Profilbild von readiculousme

readiculousme

Lesejury Profi
offline

readiculousme ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit readiculousme über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 27.07.2024

Über das Verstehen und die Versöhnung mit dem Schweigen

Vati
0

Nach „Die Bagage“, der Geschichte ihrer Familie mütterlicherseits, spürt Monika Helfer in dem Nachfolger nun literarisch ihrem „Vati“ nach, tastet sich an den Mann heran, der zeitlebens so wenig greifbar ...

Nach „Die Bagage“, der Geschichte ihrer Familie mütterlicherseits, spürt Monika Helfer in dem Nachfolger nun literarisch ihrem „Vati“ nach, tastet sich an den Mann heran, der zeitlebens so wenig greifbar schien. Es ist ein zärtliches Erinnern an einen gedanklich oft abwesenden, leicht in der Unschärfe liegenden Vater und dessen große Liebe für Bücher, sein Vermächtnis an sie und die größte Konstante ihrer Beziehung. Mit wenigen Worten, ohne verschwenderische Umschreibungen und Ausschmückungen, ja, fast nüchtern und dabei gleichsam dicht und lebendig erzählt die Autorin über das Hadern mit der Familie und der Herkunft, über das Verstehen und die Versöhnung mit dem Schweigen.

Bei aller Einfachheit gelingt es Monika Helfer in mir ganz starke Gefühle zu erzeugen. Ich bilde mir ein, es sei ein Teil meiner Geschichte, es sei vielleicht meine Tante, die hier berichtet. Es schwingt eine Atmosphäre mit, die mich in das Haus meiner Großmutter versetzt, mitten hinein in die Bagage meiner Mutter, so unglaublich vertraut und tröstlich. Fast schleichend begleitet mich in den letzten Jahren derselbe Gedanke, wenn ich ein Buch zuklappe. Unweigerlich frage ich mich, was meine Mutter wohl zu diesem Buch sagen würde, denn auch uns verband die Leidenschaft für Geschichten, die viel Raum für Gespräche und Diskussionen bot. Ich weiß, die Monika Helfer hätte sie gemocht.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 27.07.2024

Ein sehr poetischer Coming of Age-Roman

Freischwimmen
0

„Angesehen werden ist das eine, gesehen werden etwas ganz anderes.“ S. 121

Es sind Sätze wie diese, die „Freischwimmen“ von Caleb Azumah Nelson ausmachen. Spitze Sätze von großer Intensität, die unter ...

„Angesehen werden ist das eine, gesehen werden etwas ganz anderes.“ S. 121

Es sind Sätze wie diese, die „Freischwimmen“ von Caleb Azumah Nelson ausmachen. Spitze Sätze von großer Intensität, die unter die Haut gehen und dort nachhallen. Jetzt, Tage später, kommen mir seine Worte immer wieder in den Sinn und halten mich mehr gefangen, als ich geahnt hatte.

Du und sie. Nur Personalpronomen, keine Namen. Mehr schenkt uns der Autor nicht und überlässt seine Protagonisten damit einer sicher sehr bewusst eingesetzten Anonymität, welche mich zu Beginn ein bisschen auf Distanz hielt, dann aber plötzlich ganz nah heranholte, zur direkten Beobachterin machte. Schon bei eurer ersten Begegnung erkanntet ihr euch. Beide schwarz, jung, Künstler, ja, doch das war es nicht (alleine). Eure Verbindung geht tiefer; von außen gut verborgen liegen die Verletzungen, trieben in genau diesem Moment an die Oberfläche und euch beide unaufhaltsam aufeinander zu.

„Was ist eine Verbindung? Was ein Riss? Was ein Bruch?“ S. 30

„Freischwimmen“ ist der Struggle eines jungen Menschen, für den Sicherheit nicht existiert und das Leben ein Kraftakt ist, überleben heißt; zu lieben hinausschwimmen, das sichere Ufer verlassen bedeutet - und zu riskieren, unterzugehen. Es ist die Geschichte einer tiefen, ersten Liebe und großer Freundschaft und des schmalen Grats zwischen beidem. Ein sehr poetischer Coming of Age-Roman, der die zarte, geschundene Seele eines jungen Mannes freilegt, dem nur noch die Flucht in die Passivität bleibt.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 27.07.2024

Über den Sinn des Lebens

Auf der anderen Seite des Flusses
0

Ein Mann verlässt am Morgen sein Haus, quert innerhalb weniger Stunden einen Fluss und eine Landesgrenze, riskiert viel und muss erst alles verlieren, bevor er zu sich selbst zurückfinden kann.

Der argentinische ...

Ein Mann verlässt am Morgen sein Haus, quert innerhalb weniger Stunden einen Fluss und eine Landesgrenze, riskiert viel und muss erst alles verlieren, bevor er zu sich selbst zurückfinden kann.

Der argentinische Autor spielt auf faszinierende Art und Weise mit dem uns gesellschaftlich anerzogenen Bild dessen, was Richtig und was Falsch, welches Lebensmodell unbedingt erstrebenswert und welches verwerflich ist. Eingebettet in das südamerikanische Lebensgefühl zeichnet Pedro Mairal das Portrait eines Mannes in seinen besten Jahren, dem die Verantwortung für Frau und Kind, der Erwartungsdruck der Gesellschaft und die finanzielle Last über den Kopf wächst - ohne, und das hat mir ausgesprochen gut gefallen, mit dem Finger auf vermeintlich Schuldige zu zeigen oder Partei zu ergreifen. Lässt ihn sich in Tagträumen und Erinnerungen verlieren, gedanklich ab- und umherschweifen, das Leben und seine früheren Entscheidungen Revue passieren; beschreibt dessen Ringen um Selbstbestimmung und persönliche Freiheit. Lucas taumelt und strauchelt, fällt, und dann plötzlich - Stille, Gewissheit. „Auf der anderen Seite des Flusses“ entscheidet sich die Zukunft des Protagonisten, offenbart sich die Fragilität des Glücks.

