreichen möchte: Dass sie für Magnus genauso wichtig ist, wie er für sie. TM seziert ihre Protagonisten so tiefgründig, als lägen sie bereits in der Pathologie.

Es gibt sehr, sehr viel Neues zu entdecken in diesem Buch, es wimmelt nur so vor Weisheiten, bekannten und unbekannten, und ist (trotzdem oder gerade deswegen) so spannend und so bravourös und ungewöhnlich geschrieben, dass man immer dranbleibt.

Zum Glück hält sich der Ausflug ins „Gendern plus Kultur“ extrem kurz und schmerzlos auf den Seiten 300 und 301. „Das Ziel, ebenso vielen Frauen wie Männern wie anderen Geschlechtern einen Platz in Spitzenpositionen der Wissenschaft und der Wissenschaftspolitik zu gewähren, …“ (S. 301) Ansonsten wäre es wirklich höchst bedauerlich gewesen, wenn dieser grandiose Roman dadurch zum woken Geschreibsel verkommen wäre.

Fazit: 441 Seiten, die man nicht verpassen sollte und auch, wenn ich die anderen Bücher der Shortlist 2023 nicht kenne, wünsche ich Terézia Mora den erneuten Gewinn des Deutschen Buchpreises von ganzem Herzen.

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Veröffentlicht am 22.09.2023

In der ersten Hälfte ein Kinderbuch

Die Tochter des Doktor Moreau
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Was hatte ich erwartet von Silvia Moreno-Garcias „Die Tochter des Doktor Moreau“? Grusel, Mystery, vielleicht sogar Horror? Gibt es eigentlich eine Gattung die Insel-Horror heißt? Oder wenigstens Halbinsel-Horror? ...

Was hatte ich erwartet von Silvia Moreno-Garcias „Die Tochter des Doktor Moreau“? Grusel, Mystery, vielleicht sogar Horror? Gibt es eigentlich eine Gattung die Insel-Horror heißt? Oder wenigstens Halbinsel-Horror? 😉

Was ich aber fand, das war ein Kinderbuch, jedenfalls in der ersten Hälfte. Nun gut, da werden die Personen vorgestellt, der Landsitz, die Gegend. Alles sehr gemächlich, quasi wie im Zeitlupentempo. Keine Höhen, keine Tiefen, es plätschert so dahin. Dann hatte ich Abbruch im Sinn. Nee, dachte ich, dafür ist dir deine Zeit zu schade. Und wow, doch plötzlich und ganz unerwartet wurde es spannend. Hoch spannend. Als hätten zwei verschiedene Autoren hier mit denselben Personen gespielt. Stress kommt auf und die bis dahin recht hölzern agierenden Protagonisten erwachen zum Leben. Etwa so, wie die künstlich erschaffenen Kreaturen, hier hauptsächlich „Hybriden“ genannt. Aber die können alle sprechen, sehen nur komisch aus und leiden an ihren Deformationen. Jedenfalls fast alle, die Titelheldin sieht natürlich nicht komisch aus, die ist schön, wunderschön. Wäre ja auch sonst langweilig – oder?

Also, wie gesagt, ab der zweiten Hälfte nimmt das Geschehen deutlich an Fahrt auf. Und der Kampf ums Überleben beginnt und was nun zu tun sei, ob der ganzen Bedrohungen, die da kommen. Auf den Schöpfer der Kreaturen kann frau (hier Carlota genannt) sich auch nicht mehr verlassen, der bekommt einen Hirnschlag, als man ihn am Nötigsten gebraucht hätte. Und liegt fortan im Bett.

Es gibt also einen Kreator, Doktor Moreau, der halb-menschliche, halb-tierische Lebewesen in seinem Labor erschafft. Das sollen mal die Sklaven für die Landarbeit werden, was sie aber gar nicht leisten können, denn sie leiden, siehe oben. Und sind teilweise nur sehr eingeschränkt einsatzfähig. Carlota, Doktor Moreaus Tochter, erzählt in jedem zweiten Kapitel den Fortgang der Geschichte aus ihrer Sicht. Das jeweils andere Kapitel ist für Montgomery reserviert, dem britischen Gutsverwalter. Der hat eher so Kommissars-Eigenschaften im Stil unserer Zeit: Er säuft und ist ständig deprimiert.

So geht es immer im Wechsel. Das Ganze ereignet sich im Dschungel der Halbinsel Yucatán im Mexiko des 19. Jahrhunderts. Dann gibt es noch einen Financier, Hernando Lizalde, und der hat einen Sohn, Eduardo, und der Sohn hat einen Cousin, Isidro. Zwischendurch werden noch – der Exotik zuliebe – ein paar spanische Brocken in den Roman geworfen.

Fazit: Irgendwie ein bisschen wie „Lederstrumpf“, aber in der ersten Hälfte weit weniger spannend. Wer hier Grusel & Mystery erwartet, der hat mit Zitronen gehandelt, aber die wachsen hier ja wohl auch. Ganz nett, aber sehr unambitioniert. Lieber die Zeit in Wells’ Original investieren.

