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Veröffentlicht am 04.12.2020

Gänsehaut-Feeling

Das Seidenraupenzimmer
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Schon als Kinder geben sich Natsuki und ihr Cousin Yu ein Eheversprechen und schwören, zu "überleben, egal, was passiert." Beide Kinder haben es in ihren Familien schwer; sie wollen ihre Verwandten zufrieden ...

Schon als Kinder geben sich Natsuki und ihr Cousin Yu ein Eheversprechen und schwören, zu "überleben, egal, was passiert." Beide Kinder haben es in ihren Familien schwer; sie wollen ihre Verwandten zufrieden stellen, scheinen aber nie deren Ansprüchen zu genügen. Glücklich sind sie nur, wenn sie in den Ferien Zeit miteinander verbringen können. Hier im Haus der Großeltern befindet sich das geheimnisvolle Seidenraupenzimmer, in dem einst Seidenraupen gezüchtet wurden. Und wie sich diese Raupen in seidigen Kokons verpuppen, so ziehen sich auch Natsuki und Yu in eine Fantasiewelt zurück, fühlen sich als ausgesetzte Außerirdische.
Aus Natsukis Sicht schildert die Autorin Sayaka Murata bildhaft und äußerst drastisch die Vorgänge. Es ist schmerzhaft für den Leser zu sehen, wie wenig sich die Erwachsenen bemühen, ihre Kinder zu verstehen, und wie sehr sie sich dafür engagieren, sie in die „Fabrik“, wie Natsuki die Stadt und ihre Gesellschaft nennt, zu integrieren. Sogar, als beide selbst schon erwachsen sind, nehmen sie Einfluss. Jeder der beiden jungen Leute versucht sich auf eine andere Weise den Anforderungen der Umwelt zu entziehen. Natsuki tut das, indem sie den Schein einer bürgerlichen Ehe mit Tomobi zu wahren sucht, der - ebenso wie sie - nicht einfach funktionieren will, wie es von ihm erwartet wird. Zu dritt flüchten sie in das Großelternhaus und leben dort allein, nach eigenen Regeln, die sich immer abstruser und kompromissloser gestalten. Aber so einfach lässt sich die Familie nicht abschütteln...
Murata zeigt ohne zu beschönigen, wie stark in Japan Werte wie Tradition, Leistung, Anpassung hochgehalten und die Interessen des Individuums den gesellschaftlichen Erwartungen untergeordnet werden. Ein Roman, der regelrecht Gänsehaut verursacht!

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Veröffentlicht am 29.11.2020

Der Weg zurück

Das Mädchen
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Ihr ganzes Leben lang hat die irische Schriftstellerin Edna O´Brien über Mädchen- und Frauenschicksale geschrieben, sensibel, aber ungeschönt. Für „Das Mädchen“ reiste sie noch als 88jährige nach Nigeria, ...

Ihr ganzes Leben lang hat die irische Schriftstellerin Edna O´Brien über Mädchen- und Frauenschicksale geschrieben, sensibel, aber ungeschönt. Für „Das Mädchen“ reiste sie noch als 88jährige nach Nigeria, um vor Ort zu recherchieren. Die schrecklichen Erfahrungen der Frauen, die von der terroristischen Gruppe Boko Haram (im Jahr 2014) entführt und versklavt wurden, setzt die Autorin zu einem lange nachwirkenden Roman zusammen, in der das Mädchen Maryam die Hauptrolle spielt. Als 15jährige wird Maryam zusammen mit ihren Kameradinnen aus dem Schulschlafsaal entführt, in ein Lager gebracht und leidet dort unter Hunger, Sklavenarbeit und häufigen Vergewaltigungen. Schließlich wird sie mit einem der Kämpfer verheiratet und bekommt ein Baby. Während eines Bombenangriffs auf das Terroristencamp gelingt es ihr, mit dem Kind und ihrer Mitgefangenen Buki zu fliehen. Doch als sie nach langem, gefahrvollem Irren durch den Urwald endlich wieder auf ihre Familie trifft und Hoffnung schöpft, erlebt sie eine böse Überraschung…
Es ist eindrucksvoll, wie es O´Brien schafft, uns Maryams Schicksal so lebendig und bildhaft nahezubringen, in einer schlichten, der Protagonistin angepassten Sprache, so dass wir ihr Leid mit- und nachempfinden können. „Das Mädchen“ ist eine Anklage und gleichzeitig ein Aufruf, Unrecht und Gewalt gegen Frauen - nicht nur in Nigeria - endlich zu beenden.

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Veröffentlicht am 24.11.2020

Ein Menschenleben

Rote Kreuze
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Kreuze ziehen sich in abgewandelten Formen durch das ganze Buch. Es sind nicht nur die kleinen roten Kreuze, welche die 91jährige Tatjana Alexejewna zur Orientierung an Türen malt, weil sie an beginnendem ...