Ein schmales Büchlein mit umso gewichtigerem Inhalt über den Sinn des Lebens, das Scheitern an Vorstellungen, und ein empathischer, einfühlsamer Blick hinter die Midlife-Crisis. Sprachlich bestechend und mit humorvollen Untertönen.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 27.07.2024

Rasant wie ein Actionfilm

Der Junge, der das Universum verschlang
0

„Der Junge, der das Universum verschlang“ von Trent Dalton ist ein wunderbarer, etwas mystisch angehauchter Coming of Age-Roman, der mich von der ersten Seite an fesseln und innerhalb weniger Tage durch ...

„Der Junge, der das Universum verschlang“ von Trent Dalton ist ein wunderbarer, etwas mystisch angehauchter Coming of Age-Roman, der mich von der ersten Seite an fesseln und innerhalb weniger Tage durch seine 550 Seiten tragen konnte. Wir begleiten den 12jährigen Eli, der in einem heruntergekommenen Vorort Brisbanes unter denkbar schlechtesten Bedingungen aufwächst; der Vater unter dubiosen Umständen von der Bildfläche verschwunden, die Mutter ein (ehemaliger) Junkie, der Stiefvater ein Drogendealer. Einen Jungen, dessen Bruder nicht sprechen, dafür aber umso mehr zu sehen vermag, dessen beste Freunde und Babysitter verurteilte Schwerverbrecher sind. Eli sucht inmitten dieses Chaos mit anrührender Aufrichtigkeit den richtigen Weg, einen guten Weg, doch erst einmal gilt es groß zu werden, die Gliedmaßen weitestgehend beisammen zu halten und herauszufinden, wie man im Angesicht des Falschen, des Schlechten, des Schäbigen seine Würde und Menschlichkeit bewahrt. Immer auf der Suche nach Helden (jeder Junge braucht doch einen Helden, oder?) und Antworten verliert Eli den Glauben an das Gute niemals und findet seinen eigenen Weg „um das Haus niederzubrennen oder die Welt in Brand zu stecken“. S. 339

Der frühe Verlust des Vaters und damit eines verlässlichen Vorbilds, Perspektivlosigkeit und Hoffnung, Traumata und deren Bewältigung, die Macht der Phantasie und des festen Glaubens, wahre Freundschaft und die erste Liebe, der Zauber der Zeit und ein toter blauer Zaunkönig - all das steckt verrückter Weise in diesem Roman, der nur zum Teil fiktiv ist, verarbeitet der Autor doch große Teile seiner eigenen Biografie darin, und das spürt man in jedem Satz. Der Ton ist authentisch schnoddrig, jugendlich-flapsig und dennoch von Herzlichkeit geprägt, das Tempo so rasant wie in einem spannenden Actionfilm. Dalton konnte mit dieser Geschichte einen großen Erfolg in seiner Heimat Australien verzeichnen und auch wenn am Ende alles etwas zu gut ineinander greift, um noch realistisch zu sein, habe auch ich sie mit Begeisterung (und der einen oder anderen Rührungsträne im Augenwinkel) gelesen.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 27.07.2024

Zu recht ein Klassiker

Farm der Tiere
0

George Orwell ist meine Neuentdeckung des Jahres, seit ich vor ein paar Monaten mit großer Begeisterung „1984“ in der Übersetzung von Gisbert Haefs (und überhaupt zum ersten Mal) las. Nun habe ich endlich ...

George Orwell ist meine Neuentdeckung des Jahres, seit ich vor ein paar Monaten mit großer Begeisterung „1984“ in der Übersetzung von Gisbert Haefs (und überhaupt zum ersten Mal) las. Nun habe ich endlich auch diesen zeitlosen Klassiker kennengelernt und bin erneut schwer beeindruckt von Orwells Weitblick und Klugheit. Zum Inhalt von „Farm der Tiere“ möchte ich gar nicht viele Worte verlieren, jede/r wird die grobe Story kennen oder zumindest das berühmte Zitat „Alle Tiere sind gleich, aber manche Tiere sind gleicher als andere“, welches die Kernthese der Geschichte erfasst und eine dermaßen explizite Kritik am Kommunismus und an der Stalin-Diktatur darstellt, dass es mich unwillkürlich schaudert - und mir Bewunderung abringt, bedenkt man das Jahr der (Erst)Veröffentlichung, 1945. Orwells Märchen zeigt auf wenigen Seiten die Unmöglichkeit der absoluten Gleichheit auf, beschreibt, wie menschliche Triebe wie Machthunger und Unterdrückung die Idee pervertieren, schnöde Schmeicheleien den Menschen manipulieren und jedes rationale Denken ausradieren, die Wahrnehmung bis aufs Äußerste verzerren. Die metaphorische, mitunter an Übertreibung grenzende Übertragung menschlicher Eigenschaften auf die Tiere brachte mich während des Lesens häufig zum Schmunzeln oder Schlucken, der große Aha-Effekt blieb jedoch aus. Ich hatte nicht das Gefühl, etwas grundlegend Neues zu entdecken; die ungeheuerliche Brisanz des Themas damals hat sich durch Bildung und Aufklärung bis heute doch etwas verloren, wenn die Geschichte auch nichts an Kraft und Genialität eingebüßt hat.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere