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Veröffentlicht am 26.04.2024

Trotz starken Beginns und guter Ideen leider nicht meins

Das Haus über dem Fjord
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Das hätte so gut werden können! Eine Familientragödie, ein altes, gut gehütetes Geheimnis, das langsam seine Fühler in die Gegenwart streckt und die Frage aufwirft, wie gut wir unsere Eltern eigentlich ...

Das hätte so gut werden können! Eine Familientragödie, ein altes, gut gehütetes Geheimnis, das langsam seine Fühler in die Gegenwart streckt und die Frage aufwirft, wie gut wir unsere Eltern eigentlich kennen, kennen können. Die berührende Geschichte einer Frau eingebettet in die raue Küstenlandschaft Norwegens mit ihren Mysterien, verborgenen Gefahren, und das Ganze aus dem großartigen Mare Verlag. Ganz ehrlich? „Das Haus über dem Fjord“ von Kristin Valla, übersetzt von Gabriele Haefs, versprach alles, was für mich einen starken Roman ausmacht und begann auch höchst vielversprechend. Die „süffige“ Sprache ließ mich sofort eintauchen und schnell entwickelte die Geschichte einen regelrechten Sog. Ich mochte dieses stattliche Haus am Fjord aus Elins Kindheit, das so viele Erinnerungen beherbergt und nun, nach dem Tod der Mutter, verkauft werden soll. Mochte die geheimnisvolle Stimmung, diesen kleinen Ort, in dem jeder jeden kennt oder zu kennen glaubt, das feine Gespür für Zwischenmenschliches. Das fühlte sich gewaltig nach einem Highlight an und ich konnte mich all den Lobeshymnen hier nur zu gerne anschließen. Doch im zweiten Drittel ging der Spannungsbogen rapide bergab, die Themen begannen mich zu langweilen, der Fokus verschob sich. Elin ist zurück in Oslo, nimmt ihr altes Leben als Modejournalistin mehr oder weniger wieder auf und sorry, aber es interessiert mich nicht die Bohne welchen neuen Blazer sie zu welchem Anlass trägt und zu welcher Modenschau sie als nächstes fährt. Auch das Verhalten der Figuren im Umgang miteinander war für mich nicht immer schlüssig, fühlte sich manchmal an, als hätte ich wichtige Sequenzen, irgendwo den Anschluss verpasst.

Das Ende war dann durchaus spannend zu lesen (überhaupt hat der Roman kriminalistische Züge), die Auflösung empfand ich jedoch als unglaubwürdig und arg konstruiert, die Themen als zu zahlreich, um wirklich in die Tiefe gehen zu können während gleichzeitig Banalitäten zu viel Raum einnehmen. Das war eine schnelle Lektüre - die erste Hälfte habe ich verschlungen, die zweite teilweise nur überflogen. Insgesamt trotz starken Beginns und guter Ideen leider nicht meins, schade!

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Ein wunderbarer historischer Roman

Die Schlange von Essex
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Die allgemeine Rezensiermüdigkeit hat mich auch befallen, deshalb hier eine (noch) etwas knappere, aber nicht weniger von Herzen kommende Empfehlung für die in meinen Augen perfekte Herbstlektüre. „Die ...

Die allgemeine Rezensiermüdigkeit hat mich auch befallen, deshalb hier eine (noch) etwas knappere, aber nicht weniger von Herzen kommende Empfehlung für die in meinen Augen perfekte Herbstlektüre. „Die Schlange von Essex“ von Sarah Perry, ausgezeichnet mit dem Britischen Buchpreis 2017 (und das absolut zu Recht!), vereint alles, was ich gerade brauchte und mir von dem Buch erhoffte, ich hab’s inhaliert und bin furchtbar traurig, dass es nun vorbei ist (was nach 500 Seiten etwas heißen will).

Lust auf die herrlich atmosphärische Stimmung der nebligen Salzmarsch am Blackwater, eine überaus gelungene Mischung aus Zeitgeschichte und durch und durch liebenswerten, leicht schrulligen Charakteren, feinem Humor und mystischen Elementen, und das alles in einer jedes Wort durchdringenden, bildgewaltigen Sprache, die der Geschichte Leben einhaucht? Voilà!