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Veröffentlicht am 02.09.2023

Die Ausnahmeerfahrung des anderen Zustands

Prophet
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Prophet. Ich muss zugeben, als ich das Buch gewonnen hatte, war ich nur mäßig begeistert, von dem Kick abgesehen natürlich. Als es dann ankam, war ich überrascht, wie dick es ist. 524 Seiten stark. Das ...

Prophet. Ich muss zugeben, als ich das Buch gewonnen hatte, war ich nur mäßig begeistert, von dem Kick abgesehen natürlich. Als es dann ankam, war ich überrascht, wie dick es ist. 524 Seiten stark. Das Cover ist ein einmaliger Hingucker: Flokati im Sonnenlicht und „Prophet“, wie auch immer man es aussprechen möchte, ist ein ungewöhnlicher Titel.

Überaus skeptisch war ich, weil die beiden männlichen Protagonisten, Rao und Adam, mit ihrer „unentrinnbaren Anziehungskraft“ ja vermutlich schwul waren und das ist ja gerade schwer angesagt – leider! Mich törnt das normalerweise eher ab.

Tja, und dann fing ich an zu lesen und war überrascht, positiv überrascht: „Er […] starrt missmutig auf das Foto mit lächelnden Pissern, die neben einer dunkelgrauen Drohne stehen. Ein neuer Vertrag des Verteidigungsministeriums mit der Firma L-D aus Sunnyvale, Kalifornien, dem aktuellen Bettgenossen des Pentagons. Geld machen mit dem Tod von Menschen. Alles beim Alten.“ (S. 65, die Rede war von Rao, der eine alte Ausgabe von „The Stars and Stripes“ aufgeschlagen hatte.) Was für Töne, ich war begeistert. Kalifornien scheint ja momentan die Zone zu sein, um die man besser den gewaltigsten Bogen macht.

Hier haben sich zwei Autorinnen zusammengetan, Helen Macdonald aus England und Sin Blaché aus Irland, und einen stylischen Roman geschrieben, der surrealistisch kreativ ist und völlig aus der Reihe fällt. Sehr schräg, sehr fantasievoll und mit ganz neuen Ideen. Respekt.

Sunil Rao, der Inder mit Inselbegabung, erkennt Lügen und Unwahrheiten, wenn er sie hört oder sieht. Sein durchtrainierter, wehrhafter Bodyguard Colonel Adam Rubenstein ist mit allen Wassern gewaschen und stets mehrfach bewaffnet. Diese beiden Agenten haben es nun mit der neuen, sich selbst entwickelnden Biowaffe „Prophet“ zu tun. Prophet ist unheimlich, potenziert sich selbständig in ungeahnte Sphären und ist mit sich selbst global und unentwegt verändernd vernetzt. Und schon längst haben die Entwickler ihre eigene Biowaffe, die die Welt nach ihrem Willen formen sollte, nicht mehr im Griff. Wir fühlen uns hier an künstliche Intelligenz erinnert, mit ihren Gefahren und zusätzlich an all die Gifte, die (nicht nur) in den letzten drei Jahren über uns ausgeschüttet wurden. Siehe: „Der messerscharfe Blick auf unsere Gegenwart“ vom Klappentext.

Rao und Adam sollen also die Welt retten, mit dem ständigen Risiko der Selbstvernichtung. Und natürlich den fiesen obersten Boss der Oberbosse aus Prophets Klauen befreien, der uns an – du weißt schon an wen – erinnert. Nur heißt er hier anders. Unsere beiden Agenten begegnen im Verlauf der Geschichte so einigem Personal, sprich späteren Kollateralschäden: Medizinern, Militär, Privatpersonen und anderen Agenten. Und alle sind in Gefahr, etliche sterben äußerst ungewöhnliche Tode, das bringt Prophet so mit sich.

Veronica, die System-Ärztin, spricht zu Rao auf Seite 431: „Betrachten Sie die Finanzkrise als ersten, notwendigen Schritt einer großen, globalen Umstrukturierung. Wir befreien uns von den Fesseln der Reglementierung, um eine Welt zu schaffen, in der endliche Ressourcen mit besonderer Effizienz von den wenigen außergewöhnlichen Personen gehandhabt werden, die die Vision, den Mut und die Fähigkeit besitzen, alles zu überblicken. Und Prophet ist unser Mittel, unser erlesener Silberfaden, der die Welt nach unserem Willen formt.“ Rao, Zuhörer wider Willen, findet dieses „Selbstgespräch“ absolut schwammig, unsinnig und garantiert völkermörderisch.

Fazit: Mit jeder neuen Seite war ich faszinierter vom Ideenreichtum und gratuliere den beiden Autorinnen zu ihrem gelungenen, surrealistischen Thriller und vergebe verdiente 5 Sterne, denn mörderisch spannend war’s außerdem.

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