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Veröffentlicht am 03.09.2021

Lebendige Geschichte

Dreieinhalb Stunden
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Diese Situation mag man sich gar nicht vorstellen. Da fährt ein Zug von München nach Ostberlin, du weißt, sie bauen eine Mauer und wenn du bis ans Ziel fährst, kommst du nie wieder zurück. In dreieinhalb ...

Diese Situation mag man sich gar nicht vorstellen. Da fährt ein Zug von München nach Ostberlin, du weißt, sie bauen eine Mauer und wenn du bis ans Ziel fährst, kommst du nie wieder zurück. In dreieinhalb Stunden ist die Grenze dicht. Osten oder Westen, wo möchtest du leben? Im Interzonenzug D-151 schlägt die Nachricht über den Mauerbau ein wie eine Bombe.

In kürzester Zeit muss eine Lebensentscheidung gefällt werden, das ist nicht leicht. Gerd brennt dafür, Flugzeuge zu bauen, was in der DDR nicht sehr weit oben auf der Prioritätenliste steht. Seine Frau Marlis glaubt noch immer, dass das sozialistische System ein besseres Leben für alle bewirken kann und möchte sich dafür einsetzen. Was machen sie jetzt? Sollen sie sich trennen? Müssen sie sich trennen? Was wird aus den Kindern?

Hier lernt man so einige Menschen kennen und begleitet sie bei dieser schicksalhaften Entscheidung. Sehr lebendig zeichnet Robert Krause einen ganzen Strauß Personal, Lebenswege, die sich kreuzen, die verbunden sind, mal mehr und mal weniger, deren Vergangenheit und Familiengeschichten.
Man wird sofort hineingezogen in dieses Katastrophenszenario, ist ganz nah dran und leidet mit. Die Perspektiven wechseln ständig und sind kunstvoll verknüpft. Man könnte sich über das ein oder andere Bisschen zu viel an Dramatik streiten, das sollen andere tun.

Dieses Buch zeigt einem, wie unfassbar spannend deutsche Geschichte sein kann und führt einem vor Augen, dass selbst in einem zivilisierten, wohlgeordneten Land absurde Entscheidungen zum Tragen kommen können. Wie kann man nur ein Land durch eine Mauer abriegeln?

Der Bau der Berliner Mauer ist heute zum Glück kein Thema mehr, aber auf jeden Fall ein Ereignis, das nicht in Vergessenheit geraten sollte. Dazu liefert dieses Buch einen wertvollen Beitrag, es ist fesselnd und erschütternd, lebendige Geschichte.

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Veröffentlicht am 03.09.2021

Kunterbunt und klug

Mein Sternzeichen ist der Regenbogen
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Rafik Shami erzählt Geschichten und zeigt uns, dass er erzählen kann (Ok, wir wussten das schon )


In diesem Buch veröffentlicht er eine Sammlung an Geschichten, die sich anfangs mit Geburtstagen beschäftigen. ...

Rafik Shami erzählt Geschichten und zeigt uns, dass er erzählen kann (Ok, wir wussten das schon )


In diesem Buch veröffentlicht er eine Sammlung an Geschichten, die sich anfangs mit Geburtstagen beschäftigen. Es ist wirklich witzig, wie ein jüngerer Rafik vergeblich versucht, seinen Geburtstag herauszufinden, der in der syrischen Kultur keinen großen Stellenwert hat. „Mein Sternzeichen ist der Regenbogen“ ist das diplomatische Fazit dieser Suche.

Dann geht es weiter, kunterbunt, quer durch alle Themen dieser Erde. Es gibt Spitzfindiges, Satirisches, Kluges, Albernes, sogar Absurdes oder auch Märchenhaftes.
Wir reisen nach Italien, Syrien, Deutschland, in den Libanon – „aber das ist eine andere Geschichte“.

Wir sinnieren über den Bezug verschiedener Religionen zum Lachen, besuchen ein Festival für Kunstpfurzer, leben, lieben und betrügen und stellen fest: Überleg dir gut, was du dir wünschst, du könntest es bekommen.

Das ist alles fein, klug, unterhaltsam und wunderbar erzählt, es fehlt nur ein wenig der rote Faden, der diese Geschichten verbindet. Sie wirken etwas wahllos zusammengewürfelt.

Das Hörbuch liest Wolfgang Berger souverän 8 Stunden, 39 Minuten lang. Ich hätte mir etwas längere Pausen zwischen den einzelnen Geschichten gewünscht. Man muss sehr aufpassen, wo die eine aufhört und die andere anfängt. Ein musikalisches Zwischenspiel hätte sich da vielleicht gut gemacht – haben wir nicht, schade.

Dieses Buch ist kluge Unterhaltung für Zwischendurch. Ich habe es gerne gehört.

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Veröffentlicht am 03.09.2021

Tolle Milieustudie, ein Roman mit Längen

Harlem Shuffle
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Colson Whitehead kann meisterhaft erzählen. Er kann sich in eine Zeit einfühlen und darin schwelgen, unfassbar detailreich Zeitkolorit und Atmosphäre erschaffen. Leider macht Atmosphäre allein noch kein ...

Colson Whitehead kann meisterhaft erzählen. Er kann sich in eine Zeit einfühlen und darin schwelgen, unfassbar detailreich Zeitkolorit und Atmosphäre erschaffen. Leider macht Atmosphäre allein noch kein gutes Buch.

Hier sind wir in Harlem in den 60er Jahren, wo eigene Regeln herrschen und sich Kleinkriminelle oder auch Größere tummeln und wo man sich behaupten muss.

Carney hat ein Geschäft für Gebrauchtmöbel und ab und an auch andere Gebrauchtwaren. Er möchte ein rechtschaffener Geschäftsmann sein, aber das ist nicht so leicht, wie man meint. Immer wieder kommt sein Cousin Freddie mit Ideen oder heißer Ware. Schnell wird man in krumme Dinge hineingezogen, manchmal kann man sich auch freikaufen, bis man sich schließlich freikaufen muss.

In Harlem ist es schwer, ein ehrlicher Mann zu sein und zu bleiben. Die Gesellschaft dort bildet ein kompliziertes Geflecht aus Abhängigkeiten, die sich nach Einfluss, Hautfarbe, Familie oder Muskelkraft richten. Da gibt es nicht nur schwarz und weiß, sondern auch kaffeebraun in allen Schattierungen.

Das ist hoch interessant, so etwa 150 Seiten lang, dann hat man es verstanden, hat aber noch nicht einmal die Hälfte des Buches gelesen. Immer mehr zwielichtige Gestalten treten auf, deren Background beleuchtet wird, aber es passiert nicht so wirklich was.
Es gibt zahlreiche Rückblenden, Hintergründe, familiäre Befindlichkeiten, historische und politische Analysen oder Anekdoten, nur Handlung gibt es kaum.

Vielleicht muss man dieses Buch als Milieustudie betrachten. In dieser Hinsicht ist es grandios. Als Roman hat es Längen. Zu viel Drumherum verschleiern die sparsame Handlung und dem Helden kommt man nicht so recht nahe.

Dieses Buch hat mich anfangs beeindruckt, dann aber sehr gelangweilt.

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Veröffentlicht am 03.09.2021

Weder Zeitverschwendung noch Mustread

Im Reich der Schuhe
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Eigentlich ist dieses Buch hoch interessant. Da kennt sich jemand aus und erzählt glaubhaft, wie es ist, in China zu leben.

Es geht um eine Schuhfabrik, um skrupellose Industrielle, die das Volk ausbeuten. ...

Eigentlich ist dieses Buch hoch interessant. Da kennt sich jemand aus und erzählt glaubhaft, wie es ist, in China zu leben.

