Profilbild von ninchenpinchen

ninchenpinchen

Lesejury Profi
offline

ninchenpinchen ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit ninchenpinchen über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 12.06.2024

Pendeln zwischen den Welten

Das dritte Königreich
0

Die Morgenstern-Reihe ist keine einfache Reihe, aber das soll sie ja auch nicht sein. Hier nun der dritte Band, der auch die Drei im Titel trägt. Ich überlege gerade, welche der genannten Personen die ...

Die Morgenstern-Reihe ist keine einfache Reihe, aber das soll sie ja auch nicht sein. Hier nun der dritte Band, der auch die Drei im Titel trägt. Ich überlege gerade, welche der genannten Personen die unheimlichste ist. Sicher Tove. Sie überschreitet die Grenzen am deutlichsten. Aber was ist schon normal? Und was bedeutet überhaupt der Morgenstern? Wie es wohl wäre, nur für – sagen wir mal – eine Woche in Herrn Knausgårds Haut zu stecken? Kennt er solche Figuren, wie die, die in seinen Büchern vorkommen? Oder denkt er sich die aus? Möglicherweise ist aber beides gleich schlimm.

Die Kapitelüberschriften tragen die Namen der jeweiligen Ich-Erzähler. Es beginnt und endet mit Tove, der jungen Mutter mit bipolarer Störung. Sie hat drei Kinder. Nannte man diese Störung nicht früher Schizophrenie? Aber das Wort ist wohl aus der Mode gekommen. Toves Befindlichkeiten sind jedenfalls schwer zu ertragen für ihre Umgebung. Und es gibt offensichtlich immer noch keine Medikamente, die anderes können, als dämpfen oder abschalten. (Zeitweilig.) Tove erschafft Kunst aus dem Negativen. Ihr eröffnen sich Portale, real oder irreal, das sei dahingestellt. Und sie begibt sich in Gefahr und stellt aber auch selbst eine Gefahr dar. –

Zwei andere Protagonistinnen gibt es noch: Line und Kathrine. Line, eine junge Frau, die sich mutig, aber auch naiv, auf höchst gefährliches Terrain wagt. Und Kathrine, eine gestandene Pfarrerin, die ihren Glauben an Gott verliert. Sie bleibt als Einzige seltsam blass und ihre wahren Beweggründe erschließen sich dem Leser nicht wirklich.

Ob ich Lust hätte, mal in eine der Personen zu schlüpfen, nur für kurze Zeit? Eher nicht. Denn die meisten Männerfiguren hier erscheinen mir auch nicht erstrebenswert. Gaute: Der krankhaft eifersüchtige Lehrer, Ehemann von Kathrine? Nein, danke.

Oder Helge zu verkörpern? Den Architekten, der seit drei Jahren „leer“ ist und dem nichts mehr einfällt? Ebenfalls nein danke.

Jarle, der Gedankenforscher kümmert sich um einen vegetativen Patienten. Aber auch in diese Haut möchte ich eher nicht, denn hat er nicht seine beste Zeit bereits hinter sich?

Der Polizist Geir erlebt den Wahnsinn pur und verzweifelt an seinem Auftrag. Lesen ja, gerne und ist spannend, aber drinstecken – nein!

Bleibt noch Syvert, der Bestattungsunternehmer. Er scheint unter dem Morgenstern arbeitslos zu werden. Das ginge schon! Oh ja, kaufen wir uns ein Segelboot, das schönste auf der Welt und leben dort, wo es sich ausfahren lässt. Aber, wenn niemand mehr stirbt, müsste man eben beruflich umdisponieren.

Beim Recherchieren habe ich noch Folgendes gefunden: Als »Morgenstern« wird in der Regel der Planet Venus bezeichnet. Weil er kurz vor Tagesanbruch zu sehen ist, steht er als Sinnbild für das kommende Licht Gottes, das die Dunkelheit dieser Welt überwindet. In Offenbarung 22,16 bezeichnet sich der gekreuzigte und erhöhte Christus als Morgenstern. (Quelle: Deutsche Bibel-Gesellschaft)

Fazit: Die wahre Größe dieses Romanes erschließt sich erst im Nachgang, bei der Wahl der zu vergebenden Sterne. Ich runde dreieinhalb auf vier auf. Ich bleibe auf jeden Fall dabei und ersehne den nächsten literarischen Morgenstern, wenn mir auch die beiden ersten mystischeren Teile etwas besser gefielen.




  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 11.05.2024

Gibt es ein artenübergreifendes Bewusstsein?

