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Veröffentlicht am 14.10.2017

Liebesroman um eine magische Gabe - leider wenig überraschend und etwas kitschig geschrieben

Für immer auf den ersten Blick
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Anna ist Mitte 30, Single und lebt in Berlin. Von ihrem Großvater hat sie eine besondere Gabe geerbt: Sie kann erkennen, welche Personen für einander geschaffen sind. Ihre Fähigkeit nutzt sie beruflich ...

Anna ist Mitte 30, Single und lebt in Berlin. Von ihrem Großvater hat sie eine besondere Gabe geerbt: Sie kann erkennen, welche Personen für einander geschaffen sind. Ihre Fähigkeit nutzt sie beruflich und sucht als Inhaberin der von ihr gegründeten Schicksalsagentur für ihre Auftraggeber die einzige wahre Liebe.

Nachdem sie schon so vielen Paaren zu ihrem Liebesglück verholfen hat, wirkt die Gabe bei ihr selbst nicht und so bleibt sie lieber allein, bevor sie wieder an den Falschen gerät und enttäuscht wird.
Kurz vor Weihnachten kommt ihr ehemaliger bester Freund Benedikt aus ihrer Kindheit und Jugend zwischen zwei Aufträgen als Reisebuchautor nach Hause zu seinen Eltern nach Berlin. Unweigerlich begegnen sich Anna und Beno wieder, die ihren Streit von damals beilegen und schon bald wieder so vertraut miteinander umgehen wie vor zwanzig Jahren.

Benjo möchte sich beruflich weiterentwickeln und Schriftsteller werden. Mit Hilfe von Annas Erzählungen über die Schicksale ihrer Klienten möchte Benjo Ideen für seinen Liebesroman finden und so zieht sie kurzerhand in das kleine Cottage, das er am Rande von Berlin von einem Freund nutzen darf. In der winterlich-romantischen Atmosphäre bei knisterndem Kaminfeuer kommen sich die beiden näher, doch zweifelt Anna daran, dass Benjo der für sie bestimmte Seelenverwandte ist, da die Zeichen etwas anderes deuten...

"Für immer aut den ersten Blick" ist ein romantischer Winterroman, der sich der Stimmung nach als ideal Lektüre für die Vorweihnachtszeit eignet. Zu Beginn des Romans ist Anna in sich gekehrt und trotz dem Glück, das sie anderen bringt, unzufrieden mit ihrem eigenen Leben, auch wenn sie sich das nicht offen eingesteht. Es hat den Anschein, als brauche sie eine Pause vom Liebesglück der anderen und der Schicksalsagentur. Sie hadert mit ihrer Gabe und sieht sie zunehmend als Bürde statt als Geschenk
Da trifft es sich gut, dass die Feiertage anstehen und dass sie sich nach all den Jahren des Kontaktabbruchs mit ihrem besten Freund versöhnt.
Der Roman handelt dann auch weniger von Anna als Amor als vielmehr darum, wie sie mit Hilfe von drei älteren Damen und Benjo ihr Schicksal in die Hand nimmt und sich nicht mehr darauf verlässt, dass ihr der richtige Mann schon noch begegnen wird.

Der Roman ist ein wenig kitschig geschrieben, wobei mich mit der Zeit die wiederholten Beschreibungen der ausdrucksstarken Augen von jedweden Protagonisten oder die übertrieben emotionalen Reaktionen von Anna gestört haben. Darüber hinaus ist nicht nur das Ende vorhersehbar, sondern der Roman auch etwas schablonenartig nach Schema F eines mustergültigen Liebesromans geschrieben: Eine junge Frau, enttäuscht von ihren bisherigen Liebesbeziehungen begegnet ihrem Jugendfreund wieder, der sich als ihre wahre Liebe entpuppt. Es kommt zu einer Annäherung, die zu Verunsicherung auf beiden Seiten führt, dann folgt ein Missverständnis, das die beiden fast wieder entzweit, bevor es zum ersehnten Happy End kommt.