Kreuze ziehen sich in abgewandelten Formen durch das ganze Buch. Es sind nicht nur die kleinen roten Kreuze, welche die 91jährige Tatjana Alexejewna zur Orientierung an Türen malt, weil sie an beginnendem Alzheimer leidet. Das Rote Kreuz als Organisation wird für sie zum Auslöser einer großen Last, die ihr Gewissen jahrzehntelang plagt. Als Übersetzerin des NKID, des "Volkskommissariats für Auswärtige Angelegenheiten", landen während des 2. Weltkriegs zahlreiche Briefe des Internationalen Roten Kreuzes auf ihrem Schreibtisch, die den Austausch von Kriegsgefangenen vorschlagen. Auf einer der Listen mit den Namen sowjetischer gefangener Soldaten entdeckt Tatjana auch den ihres Mannes und löscht ihn, um ihn und ihre kleine Familie zu schützen; denn als mögliche Vaterlandsverräter sind sie alle gefährdet.
Genau wie es Tatjana leicht gelingt, ihren jungen Nachbarn Alexander mit der Erzählung ihres Schicksals während und nach der Stalinära zu faszinieren, versteht es Filipenko ganz wunderbar, seine Leser in das Leben seiner Protagonistin hineinzuziehen. So werden wir Zeugen eines langen wechselhaften Lebenslaufs, der von Unglück und Verlust geprägt ist.
Das Kreuz als Symbol für Schmerz und Leid - Tatjanas Stärke zeigt sich in dem Willen, die Schicksalsschläge zu überleben. Mit bitterem Humor und viel Sarkasmus trägt sie ihr Kreuz und findet einen neuen Sinn darin, andere Frauen, die von der Willkür des Stalinsystems betroffen sind, zu unterstützen - eine beeindruckende Zeitzeugin, die sich darum bemüht, die vielen Opfer jener Zeit nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.

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Veröffentlicht am 22.11.2020

Gegen das Vergessen

Die Schweigende
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Wer ist Peter? Imke hat keine Ahnung und ist unsicher, wie sie den Wunsch ihres sterbenden Vater erfüllen soll, jenen rätselhaften Peter zu suchen. Als sie ihre Mutter Karin um Rat fragt, weicht diese ...

Wer ist Peter? Imke hat keine Ahnung und ist unsicher, wie sie den Wunsch ihres sterbenden Vater erfüllen soll, jenen rätselhaften Peter zu suchen. Als sie ihre Mutter Karin um Rat fragt, weicht diese aus und flüchtet sich in Schweigen - so, wie sie es ihr Leben lang getan hat. Doch Imke forscht weiter und kommt einem schrecklichen Geheimnis auf die Spur.
In ihrem neuen Roman führt Ellen Sandberg mit ihrer ruhigen, leichten Schreibart ihre Leser/innen an ein Thema heran, das lange im Verborgenen blieb, doch nicht vergessen wurde und in letzter Zeit wieder in den Fokus des öffentlichen Interesses rückt: es dreht sich um zahlreiche Missbrauchsvorwürfe gegen kirchliche und staatliche Heimerzieher. Sandberg geht es vor allem die Moralvorstellungen und Erziehungsmethoden, wie sie bis in die 70er Jahre üblich waren, und deren oft sadistischer Ausnutzung. Vor allem in den Kinderheimen konnten sich solche „Pädagogen“ unter dem Deckmantel einer „strengen Erziehung“ austoben. Welche Konsequenzen die psychische und physische Gewalt für ihre Zöglinge (und auch deren Nachkommen) hatte, erzählt die Autorin in ihrer Familiengeschichte von Karin und ihren drei Töchtern. Lebendig und eindrücklich beschreibt sie Imkes beharrliche Suche und die Probleme, mit denen sie sich auseinandersetzen muss. Natürlich wird ein Roman allein nicht diesem heiklen Thema gerecht, doch er lenkt einmal mehr die Aufmerksamkeit darauf und wirkt damit dem Vergessenwerden entgegen.

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Veröffentlicht am 22.11.2020

Originelles Bilderbuch

Gans Ernst von Jimmy Kimmel
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Ein solcher Griesgram wie Gans Ernst ist Kindern bestimmt nicht unbekannt; schlechte Laune kennen sie auch aus eigener Erfahrung.
In großformatigen Bildern stellt uns Jimmy Kimmel seinen grimmig dreinschauenden ...

Ein solcher Griesgram wie Gans Ernst ist Kindern bestimmt nicht unbekannt; schlechte Laune kennen sie auch aus eigener Erfahrung.
In großformatigen Bildern stellt uns Jimmy Kimmel seinen grimmig dreinschauenden Helden vor, der sich nicht zu einem Lächeln durchringen kann. Kein Scherz und auch keine Pizza führen zum Erfolg.
Kimmels Illustrationen sind einfach und klar gehalten, auf das Wesentliche der erzählten Geschichte reduziert. Sie sind - ebenso wie der Text - dem (Vor-)Lesealter ab 3 Jahren angemessen. Die Sprache ist schlicht, knapp, eindeutig und überfordert ein jüngeres Kind keineswegs. Text und Illustrationen verbinden sich zu einem harmonischen Gesamteindruck und laden zum Eltern-Kind-Erlebnis ein: Schaffen wir es, aus Gans Ernst einen Gans Lustig zu machen? Der Ehrgeiz des jungen Publikums ist in jedem Fall geweckt.
Kimmels „Gans Ernst“ ist ein wirklich originelles Bilderbuch, das eine fantasievolle, fröhliche Lesezeit garantiert.




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