Über einen diffusen Verlust und dessen Auswirkungen
„Sie erzählt, dass sie und ihr Mann vor mir eine andere Tochter gehabt hätten, die vor dem Krieg in Lillebonne an Diphtherie gestorben sei. […] Am Schluss sagt sie über dich, sie war viel lieber als die ...
„Sie erzählt, dass sie und ihr Mann vor mir eine andere Tochter gehabt hätten, die vor dem Krieg in Lillebonne an Diphtherie gestorben sei. […] Am Schluss sagt sie über dich, sie war viel lieber als die da. Die da, das bin ich.“ S.15
Dieser Schlüsselmoment ereignet sich im Sommer 1950, Annie ist zehn Jahre alt und wird Zeugin eines beiläufigen Gespräches zwischen ihrer Mutter und einer Bekannten, in dem diese Aussage fällt, die alles verändern und doch in die Sprachlosigkeit entgleiten und damit jeden direkten Vergleich, eine Ikonisierung der Verstorbenen verhindern wird. Dieses Geheimnis wird bis zum Tod der Eltern nie offiziell gelüftet, erst danach gibt es vereinzelt Gespräche mit Verwandten, ein paar Fotos; den Ansatz eines verschwommenen Bildes in Annies Kopf. Sie hat ihre Schwester ersetzt und das nicht einmal besonders gut. Ernaux schreibt über die große Schwester, von der sie fast nichts weiß, lange gar nichts wissen wollte, diesen Mythos einer Schwester, den sie bewusst auf Distanz hielt, und schreibt doch nicht über sie. Sie schreibt über sich selbst als Nachrückende, eine unsichtbare Lücke Ausfüllende, das ewig andere Mädchen. Nicht die trauernden Eltern, die diese meistens gut zu verbergen wussten, nicht die verstorbene Schwester, nein, sie selbst, Annie, ist im Fokus, ist die Leidtragende der Geschichte, und dieses Selbstverständnis, möglicherweise gewachsen aus dem ungeheuerlichen Urteil der Mutter, „sie war viel lieber als die da“, mutet bisweilen seltsam verzerrt an, offenbart sich in dieser Folgerung:
„Ich schreibe nicht, weil du gestorben bist. Du bist gestorben, damit ich schreibe, das ist ein großer Unterschied.“ S.33
„Das andere Mädchen“ thematisiert einen diffusen Verlust und dessen Auswirkungen, ist ein offener Brief und innerer Monolog, ein der Dringlichkeit am Erforschen der eigenen Wurzeln und Wunden entsprungener Essay, den ich gerne gelesen habe, wenngleich sich die große Begeisterung, die ich im Frühjahr bei der Lektüre von „Erinnerung eines Mädchens“ verspürt hatte, nicht gänzlich einzustellen vermochte. Aus dem Französischen von Sonja Finck.