Es geht um eine Schuhfabrik, um skrupellose Industrielle, die das Volk ausbeuten. So wie Alex Vater, der sein Unternehmen extra in China aufbaute, weil die politischen Strukturen höchst profitable Produktionsbedingungen bieten. Die Arbeiter werden mit gnadenloser Menschenverachtung behandelt, wogegen Alex etwas unternehmen möchte. Im Untergrund brodelt es eh schon.

Hier lernt man beide Seiten kennen. Alex, seinen Vater und familiären Hintergrund, aber auch die Arbeiterin Ivy, die Alex zeigt, wie ihr Leben aussieht, nur leider wird hier niemand lebendig.
Mit einiger Weitschweifigkeit aber nahezu ohne Emotionen berichtet Alex von den Ereignissen, von seiner Vergangenheit und von seinen Gedanken, aufschlussreich aber langweilig. Es ist erstaunlich, wie man ein hoch spannendes Thema so öde präsentieren kann. Der Erzählstil ist schön, aber man hat lange das Gefühl, man kommt gar nicht vom Fleck.

Im letzten Drittel des Buches nimmt die Handlung dann Fahrt auf, verliert aber auch jede Glaubwürdigkeit, wenn Alex trotz sorgfältig angelegter Hilflosigkeit zum Superhelden mutiert und mit einem neuen Schuhmodell die chinesische Politik reformieren will.

Dieses Buch hat gute Anlagen, schafft es aber nicht den Leser zu fesseln und geht zum Ende hin auch noch im Pathos unter. Es ist keine Zeitverschwendung, aber auch kein Mustread, immerhin ein aufschlussreicher Ausflug nach China.

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Veröffentlicht am 31.08.2021

Verstörend, aber auch witzig und genial

Die Anomalie
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Dieses Buch ist kompliziert, verstörend, erlesen komponiert, großartig erzählt und absolut genial. Ich höre es gerade sogar zum zweiten Mal, weil man im ersten Durchgang die vielen Details gar nicht ausreichend ...

Dieses Buch ist kompliziert, verstörend, erlesen komponiert, großartig erzählt und absolut genial. Ich höre es gerade sogar zum zweiten Mal, weil man im ersten Durchgang die vielen Details gar nicht ausreichend würdigen kann.

Es fängt an wie jeder anständige Katastrophenfilm: Wir lernen viele Menschen kennen. Unterschiedlichste Schicksale sind verbunden mit dem Flug einer Air-France Maschine von Paris nach New York. Anfangs meint man fast, eindrucksvolle Kurzgeschichten zu lesen, bis dann doch ein roter Faden sichtbar wird.
Der Stil ist sagenhaft: Wunderbare Beschreibungen, originelle Vergleiche und süffisanter Humor sorgen dafür, dass man jede einzelne Figur plastisch vor Augen hat und sich dabei köstlich amüsiert.

Das Personal ist allerdings umfangreich und vielseitig. Da wären zum Beispiel Joana, die Anwältin, Adrian, der Wahrscheinlichkeitstheoretiker, Slimboy, der Sänger aus Lagos oder Victor Miselle, der Autor, der den Bestseller „Die Anomalie“ schrieb, bevor er im April 2021 Selbstmord beging. Oder nicht?

Als im Juni besagte Air-France Maschine um Landeerlaubnis bittet, ist er quicklebendig an Bord. Wie kann das sein?

Dieses Buch spielt mit einer höchst schrägen Idee und tischt dazu jede Menge wissenschaftlich-philosophische Theorien auf. Es ist kompliziert in Theorie und Ausführung, aber es macht unglaublichen Spaß. Ich habe es voller Ehrfurcht geschlürft.

Das Hörbuch dauert 10 Stunden und 14 Minuten. Camill Jammal liest es sehr sympathisch mit genau der richtigen Mischung aus Souveränität und Humor.

Mit diesem Buch habe ich einen neuen Lieblingsautor entdeckt. Ich bin zutiefst beeindruckt.

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