Mir hat die Grundidee des Romans mit der magischen Gabe von Anna gut gefallen, die aber leider in der Geschichte sehr kurz kam. Auch die Liebesgeschichten ihrer zum Teil unfreiwilligen Klienten - der abrupte Wechsel vom gegenwärtigen Partner zum vermeintlichen Seelenverwandten - waren stark vereinfacht dargestellt.

Nichtsdestotrotz ist "Für immer auf den ersten Blick" ein kurzweiliger Liebesroman, der jedoch nicht ganz so einfallsreich, kreativ und zauberhaft umgesetzt wurde, wie es beim Lesen des Klappentextes den Anschein hatte.

Veröffentlicht am 07.10.2017

Sehr pointierte, eindringliche Beschreibung der Gedankenwelt einer Magersüchtigen, doch inhaltlich zu kurz gefasst

Tage ohne Hunger
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Laure ist 19 Jahre alt und begibt sich freiwillig in eine Akutklinik, als sie mit 175 cm 36 Kilogramm wiegt und ihre Körpertemperatur auf 35 °C gesunken ist und sie nur noch Kälte spürt, die sie buchstäblich ...

Laure ist 19 Jahre alt und begibt sich freiwillig in eine Akutklinik, als sie mit 175 cm 36 Kilogramm wiegt und ihre Körpertemperatur auf 35 °C gesunken ist und sie nur noch Kälte spürt, die sie buchstäblich von innen auffrisst. Sie bezeichnet sich selbst als "ein Sack Knochen auf einem Krankenhausbett", spürt was die Leute über sie denken. Sie, die aussieht wir "eine auseinandergebogene Büroklammer, wie ein Drahtbügel aus der Reinigung, wie eine Fernsehantenne nach einem Unwetter".

In ungeschönten Worten beschreibt Delphine de Vigan den Zustand und das Schicksal einer Magersüchtigen, die erkennt, dass es so nicht mehr weitergeht, es alleine aber auch nicht schafft, ihrem Körper Nahrung zu geben.

Mit Laure erlebt man den Klinikalltag mit, der für sie überwiegend aus stricken, essen und schlafen besteht, wobei sie auch Besuch von Freunden und ihrer Familie empfangen darf. Darüber hinaus hat sie vereinzelte Kontakte zu Mitpatienten, die alle wegen Erkrankungen des Magen-Darm-Trakts in Behandlung sind und es insofern keine reine Station von Essgestörten ist.

Gründe für Magersucht sind vielfältig und nicht nur auf ein verqueres Schönheitsideal oder eine Körperschemastörung zurückzuführen. Bei Laure ist es ein Gefühl von Macht, das sie durch die Magersucht über ihren Körper erhält. Die Angst vor Kontrollverlust mag dem Elternhaus geschuldet und ursächlich für ihre Erkrankung sein: ihre Mutter ist psychisch krank und suizid gefährdet und war nie in der Lage sich um ihre Kinder zu kümmern. Der Vater, der dann das Sorgerecht bekam, ist cholerisch und wie die Mutter dem Alkohol nicht abgeneigt.
Um diesem Elternhaus zu entfliehen, möchte sie verschwinden und hört auf zu essen.

Erst als es fast zu spät ist und selbst Ärzte erstaunt sind, dass Laure mit diesem dramatischen Untergewicht überhaupt noch bei Bewusstsein ist, lässt sie sich auf eine Therapie bei Dr. Brunel ein, zu dem sie eine regelrecht schwärmerische - fas schon intime - Beziehung aufbaut. In ihren Augen ist er der einzige, der sie versteht. Laure will leben und nimmt die Regeln der Klinik deshalb schon ab der Aufnahme bedingungslos an. Sie wehrt sich weder gegen die Magensonde, noch gegen feste Mahlzeiten.

Mich hat erstaunt, wie brav sie sich die Ernährungspumpe in die Nase steckt, sie ganz allein auf ihrem Zimmer ihre drei Mahlzeiten einnehmen darf und sie erst nach acht Kilogramm Gewichtszunahme beginnt, ihren neuen Körper zu hinterfragen.
Auch gab es in der Klinik bis auf die vereinzelten Gespräche mit Dr. Brunel keine therapeutischen Maßnahmen, so dass mir der Alltag in der Klinik und der Heilungsprozess stark verkürzt und zu einfach erschienen. Wie ihr Dr. Brunel geholfen hat, blieb unklar.

Dafür kann man sich umso besser in Laure hineinversetzen, da sich ihre Geschichte ähnlich wie ein Tagebuch liest, als wäre es ein autobiographischer Roman. Laures Zweifel und der innere Kampf gegen eine weiter Zunahme, die über das reine Überleben hinausgeht, sind sehr realistisch und nachvollziehbar dargestellt. Folgerichtig zeigt die Autorin auf, warum Betroffene wie Laure an der selbstzerstörerischen Erkrankung festhalten und wie schwierig es von Außen ist, einen Zugang zu den Betroffenen zu bekommen, um die Anorexia nervosa gemeinsam bekämpfen zu können.

Es ist ein Buch, das sowohl Angehörige als auch Betroffene der Erkrankung lesen können, da es in "Tage ohne Hunger" in erster Linie um die innere Haltung von Laure geht und nicht darum zu beschrieben, welche Tricks angewendet werden können, um eine Zunahme zu vermeiden bzw. die Waage zu beschummeln. Auch wenn dieses Thema und weitere Klischees über Magersüchtige wie kochen für andere zumindest kurz angerissen werden.

Es ist ein sachlich geschriebenes, ehrliches Buch über eine psychische Erkrankung, für die von Außenstehenden wenig Verständnis aufgebracht wird, das aber aufgrund seiner Kürze lange nicht alle Aspekte der Magersucht umschreibt und schon gar keinen therapeutischen Heilungsansatz aufzeigt. Mir war der Weg von Laure ein bisschen zu einfach beschrieben, der Genesungsprozess blieb etwas wage, was vor allem der Kürze des Romans geschuldet ist. Insofern bekommt das Buch von mir volle Punktzahl für den sehr pointierten Schreibstil der Autorin, aber Punktabzug für den mir insgesamt zu kurz geratenen Roman für dieses schwierige und leidvolle Thema.

Veröffentlicht am 04.10.2017

Pessimistisches Zukunftsszenario unserer Gesellschaft aus der Perspektive eines angepassten Mitläufers

Die Optimierer
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2052 gibt es weder Deutschland noch die EU mehr, sondern die Bundesrepublik Europa, zu der sich die wohlhabenden mitteleuropäischen Staaten zusammengeschlossen haben. Die soziale Marktwirtschaft wurde ...

2052 gibt es weder Deutschland noch die EU mehr, sondern die Bundesrepublik Europa, zu der sich die wohlhabenden mitteleuropäischen Staaten zusammengeschlossen haben. Die soziale Marktwirtschaft wurde durch die sogenannte Optimalwohlökonomie abgeschafft. Das System wird dominiert von der Agentur für Lebensberatung, die für jeden Bürger seinen Fähigkeiten und persönlichen Eigenschaften entsprechend die passende Tätigkeit findet. "Jeder an seinem Platz" - so lautet auch die allgegenwärtige Grußformel.
Da bereits viele Tätigkeiten von Robotern übernommen werden, ist nicht mehr jeder Mensch nützlich. Für diese ist die Kontemplation vorgesehen, das sozialverträgliche Nichtstun.

Samson Freitag lebt in München und ist Lebensberater, der an das System glaubt. Für ihn ist seine Arbeit seine Berufung und er glaubt fest daran, für jeden Menschen den richtigen Platz in der Gesellschaft zu finden. Durch sogenannte Korrekturvermerke, die der Verbesserung des Systems dienen, sammelt er darüber hinaus Sozialpunkte, um sein Ziel der nächsten Beförderung zu erreichen.

Doch plötzlich gerät sein angepasstes und überkorrektes Leben aus den Fugen, als seine Freundin ihn verlässt und seine Eltern bei der Straftat erwischt werden, tierisches Fleisch statt dem umweltfreundlichen Synthfleisch zu konsumieren. Auf einen Schlag verliert Samson hunderte von Sozialpunkte und auch seine letzte Lebensberatung wird ihm zum Verhängnis. In einer fortwährenden Abwärtsspirale fällt er aus dem System...

