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Veröffentlicht am 26.04.2024

Ein Liebesbrief für Jung und Alt

Das Lied des Stars
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Der Star macht sich auf, über all das Schöne zu singen, das er sieht, seine Freude daran weiterzutragen. Alle sollen es wissen. Und tatsächlich hören die anderen Tiere seinen bezaubernden Gesang, sein ...

Der Star macht sich auf, über all das Schöne zu singen, das er sieht, seine Freude daran weiterzutragen. Alle sollen es wissen. Und tatsächlich hören die anderen Tiere seinen bezaubernden Gesang, sein Jubilieren, und sie erzählen dem Star von der Schönheit ihrer eigenen Welt, und so wächst das Lied und verlässt die persönliche Ebene des Vogels. Eine poetische Hymne auf das Leben entsteht, eine zarte Melodie, die die Lesenden gefangen nimmt und dazu einlädt, eigene Gedanken hinzuzufügen.

Octavie Wolters Liebesbrief für Jung und Alt wird auf außergewöhnlich schöne Weise vom Design des Buches gestützt und so wundert es mich nicht, dass dieser literarische Schatz von der Stiftung Buchkunst zu einem der schönsten Bücher des Jahres gekürt wurde. Ich darf euch als Botschafterin zwei der ausgezeichneten Bücher vorstellen und freue mich sehr über dieses Privileg, das ich mit wirklich großartigen Buchmenschen teile.

„Das Lied des Stars“ ist ein großformatiges Bilderbuch, das mit seinem robusten, etwas rauen Pappeinband aus der Masse hervorsticht. Die gelb kolorierten Details des Vogels heben sich deutlich ab und signalisieren „hier bin ich, schau mich an!“. Und dieser Aufforderung leistet man nur zu gerne Folge, weshalb ich mich auf Anhieb für die Vorstellung dieses Buches entschieden habe. Die Illustrationen der Schriftstellerin zum Text strecken sich großzügig über die Doppelseiten und sind in Schwarz und Weiß gehalten (bis auf Schnabel und Beine des kleinen Poeten natürlich, die blitzen weiterhin fröhlich gelb auf). Die Grafiken sind nicht überfrachtet und doch sehr ausdrucksstark, scheinen sich dem Betrachter beim Umblättern entgegen zu wölben und ein Eigenleben zu entwickeln. Die Künstlerin hat sich für die Technik des Linolschnitts entschieden, für das faszinierende Spiel mit den Gegensätzen Hell und Dunkel als Kontrast zu der bunten Vielfalt unserer Welt.

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Von der Brüchigkeit des Glücks

Am Tag des Weltuntergangs verschlang der Wolf die Sonne
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Ein junges Mädchen, das sich und seine Bedürfnisse zurückstellt, um die der kleinen Schwester aufzufangen. Ein abwesender Vater. Eine Mutter, die nicht in der Lage ist, die Familie zusammenzuhalten, Sicherheit ...

Ein junges Mädchen, das sich und seine Bedürfnisse zurückstellt, um die der kleinen Schwester aufzufangen. Ein abwesender Vater. Eine Mutter, die nicht in der Lage ist, die Familie zusammenzuhalten, Sicherheit zu bieten. Liebe und Verlust. Woran erinnert uns der Plot noch gleich? Natürlich, ihr wisst es alle, an Caroline Wahls „22 Bahnen“. Schnell drängt sich der Vergleich beider Debüts auf und mich dünkt, nicht bloß Schwimmbad-Cover trenden in diesem Jahr ganz gewaltig, sondern auch Geschichten über vernachlässigte Mädchen, über Schwesternschaft und weibliche Selbstermächtigung. Umgesetzt sind beide Romane allerdings ziemlich unterschiedlich und ich bin definitiv Team Dini und Katha (sorry, Ida und Tilda, geht nicht gegen euch persönlich).

Ich habe „ATDWVDWDS“ gerade zugeschlagen, mich in eine Decke gekuschelt (ja, im August) und so traurig-melancholisch-froh gefühlt, kennt ihr das? Ich geb’s offen zu, ich dachte zuletzt, Bücher, geschrieben von jüngeren Menschen als ich es bin über deutlich jüngere Menschen als ich es bin, sind einfach nix mehr für mich. Ich bin rausgewachsen, kann mich nicht mehr (und noch nicht wieder) mit den jungen Leuten und den Nöten ihrer Zeit identifizieren. Klingt irgendwie bekloppt, aber dachte ich halt. Hab mich geirrt. Auch dieses abgehärtete Herz ist nicht gefeit vor solch rohen Worten, so starken Bildern wie Sina Scherzant sie direkt über mir ausgeschüttet hat. Hier, nimm und fühl, du alte Schachtel. Vor einer so intensiven, kraftvollen Stimme, vibrierend und summend, anders kann ich es nicht beschreiben. Die Geschichte tastet die fragilen Grenzen zwischen den Menschen und der Welt ab, die Brüchigkeit des Glücks; sie lebt, wächst und atmet und man hält selbst die Luft an, möchte keine Regung verpassen und spürt genau, all das ist echt. Sie erzählt von den Spuren, die manche Begegnungen in uns hinterlassen, von Ellenbogen, die sich miteinander verhaken, statt gegeneinander zu stoßen. Aber bitte lest einfach selbst.

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Ein feiner Riss

Solange wir schwimmen
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Solange wir schwimmen ist es nur ein hauchfeiner Riss. Eine zarte, im bewegten Wasser fast unsichtbare Linie am Ende von Bahn vier, eine winzige Anomalie in der Atmosphäre. Solange wir schwimmen wissen ...

Solange wir schwimmen ist es nur ein hauchfeiner Riss. Eine zarte, im bewegten Wasser fast unsichtbare Linie am Ende von Bahn vier, eine winzige Anomalie in der Atmosphäre. Solange wir schwimmen wissen wir genau, was zu tun ist: eintauchen, kraftvoll das Wasser durchstoßen, auftauchen, Luft holen. Solange wir schwimmen ist nebensächlich, wer wir da draußen sind, im echten Leben. Solange wir schwimmen ist es nur ein verirrter Cremetiegel im Gefrierschrank, ein plötzlich abwesend werdender Blick, ein irritierender Moment, bevor deine Stimme zu ihr durchdringt und die vertrauten Züge annimmt. Solange wir schwimmen ist Alice noch Alice, ist Alice deine Mutter und noch da, kannst du sie noch ein wenig festhalten.

Ich habe vor zehn Jahren Julie Otsukas „Wovon wir träumten“ gelesen und dieses eindrückliche, originelle Buch über die Sehnsüchte, Hoffnungen und den Schmerz junger Japanerinnen in den USA sehr geliebt und nie vergessen. In ihrem neuen Roman widmet die Autorin sich erneut einem sehr persönlichen, wenn auch gegenwärtigerem Thema, dem der Demenz, des leisen Verschwindens eines Menschen. Wie schon damals eröffnet die Autorin einen vielstimmigen Kanon mit ihrer ungewöhnlichen Wahl der Wir-Erzählperspektive sowie dem Stilmittel der Repetition, der steten Wiederholung. Die lyrische Sprache, gleichsam monoton wie dringlich, treibt den Plot schnell voran, die kurzen Sätze geben einen meditativen Rhythmus vor. Ein sehr berührendes, besonderes Leseerlebnis und eine große Empfehlung von mir.

„Und nachdem sie ihre letzte Bahn geschwommen ist, geht sie in der Umkleide lange und heiß duschen, zieht sich an, steigt die Treppen hinauf und tritt, blinzelnd und staunend, hinaus in die gleißend helle Welt oben.“ S. 69

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Etwas geht heute zu Ende, etwas liegt in der Luft...

Seemann vom Siebener
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Der Siebener ist gesperrt. Zutritt streng verboten seit vor ein paar Jahren ein Jugendlicher nachts da hoch geklettert, ein Bier getrunken und etwas Gras geraucht hat, und runtergesprungen ist. Im Herbst. ...

Der Siebener ist gesperrt. Zutritt streng verboten seit vor ein paar Jahren ein Jugendlicher nachts da hoch geklettert, ein Bier getrunken und etwas Gras geraucht hat, und runtergesprungen ist. Im Herbst. Als das Becken schon leer war oder beinahe leer, eine Pfütze war noch drin, aber die half auch nichts mehr. Doch heute erinnert, abgesehen vom „Nicht Betreten“-Schild und Bademeister Kiontkes inneren Dämonen, nichts mehr an die Tragödie von damals, heute ist ein strahlender Sommertag und Ottersweilers Freibad dementsprechend voll. Und genau heute steht dieses seltsam aussehende Mädchen oben auf ebenjenem Sprungbrett, ganz still steht sie da, stolz und erhaben, wie auf dem Dach der Welt. Bereit zum Absprung.

„Das Mädchen breitet die Arme aus. Und plötzlich scheint es dem Kiontke, als hätten Teile eines Mobiles sich um eine unsichtbare Achse sanft im Kreis gedreht, all die Jahre, den ganzen Tag, um genau jetzt, in diesem Moment, zur Ruhe zu kommen. Ein Stillstand, der auf eigentümliche Weise ein Bild und einen Sinn ergibt, den der Kiontke nicht ergründen kann. (…) Kiontke lässt das Megaphon sinken und den Dingen ihren Lauf.“ S. 233/234

Etwas geht heute zu Ende, unwiederbringlich, und gleichzeitig liegt etwas Neues in der Luft, das spüren sie alle. Isobel Trautheimer, die etwas wunderliche, betagte Lateinlehrerin des Dorfes unter der Linde liegend, wo sie selig vergangenen Zeiten nachlauscht, Renate in ihrem kleinen Kassenhäuschen, die Nase wie immer in einem Kreuzworträtsel, Lenny und Joe am Grund des Beckens sitzend, der Gegenwart entrückt, einander und sich selbst irgendwo abhandengekommen und nicht wissend, wohin mit dieser inneren Leere, der verpassten Chance. Wie ein Mosaik setzt sich aus all den Lebensgeschichten, die hier und heute zusammenfinden, ein melancholisch-beglückendes Bild zusammen, ein aus sämtlichen Schicksalen komprimiertes Gefühl des leisen Aufbruchs. Arno Frank erzählt humorvoll und feinfühlig von den Menschen, ihren Sehnsüchten und Irrungen, von ernsten Untertönen in einer sonnenbeschienen Welt. Ein leichtfüßiger Roman mit Tiefgang, herrlich pfälzischem Lokalkolorit und viel Herz für seine Figuren, den ich in einem Rutsch inhaliert habe.

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Ein atmosphärischer Roman

Als wir an Wunder glaubten
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Edith und Annie sind Freundinnen, lange schon. Beide jung verheiratet, haben sie fast gleichzeitig ein Kind bekommen und ihre Männer nur wenig später in den Krieg verabschieden müssen. Dieser ist seit ...

Edith und Annie sind Freundinnen, lange schon. Beide jung verheiratet, haben sie fast gleichzeitig ein Kind bekommen und ihre Männer nur wenig später in den Krieg verabschieden müssen. Dieser ist seit ein paar Jahren aus, doch zurückgekehrt ist noch keiner und so unterstützen die Frauen sich gegenseitig auf ihren Höfen. Viel Raum für Hoffnung bleibt ihnen nicht und nun steht auch noch der Weltuntergang bevor, prophezeit der Spökenfritz, ein Scharlatan, der die Unsicherheiten der Dorfbewohner zu seinen Gunsten zu nutzen weiß. Als Annies Josef endlich heimkommt, ist die Freude groß, doch schnell folgt Ernüchterung. Der an Körper und Seele Versehrte findet kaum zurück ins alte Leben, säuft sich durch die Tage, schaut seine Frau nicht mehr an und schielt immer öfter auf die rothaarige Edith, die ihm so vertraut erscheint. Ganz klar, er ist verhext worden und ein Sündenbock für alles Unheil schnell ausgemacht. Bald schon stehen die Frauen auf gegensätzlichen Seiten, ein Graben des Misstrauens zwischen ihnen, ein Riss, der ganz Unnenmoor spaltet. Hier die Abergläubischen, dort die Aufgeklärten. Hier die Altmodischen, dort die Fortschrittlichen. Denn nicht nur der Zweite Weltkrieg und dessen schmerzhafte Nachwehen sorgen für große Verunsicherung, auch die in großen Schritten voranpreschende Modernisierung überfordert die Menschen, die sich nach Altbekanntem, nach Sicherheit sehnen. Wie weiterleben nach einem Krieg, der fortwährend in den Köpfen und draußen im Moor herumspukt? Wie mit der eigenen Schuld in den Schatten der Vergangenheit?

Ich bin tief eingetaucht in Helga Bürsters atmosphärischen Roman, der mit starken Bildern in eine Zeit der Orientierungslosigkeit entführt und überaus lebendig erzählt ist. „Als wir an Wunder glaubten“ zeichnet ein realistisches Bild der düsteren Nachkriegsära, die sumpfige Moorlandschaft Ostfrieslands spielt dabei eine zentrale Rolle und verleiht der Geschichte etwas Mystisches, Geheimnisvolles. Ich habe insbesondere die im Moor verwurzelte Guste und die junge Betty ins Herz geschlossen, ihren festen Zusammenhalt gemocht, ihre beharrliche Weigerung, sich unterkriegen zu lassen, bewundert. Keine Feel-Good-Lektüre, aber dennoch eine lohnenswerte!

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