Die Stimme der Kraken
0

Dieser Roman von Ray Nayler hat es in sich – in jeder Beziehung. Und noch dazu sieht er wunderschön aus. Das Cover fühlt sich an, als wäre es aus Stoff, ist themengemäß wunderbar gestaltet und dann der ...

Dieser Roman von Ray Nayler hat es in sich – in jeder Beziehung. Und noch dazu sieht er wunderschön aus. Das Cover fühlt sich an, als wäre es aus Stoff, ist themengemäß wunderbar gestaltet und dann der Schnitt in lila, bemerkenswert. So ein feines Buch hält man selten in der Hand.

Hier die Unterteilung der Abschnitte: 1 Qualia, 2 Umwelt, 3 Semiosphäre, 4 Autopoiesis, Epilog & Dank.

Allen – meist erfreulich kurzen Kapiteln – sind „Buchausschnitte“ vorangestellt, entweder von der Protagonistin Dr. Ha Nguyen aus ihrem Buch: „Wie Meere denken“ oder auch von der später zugereisten Wissenschaftlerin Dr. Arnkatla Mínervudóttir-Chan: „Die Mauern des Geistes“. Ergibt viel Stoff zum Nachdenken.

Am Anfang wird Dr. Ha Nguyen mit einem selbstfliegenden Hexacopter im strömenden Regen nachts auf der Insel Con Dao abgesetzt. Ein ehemaliges Militärfahrzeug – auch selbstfahrend – bringt sie dann zu einem Lost-Place-Hotel, wo sie von einer merkwürdigen Person empfangen wird. Gruselig. Ich dachte zuerst, das sei der angekündigte Android. Die merkwürdige Person ist aber eine Söldnerin namens Altantsetseg. (Wie kann man nur eine Protagonistin so nennen?)

Die Mission dieser drei Personen: Dr. Ha, Altantsetseg und Android Evrim ändert sich von Zeit zu Zeit und sie wissen nicht, woran sie sind. Später kommt noch die Wissenschaftlerin Dr. Arnkatla Mínervudóttir-Chan zu ihnen auf die Insel. Sie sollen die Kraken im Schutzgebiet erforschen und erleben Seltsames. Frau Chan hatte einmal geäußert: „Das Großartige und das Schreckliche an der Menschheit ist: Wir werden immer das tun, wozu wir in der Lage sind.“ (S. 50)

Dieser Roman birgt viel Stoff zum Nachdenken: selbstfahrende und selbstfliegende Fortbewegungsmittel aller Art, KI überall, wo man hinschaut, in unterschiedlichsten Entwicklungsstufen. Der Android Evrim, der für einen Roboter erstaunliche Gefühle und Einsichten entwickelt. Menschen auf dem Festland, die auf offener Straße geraubt werden und zwangsweise zu Sklaven auf Fangschiffen mutieren. Kraken, die durch Symbole mit Menschen kommunizieren und umgekehrt.

Wozu sind wir in der Lage? Können wir uns in Wesen hineindenken, die im Meer leben? Können sie sich in uns hineindenken, die wir an Land leben? Kann die KI sich in uns hineindenken und wir uns in sie? Was ist überhaupt Bewusstsein? Und was können wir rekonstruieren?

„Wir hingegen können jetzt das gesamte Schloss rekonstruieren, bis ins kleinste Detail: nicht nur jede Masche der Wandteppiche darin, sondern selbst jeden einzelnen Gedanken, der den Menschen, die dort gelebt haben und gestorben sind, jemals in den Sinn gekommen sind.“ (Sagt Frau Chan in ihrem o. g. „Buch“. S. 36)

Es wird viel philosophiert, über das Zusammenleben „zufällig“ zusammengewürfelter Personen, die vorher wenig oder nichts miteinander zu tun hatten. Über die Grenzen der Wissenschaft und ob es diese Grenzen überhaupt gibt und wann die rote Linie überschritten wird und ob das sein darf? Und was sich alles ändert, wenn das Ganze (die Mission, bzw. die Aufgabenstellung) eine völlig andere Überschrift bekommt, bzw. nichts von dem mehr stimmt, wovon man ursprünglich ausgegangen ist? Was ist unser Leben dann noch wert? Und könnten wir auf dieses Inselleben verzichten, wenn wir wüssten, was uns hier erwartet? Gesetzt den Fall, wir versetzen uns hinein in unsere Protagonisten.

Es kommen auch noch diverse andere Personen zu Wort – außerhalb dieser vom Technologiekonzern DIANIMA beschlagnahmten Insel. Da rätselt der Leser, was diese Personen mit „unserer“ Mission zu tun haben. Aber am Ende schließt sich der Kreis – mehr oder weniger.

Fazit: Haben wir es hier mit einem Ökothriller zu tun? Ja, es passieren Morde, Gruseliges und viel Unvorhergesehenes, aber hauptsächlich lässt uns dieser Roman sehr, sehr nachdenklich zurück. Also: Wer das Ungewöhnliche liebt, der ist hier genau richtig.


  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 04.04.2024

Gesammelte Widerwärtigkeiten

Lil
0

Selten habe ich ein Buch in der Hand gehabt, wo das Cover so super zum Inhalt passt. Und schön gestaltet ist es auch. Das kommt ja m. E. neuerdings nicht so oft vor.

Zum Inhalt: Wir springen hier von ...

Selten habe ich ein Buch in der Hand gehabt, wo das Cover so super zum Inhalt passt. Und schön gestaltet ist es auch. Das kommt ja m. E. neuerdings nicht so oft vor.

Zum Inhalt: Wir springen hier von etwa 1880 bis in die Gegenwart – mehr oder weniger. Ein Fundstück im Bauschutt bringt Sarah, die Nachfahrin der Protagonistin, zum Erzählen. Dabei tauscht sie sich oft – etwas gewöhnungsbedürftig zu Anfang – mit ihrer Dobermann-Hündin Miss Brontë aus.

Aber hauptsächlich geht es hier um Sarahs Großmutter, mit vierfachem „Ur-“ vorneweg (S. 12). Diese geschäftlich sehr, sehr erfolgreiche Vorfahrin heißt Lilian Cutting und wir erfahren von den gesammelten Widerwärtigkeiten, die ihr im Verlauf dieser Geschichte angetan werden. Und wie sie es schafft, das Ungemach elegant wieder abzuwenden.

Als Lils geliebter Ehemann Chev stirbt – und möglicherweise wurde er von seinem eigenen Sohn Robert vergiftet – ist Lil auf sich allein gestellt. Mehr oder weniger jedenfalls, denn Freunde hat sie nicht viele, von Jay und Colby Sandberg einmal abgesehen. Feinde hat sie dafür umso mehr und ihr größter Feind ist ihr eigener Sohn Robert. Denn Robert ist gierig und unfähig dazu und will an Lils Vermögen und dafür ist er zu jeder Schandtat fähig, sogar zum Mord. Aber zunächst wird Lil bei einem freiwilligen Besuch in der Nervenheilsanstalt Hops Island überrumpelt und gleich dabehalten. Der tonangebende Psychiater Matthew Fairwell nimmt sich unglaubliche Freiheiten heraus, um Lil zu demütigen und mit Morphium zu destabilisieren. (Ab S. 64) Lils schriftlicher Hilferuf per Brief an ihre Freundin Colby Sandberg fällt der Fairwellschen Zensur zum Opfer und landet irgendwo im Keller von Hops Island. Dort wird er dann etwa 140 Jahre später aufgefunden und gelangt in Sarahs Hände.

Die Dekadenz der reichen und mächtigen Belmorals und Vandermeers im historischen New York wird hier allerfeinst beschrieben. Aber eben auch, wie souverän Lil es schafft ihren eigenen Sohn zu besiegen und schon allein rhetorisch regelrecht platt zu walzen.

Es geistern noch andere Figuren durchs historische NY: So etwa Cora, Roberts Ehefrau, deren gemeinsame Tochter Libby und ein Asiate, Patenkind Zhu Cheng. Wichtige Rollen spielen noch Emma Golding und der Richter Stamford Brook.

Wir können vermuten, dass der Verfasser der Flach-Erde-Theorie zugeneigt ist und auch vom Gendern nicht viel hält. „Noch hielt sich ein kitschgelber Mond stur an dem Wirrwarr der Telegraphendrähte fest, einfach, weil er es satthatte, schon wieder unter die Erdscheibe gedrängelt zu werden.“ (S. 120)

Oder im privaten Zuhause überlegt der Richter mit seiner Frau, wie er mit der Anwältin Colby Sandberg umgehen soll: „Soll ich sie wie eine Frau behandeln oder wie einen Mann? Oder ist in letzter Zeit etwas Drittes hinzugekommen?“ (S. 125)

Fazit: Am Anfang hatte ich Schwierigkeiten in den Roman herein zu finden, durch den etwas überambitionierten Schreibstil. Fand dann aber zunehmend mehr Vergnügen daran. Wer gerne einmal Ungewöhnliches liest, der ist hier – fern vom Einheitsbrei – genau richtig. 4 Sterne.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 18.03.2024

Wer anderen eine Grube gräbt …

Der ehrliche Finder
0

Was ich zunächst nicht wusste: Dieses schmale Büchlein von Lize Spit wurde in den Niederlanden in der boekenweek (Buchwoche) als Buchgeschenk zu einem gekauften Buch dazu gegeben. De boekenweek dauert ...

Was ich zunächst nicht wusste: Dieses schmale Büchlein von Lize Spit wurde in den Niederlanden in der boekenweek (Buchwoche) als Buchgeschenk zu einem gekauften Buch dazu gegeben. De boekenweek dauert neun Tage und findet jedes Jahr im März statt. Beim Kauf von mindestens 15 Euro an niederländischsprachiger Lektüre erhält man also ein speziell für diese boekenweek geschriebenes Buch. Diese Ehre, dieses Buchgeschenk schreiben zu dürfen, wurde also in diesem Jahr Lize Spit zuteil.

Beim Blauen Sofa in der Bertelsmann Repräsentanz in Berlin, Anfang März 2024, durfte ich nun diese bezaubernde und charmante Autorin persönlich kennenlernen und sie hat mir dieses Buch signiert. Mit einer ganz speziellen Widmung, die ich übersetzen muss. Ich verstehe das so, dass ich den Mansch vom Papri-Club unbedingt probieren soll. Und manchmal auch „Ja“ zu Dingen sagen soll, wo ich eigentlich „Nein“ sagen würde. Mal sehen …

Im „ehrlichen Finder“ geht es um die Freundschaft zweier Jungen und auch um das (schändliche) Ausnutzen des anderen unter der Vorspiegelung der Freundschaft. Und es zeigt sich auch, dass bei verschiedenen Nationalitäten eben unterschiedliche Werte zählen. Der kluge und einsame Jimmy kümmert sich aufopferungsvoll um den Migranten Tristan, indem er ihm nicht nur die Sprache beizubringen versucht, sondern auch die üblichen Verhaltensweisen. Jimmy gefällt auch die riesengroße Familie von Tristan. Denn er selbst hat keine Geschwister und sein Vater verschwand spurlos, nachdem er das halbe Dorf finanziell betrogen hatte. Kein guter Start für den Sohn in der Schule.

Was nun weiterhin geschieht, kann hier nicht verraten werden, nur so viel: Jimmys Gaben weiß man nicht zu schätzen und was man von ihm verlangt, ist viel, viel zu viel.

Lize Spit hat es verstanden, den wenigen Seiten Leben einzuhauchen und eine Geschichte aufzubauen, die es in sich hat. Und ja, manchmal braucht es viel Mut, um ein Feigling zu sein. (Frei zitiert von S. 109.) Warum das Buch aber diesen Titel trägt, das hat sich mir leider nicht erschlossen.

Das Cover bezieht sich auf Jimmys Flipposammlung. S. 32: „Von der Time-Serie und den Pop-up-Monstern hatte er noch am wenigsten. Diese beiden, die aus insgesamt lediglich vierzig Stück bestanden, erwischte man am schwersten.“ Deshalb also sind vierzig Kreise auf dem Cover. Und die Flippos findet man in Kartoffelchips-Tüten und natürlich soll damit der Verkauf der Ware angekurbelt werden. Gab es zuvor offensichtlich schon in Korea, Griechenland, England etc. aber in Deutschland (leider) nicht. Aus den Chips kann man einen wunderbaren Mansch herstellen, den Jimmy und Tristan im Geheimen genießen. In ihrem Papri-Club.

Fazit: Ich habe alle drei Bücher dieser fantastischen jungen Autorin gelesen und kann sie nur wärmstens empfehlen. Ihre Themen sind sehr unterschiedlich, nichts ist aufgewärmt und sie weiß genau, wovon sie schreibt und fühlt sich extrem in ihre Figuren ein. ****

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 10.03.2024

Einer, den niemand will

Demon Copperhead
0

Für diesen 832-Seiten-Roman mit dem schrecklichen Cover habe ich knappe vier Wochen gebraucht. Ich habe mich jeden einzelnen Tag so aufs Lesen gefreut, das war bei den beiden Vorgängern in 2024 leider ...

Für diesen 832-Seiten-Roman mit dem schrecklichen Cover habe ich knappe vier Wochen gebraucht. Ich habe mich jeden einzelnen Tag so aufs Lesen gefreut, das war bei den beiden Vorgängern in 2024 leider nicht so. Trotz der Fülle hat also jeder Satz seine Daseinsberechtigung. Und ich muss Frau Kingsolver ein dickes Kompliment aussprechen, dass sie als ältere Autorin so zielgenau die Sprache der Jugend getroffen hat. Und das über diese vielen Seiten bravourös durchgehalten hat. Das Kompliment gebührt natürlich auch dem Übersetzer Dirk van Gunsteren.

Demon Copperhead, die Titelfigur und unser Ich-Erzähler, hat es schwer in dem Drogensumpf zu überleben, der schon seine Ankunft in dieser Welt überschattet. Sein Vater starb schon vor seiner Geburt und der Stiefvater, Stoner, ist brutal, machtgeil und weiß mit Demon nichts Besseres anzufangen, als ihn pausenlos aufs Übelste zu schikanieren. Demons Mom ist eigentlich nicht so übel, aber leider drogenabhängig und unfähig, sich gegenüber Stoner durchzusetzen. Als sie jung an einer Überdosis Oxy stirbt, verschwindet Stoner fluchtartig aus dem Trailer und aus Demons Leben.

Die Nachbarn: S. 19: „Und da sitzen sie jetzt auf ihren zusammengeflickten Veranden, eine einzige große Sippe, und über dem Ur-Trailer weht die ausgefranste Flagge. Eine Nation unter Schrott.“

Nach dem Tod der Mutter wird Demon pausenlos rumgereicht. Die Pflegefamilien, die ihn widerstrebend aufnehmen, nutzen ihn nur aus, nehmen aber das Pflegegeld gern entgegen. Oder lassen ihn arbeiten und kassieren den kompletten Lohn. Und Demon hat immer, immer Hunger. Auch der umschwärmte Held seiner Jugend, Fast Forward, nutzt alle seine Fans und Bewunderer letztlich nur aus.

Echte Freunde gibt es wenige: Maggot, der im Nachbartrailer wohnt. Tommy, den Demon auf einer Farm kennenlernt, auf der auch das Idol seiner Jugend, Fast Forward, wohnt. Und: nicht zu vergessen Angus, die Unvergleichliche. Bleiben noch die wenigen Erwachsenen, die es gut mit Demon meinen, die Peggots und Tante June. Später noch der Coach der Footballmannschaft, bei dem Demon dann zuletzt unterkommt. Die seltsame Großmutter väterlicherseits, Betsy Woodall, tut zwar Gutes, aber spät und nur zu ihren Konditionen.

Was zeichnet nun Demon aus, dass er die ganze Hölle übersteht? Jedenfalls bis er zum Coach kommt und dort vom Waisenkind zum Footballstar avanciert. Er ist hart im Nehmen, sehr hart und ja, er kann super-gut Comics zeichnen. Damit verdient er später sogar Geld. – S. 432: „Jeder warnt einen vor schlechten Einflüssen, aber das, was einen zu Fall bringt, trägt man schon in sich.“

S. 713: „Es ist ein Wunder, dass man das Leben mit nichts beginnt und mit nichts beendet und dazwischen trotzdem so viel verliert.“ So trauert Demon um seine große Liebe Dori, eine weitere Drogentote in den Appalachen.

Zur Kritik gegen das System in USA: Tante June hatte ja einen Zwischenlover, der Pharma-Vertreter ist. Und da wird ganz deutlich erklärt, dass jeder Arzt, wenn er nur genug verschreibt, dann eine Golfreise machen darf oder alternativ nach Hawaii reisen kann. Für tutti, versteht sich. (siehe S. 372)

Mehr heftige Kritik gegen die Nation unter Schrott, bzw. für die sog. Hunde Amerikas gibt es jede Menge. Z. B. S. 576: „Wir waren mit Fernsehserien aufgewachsen, in denen Eltern Jobs hatten und die Kinder ihre Großstadtträume durch die Wahl ihrer Garderobe und mit Strömen von Geld auslebten.“

Befeuern solche Fernsehsendungen die armen Leute mit einer Wut und möchten sie, dass der Rest der Welt leiden soll, weil sie selbst so leiden? Siehe S. 754: „Man fragt sich, wie viel von dem, was auf der Welt passiert, von dieser Wut befeuert wird.“ – Demon dagegen ist erstaunlich unwütig. Selbst, als er in seiner größten Not aufs Übelste bestohlen wird, reagiert er nicht aggressiv.

Fazit: Hier ist Barbara Kingsolver ein großer Wurf gelungen, zu Recht mit Preisen überhäuft. Warum allerdings ausgerechnet ein Mainstream-Preis (der Pulitzer) an so ein amerika-kritisches Werk vergeben wird, ist mir schleierhaft. – Einfach eintauchen und sich diesem unwiderstehlichen Sog hingeben. Bin mal gespannt, ob mir dieses Jahr noch so ein super Highlight vergönnt sein wird. Vielleicht der Pulitzer-Zwilling? *****

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere