Profilbild von readiculousme

readiculousme

Lesejury Profi
offline

readiculousme ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit readiculousme über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 26.04.2024

Spannende Idee, nicht optimal ausgeführt

Die Kinder sind Könige
0

Kimmy und Sammy sind ganz normale 6- und 8jährige Geschwister, eigentlich, denn normal ist nichts im Leben der Kinder. Die beiden sind immer auf Sendung, jeder Moment der Freude oder Trauer wird mit der ...

Kimmy und Sammy sind ganz normale 6- und 8jährige Geschwister, eigentlich, denn normal ist nichts im Leben der Kinder. Die beiden sind immer auf Sendung, jeder Moment der Freude oder Trauer wird mit der Community von „Happy Récré“ geteilt, mit „den Lieben da draußen“. Ihre Mutter Mélanie träumt von der großen Berühmtheit seit sie als junges Mädchen gebannt die erste Staffel „Big Brother“ verfolgte, die Geburt der Realiyshows. Man soll sich an sie erinnern und das wird man auch, denn ihr YouTube-Kanal ist so erfolgreich wie kein anderer, ihre Familie vielleicht die Bekannteste in ganz Frankreich. In einer Welt, in der sie Königin sein wollte, macht sie ihre Kinder zu Königen. Doch dann verschwindet die kleine Kimmy plötzlich beim Spielen und während der größte Alptraum über der Familie hereinbricht, sieht die Ermittlerin Clara sich mit gänzlich neuen Herausforderungen konfrontiert. Denn wie findet man ein Kind, das die ganze Welt kennt, über das jeder alles zu wissen scheint?

Ich kannte bisher „Loyalitäten“ und „Dankbarkeiten“ von Delphine de Vigan und beide Bücher sind absolut großartig, sehr feinfühlig und authentisch. Dementsprechend hoch waren meine Erwartungen an „Die Kinder sind Könige“, welche leider nicht erfüllt wurden. Die Autorin nimmt sich eines hochaktuellen Themas an und verheddert sich dann für mein Gefühl in der Ausführung, verliert den Fokus und damit auch den Spannungsbogen. Was als Kriminalgeschichte mit hohem psychologischen Potenzial beginnt (die sich aber leider halbherzig in Luft auflöst), endet in einer recht abstrusen und stark überzeichneten Familientragödie. Die Autorin beschreibt hier eine Frau, die für den Fame bereit ist alles zu opfern und selbst dann nicht aufhört, als sie im Begriff ist, ihre Kinder zu verlieren. Ich hätte mir hier mehr Fingerspitzengefühl und Raffinesse gewünscht, eine weniger klischeehafte, plakative Plot- und Figurenentwicklung. Die Autorin überlässt nichts den Lesenden, aus jeder Zeile trieft das Grauen und die Gefahren der virtuellen Welt, fast mutet es wie eine Karikatur an. Vielleicht ist genau diese Überspitzung ob der Brisanz des Themas gewollt, mich hat sie leider auf Distanz gehalten.

Aus dem Französischen übersetzt von Doris Heinemann.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 26.04.2024

Auftakt einer opulent angelegten, autobiographisch gefärbten Familiensaga

Das Land der Anderen
0

Mathilde und Amine lernen sich Ende des zweiten Weltkriegs in Frankreich kennen und verlieben sich sofort ineinander. Er ist Marokkaner, ein Kriegsheimkehrer, zurück von einer Front, die nicht die seine ...

Mathilde und Amine lernen sich Ende des zweiten Weltkriegs in Frankreich kennen und verlieben sich sofort ineinander. Er ist Marokkaner, ein Kriegsheimkehrer, zurück von einer Front, die nicht die seine ist. Sie ist jung und ungezähmt, gerade erst 20, verrückt nach dem Leben und einem leidenschaftlichen Abenteuer. Frisch verheiratet ziehen sie nach Meknès in Französisch-Marokko, wo Amine ein ödes Stück Land besitzt, das er als Landwirt eher schlecht als recht zu bestellen weiß, wo er versucht, endlich Fuß zu fassen für seine junge Familie, aus dem Schatten der Franzosen zu treten, dieses Fremdheitsgefühl auf der eigenen Erde abzuschütteln. Doch Mathildes naiver Traum der wilden, exotischen Liebe zerschellt bald an der harten Realität, das entbehrungsreiche Leben in dem von Unruhen gebeutelten Land holt sie auf den Boden der Tatsachen zurück. Sie liebt ihren Mann, ihre beiden Kinder, doch die Sehnsucht nach ihren Wurzeln ist groß, nach dem Gefühl dazuzugehören, und so steht sie bald vor einer schwerwiegenden Entscheidung, die ihr alles abverlangen wird.