"Die Optimierer" ist ein Roman, der knapp 40 Jahre in der Zukunft spielt und eine Dystopie, ein pessimistisches Szenario unserer Gesellschaft darstellt.
Die Geschichte ist aus der Perspektive von Samson geschrieben, der zunächst nicht unsympathisch wirkt, sondern vergleichbar mit einem spießigen deutschen Beamten ist. Im weiteren Verlauf wird jedoch klar, dass es Samson weniger um eine Verbesserung der Gesellschaft oder um eine Optimierung des Systems geht, sondern dass er nur sein egoistisches Ziel der 1000 Sozialpunkte verfolgt. Mit seinem Ich-bezogenen Verhalten hat er sich wenig Freunde gemacht, so dass er bei seinem Absturz ganz allein dasteht. Er stellt einen systemkonformen Mitläufer dar, der ohne selbst darüber nachzudenken, alle neuen Gesetze und Regelungen akzeptiert. Seine Eltern und seine Freundin Melanie, die mit einer robotergesteuerten Welt, in der der einzelne Mensch wertlos und ersetzbar ist, nichts anfangen können und dagegen rebellieren, kann Samson nicht verstehen.

Der Roman ist zwar durch die eingeführten neuen Techniken, die das Leben der Menschen subjektiv verbessern science-fiction-artig, aber entwirft nicht so ein utopisches Szenario, dass die Welt von morgen, wie sie geschildert wird, als unrealistisch erscheint. Anders als in anderen Dystopien ist der Protagonist kein Held, der gegen ein herrschendes System einer düsteren Zukunftsaussicht ankämpft, sondern es unterstützt und nicht weiter hinterfragt. Auch als er aus dem Raster fällt, zweifelt er die unmenschliche Gesellschaft nicht an, sondern versucht wieder ein Teil von ihr zu werden.

Mir hat die Idee hinter dem Roman, die Perspektive einer perfekten Gesellschaft, optimiert von Robotern und Rund-um-die-Uhr-Überwachung, gut gefallen. Die Beschreibung der neuen Welt wirkte zu Beginn des Romans etwas unbeholfen, da auf wenigen Seiten viele Erklärungen durch beispielsweise Radiowerbung erfolgte, statt sie die Neuerungen fließend in die Erzählung einzubauen. Nach dieser Einleitung ließ sich der Roman - bis auf die Träume von Samson, die ich nicht so richtig zu deuten wusste - flüssig lesen.
Das Ende des Absturzes von Samson war allerdings etwas verworren, für mich zu verkürzt geschrieben.

Dennoch vermittelt der Roman Kritik daran, was passiert, wenn man sich sklavisch an ein System hält, mit der Masse mitschwimmt und die negativen Folgen der vollkommenen Optimierung ohne staatsfreien Raum nicht mehr wahrnimmt oder gar dagegen ankämpft.

Veröffentlicht am 30.09.2017

Wissenschaft, Aberglaube und Liebe im viktorianischen Zeitalter - atmosphärischer Roman mit sehr eigenwilligen Charakteren

Die Schlange von Essex
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Die Geschichte spielt im Viktorianischen Zeitalter in London bzw. in der nordöstlich davon gelegenen Grafschaft Essex.

Der Ehemann von der wissbegierigen und von ihrem Mann in ihrem Eifer unterdrückten ...

Die Geschichte spielt im Viktorianischen Zeitalter in London bzw. in der nordöstlich davon gelegenen Grafschaft Essex.

Der Ehemann von der wissbegierigen und von ihrem Mann in ihrem Eifer unterdrückten Cora Seaborne ist vor Kurzem verstorben, weshalb sie sich nun selbstständig und frei mit ihrem autistischen Sohn Francis sowie ihrer Freundin und Kindsmagd Martha von London nach Essex begibt. In dem Dorf Aldwinter soll es eine Schlange geben, die mich der Beschreibung nach an "Nessie" erinnerte.
Die burschikose Cora trifft bei ihren Fossilien-Forschungen auf den Pfarrer William Ransome, mit dessen Familie sie sich anfreundet. Zunächst scheint es, als habe Will in Cora einen Partner auf intellektueller Ebene gefunden. Die Verbindung zwischen ihr und William, der in Coras Augen unter seinen Möglichkeiten bleibt und sein geistiges Potenzial nicht ausschöpft, geht bald über das Interesse an der reinen Wissenschaft hinaus.

Die Schlange, das mysteriöse Fabelwesen, symbolisiert das Böse und wird für alle Unglücke verantwortlich gemacht, die den Menschen in dem Dorf widerfahren. William glaubt zunächst nicht an die Existenz des "Ungeheuers vom Blackwater" und empfindet den Aberglauben um sie als Gotteslästerung. Im Verlauf der Handlung beginnt er allerdings zu zweifeln und fragt sich, ob es sich bei der Schlange um eine Strafe Gottes für die begangenen Sünden der Menschen handeln könnte. Auch Cora ist aus naturwissenschaftlicher Sicht skeptisch und vermutet hinter der Essex-Schlange eine noch unentdeckte Tierart. Sie selbst scheint aber auch symbolisch für die Schlange zu stehen, bringt sie doch den Pfarrer und Familienvater William in Versuchung, seine Ehefrau Stella zu betrügen.

Voller Metaphern und einem der damaligen Zeit angepassten Schreibstil ist "Die Schlange von Essex" alles andere als einfach zu lesen. Mit den zahlreichen Protagonisten werden unzählige Nebenschauplätze eröffnet und mehrere Erzählungen parallel erzählt. Neben der (Liebes-)geschichte um Will und Cora gibt es noch den Arzt Dr. Luke Garrett, der eine zentrale Rolle einnimmt, sowie weitere Nebencharaktere wie Francis und Martha oder die Kinder von Will und Stella, insbesondere Joanna und ihre Freundin Naomi Banks.
Es ergibt sich dabei eine ausgedehnte Geschichte, wobei der rote Faden nicht immer erkennbar leibt und man als Leser sich aufgrund von Cover und Klappentext in Erwartung einer typischen Gothic Novel mit den vielen kleinteiligen Fragmenten aus Erzählungen und Briefen leicht überfordert fühlen kann.

Mir haben die Episoden um den Chirurg, den "Kobold" Luke gut gefallen, der viel Mut beweist und ehrgeizig neue Wege in der Medizin geht, um den Menschen zu heilen.
Auch wird man als Leser sehr gut in die Stimmung der damaligen Zeit Ende des 19. Jahrhunderts versetzt, wobei durch die prosaische Beschreibung sogar die Veränderung der Jahreszeiten atmosphärisch erlebbar war.

Ich vermisste an der Geschichte einen stärkeren Kontrast zwischen Aberglaube und Verstand, Fiktion und Wirklichkeit, Religion und Wissenschaft. So gab es kaum Konflikte zwischen den Protagonisten, was an den aufkeimenden Gefühlen zwischen Will und Cora lag, aber gerade deswegen hätte ich mir mehr leidenschaftliche Dialoge und Streitgespräche vorgestellt und gewünscht. Auch die mysteriöse Schlange spielte selbst nur eine untergeordnete Rolle und wurde dem Titel damit nicht gerecht.

In dem Roman prallen zu Lasten eines dramaturgisch gelungenen Handlungsbogens viele verschiedene, eigenwillige Charaktere aufeinander, weshalb der Roman für mich zu lang und zu verworren und in Gänze unrund wirkte. Ich hatte Schwierigkeiten eine fortlaufende Handlung zu erkennen, da die einzelnen Abschnitte auf mich scheinbar zusammenhanglos aneinandergereiht wirkten.

Veröffentlicht am 28.08.2017

Roman über ein einsames Mädchen, das die Welt verbessern möchte, dabei an ihre Grenzen stößt und mit der harten Realität konfrontiert wird.

No & ich
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Die 13-jährige Lou Bertignac hat einen IQ von 160, zwei Klassen übersprungen und geht in die 10. Klasse einer ganz normalen Schule in Paris. Sie ist schüchtern, möchte nicht auffallen und hält sich während ...

Die 13-jährige Lou Bertignac hat einen IQ von 160, zwei Klassen übersprungen und geht in die 10. Klasse einer ganz normalen Schule in Paris. Sie ist schüchtern, möchte nicht auffallen und hält sich während des Unterrichts mit Beiträgen zurück. Als sie ein Referat vor der Klasse halten soll, wählt sie aus einer spontanen Idee die Obdachlosigkeit von Frauen in Frankreich als Thema aus, da ihr eine junge Frau am Bahnhof aufgefallen war.

No ist 18 Jahre alt und lebt auf der Straße. Für ihr Referat möchte Lou sie interviewen und nähert sich ihr an, indem sie No in Cafés einlädt. Statt zur Cola greift No allerdings zu Wodka und erzählt Lou nach und nach ihre Geschichte.

Die hochbegabte Lou ist ein Mensch, der alles versucht zu analysieren, um es in Gänze zu durchdringen. Sie stellt Theorien auf, die es zu bestätigen bzw. zu widerlegen gilt und führt in ihrer Freizeit zu Hause in Eigenregie kleine "Konzeptexperimente" und "Widerstandsfähigkeitstests" durch. No entwickelt sich zu ihrem ganz eigenen Projekt und als sie merkt, dass No vergeblich versucht an Jobs zu kommen, die daran scheitern, dass sie keinen festen Wohnsitz hat, kann Lou sogar ihre Eltern dazu bewegen, No im Kinderzimmer ihrer am plötzlichen Kindstod verstorbenen Schwester aufzunehmen.

In ihrer kindlichen Naivität versucht Lou No von der Straße zu retten und ihrem Leben eine Struktur zu geben. Sie hat sich in den Kopf gesetzt, die junge Frau zu zähmen, was eine enorme Herausforderung für die sonst so ängstliche Lou herausstellt, die sich von ihrer Mutter vernachlässigt und ungeliebt fühlt und an ihrer neuen Aufgabe über sich hinauswächst.

"No & ich" ist ein Roman über eine ganz besondere Freundschaft zwischen zwei ungleichen Menschen, die sich kaum kennen. Die jüngere Lou ist eine Einzelgängerin und versucht die obdachlose No, die aus dem sozialen Netz gefallen ist, wieder zu integrieren. Lou ist zwar ein sehr analytisch denkender Mensch, geht das Projekt "No" aber sehr blauäugig an. Sie hat schon fast eine romantische Vorstellung davon, No zu einer festen Arbeit und einer eigenen Wohnung zu verhelfen. Sie kann einfach nicht verstehen, wie es in einer so fortschrittlichen Welt Menschen geben kann, die verwahrlost auf der Straße leben.

Es ist ein einerseits sehr positiver Roman der die Welt ein Stück besser machen will und in der Lou mit ihren naiven Vorstellungen eine Vorbildfunktion für die Erwachsenen einnimmt, die Obdachlose in ihrem Alltag nicht mehr wahrnehmen. Auf der anderen Seite ist es aber auch ein melancholischer Roman, da Lou aus in einem traurigen Elternhaus großgeworden ist und ihr einsamer Alltag sehr monoton ist. Durch das Zusammenleben mit No erwacht Lous Mutter aus ihrer Lethargie und beginnt, ihre Umwelt wieder wahrzunehmen, No selbst hat jedoch massive Schwierigkeiten, sich zu integrieren.
Der Roman zeigt, wie schwierig es ist und wie viel Geduld und Hingabe nötig sind, um einen Menschen schon nach nur wenigen Wochen oder Monaten auf der Straße mit einer ganz anderen Abhängigkeit zu konfrontieren.

"No & ich" ist zwar eine Geschichte über das Erwachsenwerden, die ich mich auch als Schullektüre vorstellen könnte, ist aber auch für Erwachsene lesenswert und zum Nachdenken anregend.