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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 13.09.2018

Ein "leises" Drama

Loyalitäten
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Wie reagiert ein Kind, wenn es in eine anscheinend ausweglose Situation gerät? Der 12jährige Théo, der als Kind geschiedener Eltern zwischen den unversöhnlichen Partnern steht, folgt dem Beispiel seines ...

Wie reagiert ein Kind, wenn es in eine anscheinend ausweglose Situation gerät? Der 12jährige Théo, der als Kind geschiedener Eltern zwischen den unversöhnlichen Partnern steht, folgt dem Beispiel seines Vaters: er sucht Entspannung und Vergessen im Alkohol. Obwohl zermürbt von der ständigen, selbst auferlegten Verpflichtung, seine Eltern - besonders die Lebensweise seines Vaters – decken zu müssen, schafft er es dennoch nicht, sich einem Erwachsenen anzuvertrauen. Auch seiner Lehrerin Hélène gegenüber, deren eigene Kindheitserlebnisse sie für die Probleme ihrer Schüler sensibilisiert haben, kann er sich nicht öffnen. Steuert Théo einer Katastrophe entgegen?
Mit ihrer ruhigen, aber sehr intensiven Art zu erzählen trifft Delphine de Vigan ihre Leser im Innersten. Wie weit geht die Verpflichtung, einen Menschen, dem ich familiär oder freundschaftlich verbunden bin, durch Schweigen zu schützen? Wann kann oder muss ich mein Schweigen brechen? Die Schwierigkeiten, die sich aus dem Gefühl der Loyalität für andere ergeben, beleuchtet de Vigan eindrucksvoll aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Sachlich, ohne Sentimentalität, lässt sie einen kleinen Personenkreis selbst zu Wort kommen: zwei Kinder, Théo und seinen Freund Mathis, und zwei Erwachsene, ihre Lehrerin Hélène und Mathis´ Mutter Cécile. Den Dreh- und Angelpunkt bildet Théo; um ihn herum gruppieren sich die Episoden und Probleme der übrigen Figuren. Neben dem Thema Loyalität entsteht logischerweise auch die schwierige Frage: Wann und wie soll ein Außenstehender eingreifen?
Werden zumindest die Erwachsenen einen Weg finden, Théo zu helfen?
Ungeschminkt inszeniert Delphine de Vigan eines der „leisen Dramen“ in dieser Welt. Ihr neuer Roman hat mich stark beeindruckt und lässt mich nachdenklich zurück.

Veröffentlicht am 11.09.2018

"Wir sind die Herren Kinder"

Mein Freund Otto, das wilde Leben und ich
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Welche Verbindung besteht zwischen Hausaufgaben, einem knurrigen Kioskbesitzer und Gangsta-Rap? Die Freunde Matti und Otto, die sich bereits „ein ganzes Leben minus drei Wochen“ kennen, stecken in einem ...

Welche Verbindung besteht zwischen Hausaufgaben, einem knurrigen Kioskbesitzer und Gangsta-Rap? Die Freunde Matti und Otto, die sich bereits „ein ganzes Leben minus drei Wochen“ kennen, stecken in einem Dilemma: sie sollen für den Musikunterricht der Fünften Klasse einen Rap schreiben - nach dem Vorbild von Bruda Berlin. Aber sie sind zu brav; sie haben kein „Gangsta-Gen“, wie Otto sachlich feststellt, und sind weit entfernt von einem „wilden Leben“. Als die zwei Jungen schließlich entscheiden, den meist schlecht gelaunten Kioskbesitzer Hotte Zimmermann zum „Helden“ ihres Rapsongs zu küren und ihm obendrein einen Streich zu spielen, ahnen sie noch nicht, wie nah sie einem echten Abenteuer bereits sind…
Salopp und witzig erzählt Silke Lambeck das Großstadtabenteuer in einer modernen Sprache, die dem Lesealter der Kinder (ab 8 Jahren) angemessen ist. Dabei lässt sie den elfjährigen Matti selbst berichten. Erfrischend ehrlich schildert er seine Eindrücke und Ansichten von Schule und Familie. Aus Mattis Sicht nehmen die jungen Leser seine Umgebung wahr, erfahren die unmittelbare Bedrohung durch Immobilienhändler und deren dubiose Gehilfen, erleben den abenteuerlichen Ausflug von einem „besseren“ Kiez in einen Problembezirk und nehmen teil am entschlossenen, hilfsbereiten Handeln der Herren Kinder, wie sich Otto und Matti als Rapper nennen.
In ihrem Buch, welches das Großstadtleben vieler Kinder wirklichkeitsnah abbildet, spricht die Autorin in leichtem Ton gleich mehrere aktuelle Probleme an - vielbeschäftigte Eltern, Vorurteile, Gentrifizierung - und zeigt in unterhaltsamer Form, wie mit Freundschaft, Toleranz, Mut und Zusammenhalt einiges zum Guten bewirkt werden kann. Die zahlreichen Illustrationen von Barbara Jung ergänzen den Kinderroman auf harmonische Weise und tragen viel zum Lesevergnügen bei. Ihre gut durchdachten Zeichnungen zeugen ebenso von Mitgefühl und Humor wie der Text.
Mein Fazit: ein spannendes und witziges Kinderbuch vor aktuellem Hintergrund.

Veröffentlicht am 29.08.2018

Mit Tiefgang

Das Feld
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„Zum Schluss habe ich den letzten Vorhang gelüftet und gesehen: Dahinter ist nichts.“
Mit diesem Fazit meldet sich Hannes Dixon, Reporter und Herausgeber des Paulstädter Boten, zu Wort. Er ist einer der ...


„Zum Schluss habe ich den letzten Vorhang gelüftet und gesehen: Dahinter ist nichts.“
Mit diesem Fazit meldet sich Hannes Dixon, Reporter und Herausgeber des Paulstädter Boten, zu Wort. Er ist einer der Toten, die auf dem Feld, dem Friedhof in Paulstadt, ihre „Stimme“ erheben.
Neunundzwanzig ehemalige Paulstädter Bürger berichten aus ihrem Leben. Der Autor reiht ihre Schilderungen kommentarlos aneinander; doch finden sich in etlichen Erzählungen Bezüge zu vorangegangenen Kapiteln. Die Verstorbenen klagen nicht, sie ziehen Bilanz, geben Schlüsselszenen ihres Lebens oder sehr kurzgefasste Lebensbeschreibungen wieder - je nach Charakter knapp oder etwas ausführlicher. So entsteht kein Roman im herkömmlichen Sinn; skizzierte Lebensentwürfe verschiedener Kleinstadtbürger, die sich zu Lebzeiten mehr oder weniger gut kannten, setzen das Bild vom Leben in einer kleinen Gemeinde zusammen.
So kurz die einzelnen Kapitel gehalten sind, so knapp formuliert Seethaler auch seine Aussagen. In schlichter, ungeschönter Sprache lässt er die Verstorbenen für sich sprechen: von ruhigem Alltag, Erinnerungen an Katastrophen, von Geschäftsinteressen oder kleinen, scheinbar nebensächlichen Ereignissen. Doch von den scheinbar unkomplizierten Geschichten und der einfachen Sprache sollte man sich nicht täuschen lassen: Robert Seethalers Roman hat - wie bei ihm gewohnt - Tiefgang, er ist bestimmt kein „Leichtgewicht“.

Veröffentlicht am 12.08.2018

Früher war nicht alles besser

Ich bin nicht süß, ich hab bloß Zucker
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Renate Bergmann ist 82 Jahre alt, vierfache Witwe und leidet unter „Ossiporose“. Dennoch ist die rüstige Seniorin äußerst lebenslustig und interessiert an technischen Errungenschaften. Immerhin ist sie ...

Renate Bergmann ist 82 Jahre alt, vierfache Witwe und leidet unter „Ossiporose“. Dennoch ist die rüstige Seniorin äußerst lebenslustig und interessiert an technischen Errungenschaften. Immerhin ist sie auf „Fäßbuck“ aktiv, twittert lebhaft und kennt sich bestens mit dem „Händi“ aus. Bei Problemen ist Neffe Stefan behilflich. Einem aufmunternden Korn ist die alte Dame auch nie abgeneigt, und was sie so mit ihren Freunden oder dem Seniorenverein erlebt …
So plaudert sich Renate Bergmann alias Torsten Rohde durch viele Themen, die den Alltag von Senioren bestimmen. Sie erzählt aus ihrer Vergangenheit, Krieg und Wiederaufbau („Wir hatten keine Zeit für Börnout“), freut sich über die Neuigkeiten in der Yellow Press, erwägt das Für und Wider des Mauerfalls, hatte aber „mit Politik … noch nie was am Hut“. Sehr ehrlich beschreibt sie ihre Mitmenschen, ihr Verhältnis zu ihnen und übt auch mal Kritik. Frei von der Leber weg, oft mit unfreiwilliger Komik, kommentiert die alte Dame Menschen, Ereignisse und Probleme und kommt dabei vom „Hölzchen aufs Stöckchen“.
Ein Büchlein aus der Feder einer Oma, die fest mit beiden Beinen im Leben steht; eine vergnügliche, unkomplizierte Lektüre für zwischendurch.

Veröffentlicht am 09.08.2018

Kind im Exil

Du springst, ich falle
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Es ist kein neues, aber immer aktuelles Thema , das Maryam Madjidi in ihrem Debütroman behandelt: das Suchen nach der eigenen Identität und der Zugehörigkeit von Kindern, die im Exil aufwachsen.
Als Sechsjährige ...

Es ist kein neues, aber immer aktuelles Thema , das Maryam Madjidi in ihrem Debütroman behandelt: das Suchen nach der eigenen Identität und der Zugehörigkeit von Kindern, die im Exil aufwachsen.
Als Sechsjährige landet Maryam mit ihren Eltern nach der Flucht aus dem Iran in Paris. Ohne Sprachkenntnisse muss sie sich dort an der Schule zurechtfinden. Geplagt von Heimweh und Sehnsucht nach ihrer Großmutter verstummt sie zunächst. Dann jedoch absolviert das Mädchen sehr erfolgreich Schule und Studium und schafft schließlich, was ihren Eltern nicht wirklich gelingt: sie ist „integriert“. Ihre Muttersprache Farsi lehnt sie ab. Erst als Erwachsene wird ihr das Dilemma wirklich bewusst: gehört sie nun zu Frankreich oder zum Iran? Wo ist ihre Heimat?
In leichter, schlichter Sprache schildert Madjidi ihre drei „Geburten“, wie sie die einzelnen Kapitel betitelt. Aneinander gefügte Episoden und poetische, märchenhaft anmutende Szenen bilden eine autobiografische Erzählung; die Beobachtungen und Ängste aus Kindersicht wirken unmittelbar und ohne Pathos. Eine chronologische Reihenfolge hält die Autorin nicht ein, vielleicht ebenfalls ein Zugeständnis an kindliches Erleben. Vor dem Hintergrund der brutalen Unterdrückung und Verfolgung im Iran erzählt Madjidi ihre eigene Geschichte, stellvertretend für viele andere Exilanten.