Perry feiert Freundschaft und Toleranz, die Liebe in all ihren unergründlichen Facetten, lässt Religion und Wissenschaft sich gnädig (wenn auch nicht ohne Argwohn) die Hand reichen und offenbart das Wesen der Menschen mit so viel Leidenschaft und Esprit, dass mir sprichwörtlich das Herz aufging. Das Setting und die Stimmung erinnerte mich stark an eines meiner absoluten Herzensbücher dieses Jahres, „Judith und Hamnet“ von Maggie O’Farrell, für dessen Fans ich hier eine besondere Empfehlung aussprechen möchte. Ihr werdet Cora und William ebenso lieben wie Agnes und William - hoch und heilig versprochen.

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Das Denkmal einer tüchtigen, einfachen Frau

Die Hebamme
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Heute Nacht wurde meine Nichte geboren und während des freudigen (Er)Wartens habe ich mich an die Geburten meiner eigenen Kinder erinnert, an diese einschneidenden Momente, in denen ich mich mir selbst ...

Heute Nacht wurde meine Nichte geboren und während des freudigen (Er)Wartens habe ich mich an die Geburten meiner eigenen Kinder erinnert, an diese einschneidenden Momente, in denen ich mich mir selbst so nah wie nie gefühlt habe, verletzlich, fast roh, dabei so stark und unangreifbar. Es erscheint mir jedes Mal aufs Neue wie ein großes Wunder, macht mich ehrfürchtig, zu erleben, wie wir Frauen Leben schaffen, wie zutiefst archaisch eine Geburt ist, was für eine unfassbare Naturgewalt. Wie schmal der Grat zwischen Leben und Tod sein kann, auch heute noch, trotz modernster Medizin und Technik, trotz unseres Gefühls, alles in der Hand zu haben und kontrollieren zu können, ist mir dabei sehr bewusst. Marta Kristine Andersdatter Nesje wusste das ganz genau. Sie war vor 200 Jahren eine der ersten Hebammen Norwegens, eine Pionierin, unbestreitbar, ausgestattet lediglich mit ein paar wenigen Utensilien, einer kurzen Ausbildung und ihrer Intuition - und einer gehörigen Portion Durchsetzungskraft. Edvard Hoem hat dem Leben seiner Ururgroßmutter mit „Die Hebamme“ einen literarischen Rahmen gegeben, dieser so einfachen wie eindrucksvollen Frau ein angemessenes Denkmal gesetzt. Nicht stattlich und prunkvoll, nein, bodenständig ist dieser Roman, besonnen und bedächtig, feinfühlig und klug. Denn es lohnt sich bisweilen zurückzuschauen, nicht nur nach vorne zu preschen, innezuhalten, zu lauschen, zu fühlen. Es steckt eine Weisheit in dem alten Wissen, eine Sicherheit im Handeln, die ich heute manchmal schmerzlich vermisse. Eine Ruhe in ehrlicher, tüchtiger Arbeit, dem einfachen Leben, die mich anrührt. Große Leseempfehlung!

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Eine Geschichte, die unter die Haut geht, von Macht und Autorität und des Missbrauch beidens

Lächeln
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„Deinem Lächeln kann ich einfach nicht widerstehen, Victor Forde.“

Victor ist Mitte 50 und lebt seit kurzem allein in Dublin; der Sohn ist aus dem Haus, die Liebesbeziehung im Eimer. Die Trennung von ...

„Deinem Lächeln kann ich einfach nicht widerstehen, Victor Forde.“

Victor ist Mitte 50 und lebt seit kurzem allein in Dublin; der Sohn ist aus dem Haus, die Liebesbeziehung im Eimer. Die Trennung von seiner Lebenspartnerin bedrückt ihn sehr, gleichzeitig versucht er, sein Leben auf die Reihe zu bekommen, endlich wieder etwas Sinnvolles zu schreiben, Bekanntschaften im Pub nebenan zu schließen, in dem er bald Stammgast ist. Hier begegnet er eines Abends auch Edward Fitzpatrick, Eddie, einem unangenehmen, leicht aufdringlichen Mann, der behauptet ein ehemaliger Schulkamerad Victors zu sein und auch Details aus der gemeinsamen Zeit bei den Christian Brothers nennen kann - diesem jedoch gänzlich unbekannt vorkommt. Victor beginnt die zufälligen Treffen mit Eddie und dessen Gesellschaft gleichermaßen zu fürchten wie herbeizusehnen, sehr ambivalente Gefühle löst die stark physische Präsenz des Mannes in ihm aus und bringt ihn dazu, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen, die Bilder von früher nach diesem Gesicht abzusuchen, Erinnerungen abzugleichen.

„Lächeln“ ist eine Geschichte, die unter die Haut geht, eine Geschichte von Macht und Autorität und des Missbrauch beidens, die nicht neu ist, und doch nicht oft genug erzählt werden kann. Roddy Doyle hat einen sehr eigenen, authentischen Erzählton, der auch in der starken Übersetzung von Sabine Längsfeld bestehen bleibt; etwas distanziert, fast lakonisch, ohne viel Aufhebens und Tamtam. Es ist kein lautes Buch, keine bildgewaltige Geschichte, wenn auch mit einem überraschenden Twist am Ende. Manches bleibt im Ungewissen und zwischen den Zeilen, verliert dadurch aber nicht an Eindringlichkeit, im Gegenteil. Er schwirrt mir auch nach Tagen noch im Kopf herum, dieser Mann, dessen Schmerz ein Kollektiver ist, dessen Geschichte stellvertretend für die Vieler steht.

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Über einen diffusen Verlust und dessen Auswirkungen

Das andere Mädchen
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„Sie erzählt, dass sie und ihr Mann vor mir eine andere Tochter gehabt hätten, die vor dem Krieg in Lillebonne an Diphtherie gestorben sei. […] Am Schluss sagt sie über dich, sie war viel lieber als die ...

„Sie erzählt, dass sie und ihr Mann vor mir eine andere Tochter gehabt hätten, die vor dem Krieg in Lillebonne an Diphtherie gestorben sei. […] Am Schluss sagt sie über dich, sie war viel lieber als die da. Die da, das bin ich.“ S.15

Dieser Schlüsselmoment ereignet sich im Sommer 1950, Annie ist zehn Jahre alt und wird Zeugin eines beiläufigen Gespräches zwischen ihrer Mutter und einer Bekannten, in dem diese Aussage fällt, die alles verändern und doch in die Sprachlosigkeit entgleiten und damit jeden direkten Vergleich, eine Ikonisierung der Verstorbenen verhindern wird. Dieses Geheimnis wird bis zum Tod der Eltern nie offiziell gelüftet, erst danach gibt es vereinzelt Gespräche mit Verwandten, ein paar Fotos; den Ansatz eines verschwommenen Bildes in Annies Kopf. Sie hat ihre Schwester ersetzt und das nicht einmal besonders gut. Ernaux schreibt über die große Schwester, von der sie fast nichts weiß, lange gar nichts wissen wollte, diesen Mythos einer Schwester, den sie bewusst auf Distanz hielt, und schreibt doch nicht über sie. Sie schreibt über sich selbst als Nachrückende, eine unsichtbare Lücke Ausfüllende, das ewig andere Mädchen. Nicht die trauernden Eltern, die diese meistens gut zu verbergen wussten, nicht die verstorbene Schwester, nein, sie selbst, Annie, ist im Fokus, ist die Leidtragende der Geschichte, und dieses Selbstverständnis, möglicherweise gewachsen aus dem ungeheuerlichen Urteil der Mutter, „sie war viel lieber als die da“, mutet bisweilen seltsam verzerrt an, offenbart sich in dieser Folgerung:

„Ich schreibe nicht, weil du gestorben bist. Du bist gestorben, damit ich schreibe, das ist ein großer Unterschied.“ S.33

„Das andere Mädchen“ thematisiert einen diffusen Verlust und dessen Auswirkungen, ist ein offener Brief und innerer Monolog, ein der Dringlichkeit am Erforschen der eigenen Wurzeln und Wunden entsprungener Essay, den ich gerne gelesen habe, wenngleich sich die große Begeisterung, die ich im Frühjahr bei der Lektüre von „Erinnerung eines Mädchens“ verspürt hatte, nicht gänzlich einzustellen vermochte. Aus dem Französischen von Sonja Finck.

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