Leïla Slimanis „Das Land der Anderen“ ist der Auftakt einer opulent angelegten, autobiographisch gefärbten Familiensaga und beginnt zur Zeit der Unabhängigkeit Marokkos in den 50er-Jahren. Sprachgewaltig, wie ich sie bisher nicht erlebt habe, erzählt die Autorin eine Geschichte, die fest verknüpft ist mit ihrer eigenen, von der Zerrissenheit einer Familie in einem zerrissenen Land, von kolonialem Erbe und dem harten Zusammenprall unterschiedlicher Welten und Kulturen, Werte und Vorstellungen. Jede ihrer Figuren brennt innerlich, hat eine tiefe Seele, ist wahrhaftig und zutiefst authentisch, wenn auch nicht immer sympathisch. Das Buch polarisiert hier auf Instagram stark und das kann ich gut verstehen. Es ist keine moderne Geschichte, keine feministische Geschichte, keine bequeme Geschichte. Mathilde erträgt vieles, hält aus und durch. Mich hat diese Frau beeindruckt, ihr Wille, im Sinne der Familie zu handeln, die eigene Verwirklichung, die heute als oberstes Gut gilt, einer größeren Sache zu opfern. Mir erscheint das mitunter schwieriger, mutiger zu sein, als einfach zu gehen, und ringt mir großen Respekt ab.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 26.04.2024

Ein ruhiger, nachdenklich stimmender Roman

Nebenan
0

Wisst ihr eigentlich wirklich, wer bei euch nebenan wohnt? Ich nicht, obwohl uns seit Jahren gerade mal ein paar Meter Asphalt trennen, eine schmale Hecke, zwei dünne Mauern - ein kleines Universum. Auch ...

Wisst ihr eigentlich wirklich, wer bei euch nebenan wohnt? Ich nicht, obwohl uns seit Jahren gerade mal ein paar Meter Asphalt trennen, eine schmale Hecke, zwei dünne Mauern - ein kleines Universum. Auch Julia und Astrid wohnen nicht weit voneinander entfernt am Nord-Ostsee-Kanal, ihre Wege kreuzen sich hin und wieder, schieben sich aneinander vorbei wie die Containerschiffe zwischen den Häuserzeilen, fast berühren sie sich dabei. Eine Alteingesessene und eine Zugezogene begleiten wir in Kristine Bilkaus neuem Roman ein Stück, zwei Frauen an komplett unterschiedlichen Punkten ihres Lebens, die doch eines verbindet: die Sehnsucht nach Verbundenheit. Während Astrid einer alten Freundschaft nachhängt und sich gleichzeitig um ihre alte Tante sorgt, hat Julia eine Keramikwerkstatt eröffnet, und ist doch froh, wenn der Laden leer bleibt, das Geschäft übers Internet gut läuft. Darin surft sie stundenlang, tauscht sich mit Gleichgesinnten zum Thema unerfüllter Kinderwunsch aus, hofft und bangt im kollektiv. Überhaupt, die Nachbarschaft, das ist doch längst nicht mehr geographisch gedacht. Nebenan, das sind heute „The Darlings“ und „LinusundMette“, die ihre Kinder stolz auf Instagram präsentieren, deren Leben sich von jedem Punkt der Welt aus bis ins kleinste Detail verfolgen lassen, und die Julia besser zu kennen scheint als die Familie ein Haus weiter, die nach Weihnachten plötzlich verschwunden ist.

„Nebenan“ ist ein ruhiger, nachdenklich stimmender Roman, der kaum etwas wiegt und doch tief sinkt. Der die große Einsamkeit von heute einfängt, die Leere, die der digitale Voyeurismus in uns hinterlässt, und wichtige Fragen unserer Zeit anreißt. Wie können wir das Heimatgefühl, das Gemeinschaftsgefühl bewahren, angesichts der Schnellebigkeit, des langsamen Verschwindens von Orten, die sich wie Heimkommen anfühlen? Wie unseren Nächsten nahekommen, ohne ihnen zu nahe zu treten? Nominiert für den deutschen Buchpreis, sehr gerne empfohlen von mir, wenngleich die Geschichte mir aus höchst persönlichen Gründen nicht ganz so ans Herz gehen konnte wie ihr Vorgänger, „Eine Liebe, in Gedanken“.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 26.04.2024

Beeindruckende Geschichte mit beklemmend realem Hintergrund

Das Leuchten der Rentiere
0

Elsa ist gerade einmal 20 und schon so erschöpft, sie alle sind es: die Samen, ihr indigenes Volk, ganz oben am nördlichen Polarkreis. Müde all der grausamen Morde an ihren Rentieren, des Hasses, der ihnen ...

Elsa ist gerade einmal 20 und schon so erschöpft, sie alle sind es: die Samen, ihr indigenes Volk, ganz oben am nördlichen Polarkreis. Müde all der grausamen Morde an ihren Rentieren, des Hasses, der ihnen entgegenschlägt, und, was fast noch schlimmer ist, der kühlen Gleichgültigkeit der schwedischen Bevölkerung. Seit sie ein kleines Mädchen war, verfolgt Elsa das Bild des Mannes, der ihrem geliebten Renkalb Nástegallu das Leben genommen und ihr eigenes massiv bedroht hat. Wie eine Faust hält diese Warnung ihr Herz umklammert, das Wissen und ihr Schweigen darum lasten schwer auf der Seele der Heranwachsenden, die ihren Platz in dieser im Verschwinden begriffenen Welt erst noch finden muss. Viele Jugendliche ihres Volkes straucheln angesichts des Verlusts der altvertrauten Lebensweise, verlässlichen Rituale und eingetretenen Pfade; geraten auf Abwege, von denen manch einer nicht mehr zurückfindet. Doch Elsa ist stark und ehrgeizig, weiß, was sie will und was ihr vorbestimmt ist, welch seltene Gabe in ihr ruht - und sie ist bereit, den Kampf um ihr kulturelles Erbe und ihr Recht aufzunehmen.

Der Originaltitel von „Das Leuchten der Rentiere“ lautet „Stöld“, der Diebstahl, was in meinen Augen, wenn auch nicht so bildhaft, sehr viel treffender ist. Denn lediglich als einfacher Diebstahl wird die Tötung eines Rentiers eingestuft, als seien es Gegenstände und keine Lebewesen, als seien sie nicht Teil einer alten Kultur. Und gestohlen wird den Samen mit zunehmender Modernisierung und fehlender Akzeptanz auch alles, was ihnen wichtig ist, was ihre Existenz, ihr ganzes Sein bedeutet, ihren Stolz und ihre Würde ausmacht. Ann-Helen Laestadius’ Debütroman über ein Sámi-Mädchen mag fiktiv sein, basiert aber auf nur allzu realen Begebenheiten, hat mich fasziniert und begeistert und unglaublich wütend gemacht. Die einfühlsame Figurenzeichnung und ergreifenden, zwischenmenschlichen Töne eingebettet in diese atmosphärische Landschaft konnten mich komplett überzeugen - eine große Empfehlung von mir! Minikleiner Kritikpunkt ist die zum Teil etwas holprige Übersetzung von Dagmar Mißfeldt und Maike Barth, aber das ist Meckern auf hohem Niveau.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 26.04.2024

Trost in den kleinsten Dingen

Kummer aller Art
0

Mariana Lekys Bücher sind ganz besondere Herzschmeichler, das brauche ich keinem hier erklären, das wissen wir alle spätestens seit „Was man von hier aus sehen kann“ uns komplett aus den Socken gehauen ...

Mariana Lekys Bücher sind ganz besondere Herzschmeichler, das brauche ich keinem hier erklären, das wissen wir alle spätestens seit „Was man von hier aus sehen kann“ uns komplett aus den Socken gehauen hat und verschrobene alte Leute namens Selma und der Optiker zum Liebespaar Nr. 1 der Bücherszene mutierten. Was ich auch schon seit damals weiß (zum Glück!), manch einer von euch aber (leider!) noch nicht, ist, dass Mariana Leky selbst auch ein Mensch fürs Herz ist, eine Frau, die auch im echten Leben auf fast wundersame Weise zur richtigen Zeit die richtigen Töne trifft und die Welt für den Moment einfach ein bisschen schöner, leuchtender macht. Und das Verrückteste daran ist, dass es so ganz und gar normale Dinge sind, die sie sagt. Es sind weder Zaubersprüche noch balsamene Verse oder besonders philosophische Phrasen, nein, Frau Leky sitzt da und ist lustig und klug und das reicht schon aus, weil sie nun mal einfach sie ist. Bereits zweimal durfte ich die Autorin nun im Gespräch erleben und ich kann euch nur wärmstens empfehlen, die Chance zu ergreifen, sollte sie sich euch bieten.

„Kummer aller Art“ heißt es also, das neue Buch, das ausnahmsweise kein Roman ist, sondern die Sammlung ihrer literarischen Kolumnen für die Zeitschrift Psychologie Heute. Klingt für mich verdächtig nach dem Verpackungsaufdruck eines ominösen Medikaments, das Abhilfe gegen die unterschiedlichsten Leiden verspricht und doch im Grunde gar nichts tut - außer den Glauben an Besserung, an Heilung zu säen. Und tatsächlich ist es ziemlich genau das, was die Ich-Erzählerin dieser kleinen Anekdoten tut. Sie streift den Kummer der anderen Figuren im Vorbeigehen, begleitet sie am Rand des Weges, sitzt den Herzschmerz mit aus, bietet eine helfende Hand an, allerhöchstens, eher noch den kleinen Finger. Denn Trost ist oft genau das, Gesellschaft zu haben beim Traurigsein, sich nicht vom Leben ausgesperrt zu fühlen.

Lekys Geheimnis? Sie weiß es selber nicht. Ich aber weiß eines ganz genau - welches Buch ich in nächster Zeit oft verschenken und noch öfter empfehlen werde.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere