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Veröffentlicht am 15.08.2024

Sollte Schullektüre werden

Die schönste Version
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Während häusliche Gewalt gerne in die asoziale Ecke gestellt wird und bestenfalls als Randerscheinung Beachtung findet, kommt Ruth-Maria Thomas daher, schreibt dieses Buch und legt den Finger genau auf ...

Während häusliche Gewalt gerne in die asoziale Ecke gestellt wird und bestenfalls als Randerscheinung Beachtung findet, kommt Ruth-Maria Thomas daher, schreibt dieses Buch und legt den Finger genau auf die Wunde. Schenkt es all euren Töchtern, vielleicht auch den Söhnen, gebt ihm den Buchpreis, es sollte Schullektüre werden.

Jella ist jung, verstört und verzweifelt. Wie konnte es passieren, dass Yannick, den sie liebt, mit dem sie zusammenlebt und dem sie vertraut hat, sie brutal angegangen ist und sogar gewürgt hat? Es war nicht nur ein Streit, das war ein Mordversuch. Natürlich tat es ihm dann leid, aber kann man so ein Verhalten verzeihen? Du bist beinahe erstickt, hoppla, entschuldigung?

Jella ist traumatisiert und erzählt, wie es so weit kommen konnte. Es geht um Liebe und um Obsession, ums Erwachsenwerden und um Selbstfindung. Sie ist Mädchen und Frau gleichzeitig und erklärt uns genau, wie sich das anfühlt. Frausein ist keine Altersfrage, man muss sich einleben, sich und seine Umwelt in einer neuen Rolle erkunden, ist unsicher aber auch neugierig. Es gibt keinen Leitfaden für diese Findungsphase. Was ist für mich ok in Liebesdingen? Was finde ich schön, was nicht so? Muss man ihm zuliebe mitspielen, selbst wenn es nicht so prickelnd ist, was er von mir möchte? Wo ist die Grenze und wann muss ein NEIN deutlich ausgesprochen werden?

All das sind wichtige, schambehaftete Fragen, über die niemand spricht, höchstens die beste Freundin, die es halt auch nicht besser weiß. Es ist aber wichtig, dass Frau bewusst wird, dass NEIN eine Option ist, immer und überall.

Ruth-Maria Thomas erklärt es uns eindringlich, berührend und in aller Deutlichkeit, in einer grandiosen Sprache, die ganz genau trifft. Sie ist mal zart, mal poetisch, kann aber auch rotzig-drastisch werden, fesselt maximal und nennt die Dinge beim Namen. Dieses Buch hätte ich gerne gelesen, als ich 20 war.

Lili Zahavi liest das Hörbuch ganz wunderbar, man hat das Gefühl, Jella schüttet einem persönlich ihr Herz aus. Es dauert 6 Stunden und 16 Minuten.

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Veröffentlicht am 13.08.2024

Klug, bissig und unterhaltsam

Glück
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Was braucht Frau eigentlich, um glücklich zu sein?

Am Anfang dieses Buches dachte ich noch, okay, verstanden, verschiedene erfolgreiche Frauen hadern damit, dass ihr Kinderwunsch der Karriere weichen ...

Was braucht Frau eigentlich, um glücklich zu sein?

Am Anfang dieses Buches dachte ich noch, okay, verstanden, verschiedene erfolgreiche Frauen hadern damit, dass ihr Kinderwunsch der Karriere weichen musste. Und die Uhr tickt. Das ist bedauerlich aber nicht so richtig neu. Will ich das wirklich lesen? Der süffisante Erzählstil macht aber dann doch Lust auf mehr.

Wir lernen ein paar Frauen kennen, die mitten im Leben stehen, sogar eigentlich auf der Sonnenseite. Sie sind alle klug, bissig ironisch und gnadenlos ehrlich zu sich selbst und haben alle das Gefühl, da fehlt irgendwas, für ein Kind war nie Zeit und der Richtige war nie ganz richtig.

Habe ich den Zug verpasst, oder habe ich es nur nicht geschafft, den Erwartungen der Gesellschaft gerecht zu werden? Will ich wirklich Kinder oder will ich der Norm entsprechen? Ist es erfüllend, mit der Herde zu laufen oder könnte es mir in einer kuscheligen Nische auch ganz gut gehen? Und dann auch noch: Ist es fair, dass es eine Deadline für Frauen gibt, die ihnen mit vierzig gnadenlos den Altejungfernstempel verpasst, bei Männern schert sich niemand um den Familienstand.

Darüber denkt man hier nach und ändert immer wieder den Blickwinkel. Die Frauen stehen alle in einer Beziehung zueinander und zeigen uns immer direkt die andere Seite der Medaille.

Am Ende hat man tatsächlich eine Art Familiengeschichte gelesen, nur geht sie nicht so aus, wie erwartet. Dafür fängt man aber an, seine Erwartungen zu überdenken. Es ist ein kluges Buch!

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Veröffentlicht am 11.08.2024

Viel Leid und viel Geisterzauber

So gehn wir denn hinab
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„Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt“ hat mich schwer beeindruckt und ich war mir sicher, dass dieses Buch mindestens so umwerfend sein müsste. Es ist auf jeden Fall intensiv und atmosphärisch, aber ...

„Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt“ hat mich schwer beeindruckt und ich war mir sicher, dass dieses Buch mindestens so umwerfend sein müsste. Es ist auf jeden Fall intensiv und atmosphärisch, aber für meinen Geschmack ein bisschen viel davon.

Annis ist ein Sklavenmädchen, das zusammen mit ihrer Mutter in einem Herrenhaus Sklavendienste verrichtet und ein trauriges Sklavendasein führt, voller Schikanen und Grausamkeiten. Sie werden getrennt, werden verkauft, gequält und gedemütigt. Jesmyn Ward versteht es meisterhaft, höchst plastisch Leid zu schildern.

Allein und hungrig in einem fremden Haus hält Annis nur noch die Erinnerung an die Liebe ihrer Mutter aufrecht und die Erinnerungen an deren Geschichten von Oma Aza, die einst eine afrikanische Kriegerin war, bevor sie verschleppt wurde und ihrer Familie die Versklavung vererbte. In höchster Verzweiflung kann sie sogar deren Geist anrufen, oder ist es ein anderer Geist, der die Gestalt der Großmutter angenommen hat?

An dieser Stelle wird das Buch für mich schwierig. Es hat natürlich einen mystischen Charme, wenn Annis von Elementargeistern aus der Vergangenheit begleitet wird, die eine Verbindung zu ihren Ahnen bilden, ihr sogar beistehen und gleichzeitig Zeugen von Leid durch Jahrhunderte sind. Nur öffnet das auch Tür und Tor für überbordende Schlenker, die mir dann deutlich zu viel wurden. Irgendwann wird Annis nur noch von allerlei Elementarem durchgeschüttelt.

„Ich will schon aufstehen und winken, mich auf den Rückweg in die wohlbekannte Hölle machen, doch da rauscht ein Strom durch meine Eingeweide, durch die weichen Körperteile, die nach meinem Tod als Erstes verfaulen werden. Brausend steigt er hoch in meinen Brustkorb, bis in den Schlauch meiner Kehle, bis in meinen Kopf. Auch hier ist das WASSER.“

So etwas beschreibt kunstvoll und plastisch den Vorgang des Ertrinkens, natürlich, beeindruckt wahrscheinlich auch viele, nur mein Geschmack ist das nicht.

Diese Geschichte verliert im letzten Drittel des Buches die Bodenhaftung, erstickt eine schöne Idee in pathetischem Geisterzauber. Jammerschade.

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Veröffentlicht am 05.08.2024

Hoch interessant und ausführlich

Das Wesen des Lebens
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Dieses Buch ist auf jeden Fall wunderbar erzählt und informativ. Von der Stellerschen Seekuh hatte ich noch nie gehört. Hier ist man dabei, wie sie entdeckt und direkt ausgerottet wird und sitzt in der ...

Dieses Buch ist auf jeden Fall wunderbar erzählt und informativ. Von der Stellerschen Seekuh hatte ich noch nie gehört. Hier ist man dabei, wie sie entdeckt und direkt ausgerottet wird und sitzt in der ersten Reihe.

Es ist 1741 als Kapitän Vitus Bering den „Naturforscher, Theologen und seltsamen Kauz“ Georg Wilhelm Steller engagiert, seine neuste Reise ins Nordpolarmeer zu begleiten. Von Kamtschatka ins Unbekannte, um neue Ufer zu erforschen und zu kartographieren. Steller ist ein Besessener und entdeckt ein riesiges Tier, das niemand je gesehen hat. Man kann es leicht töten, aber nur schwer bergen. Nach ein paar hundert Fehlversuchen können die Entdecker feststellen, dass die Stellersche Seekuh höchst schmackhaft, ihr Fett höchst brauchbar und ihr Vorkommen unbegrenzt ist. Hundert Jahre später gibt es sie nicht mehr, dafür jagt man jetzt Riesenalke, die sind auch lecker.

Welche Auswirkung können menschliche Obsessionen auf die Natur haben, was bewirkt Ignoranz und Borniertheit und werden wir je lernen, achtsam mit unserer Umwelt umzugehen? Diesen Fragen geht man hier sehr anschaulich nach und serviert hübsch zubereitete historische Häppchen. In wunderbarer Sprache, mit einem leicht süffisanten Unterton legt Iida Turpeinen alle Fakten auf den Tisch, macht lang vergessene Forscher und Abenteurer lebendig. Das Lesen könnte ein großer Spaß sein, wäre es nicht alles so unglaublich ausführlich. Bis etwa zur Hälfte des Buches habe ich mich noch an tausenderlei absonderlichen historischen Details erfreut. Aber dann wünscht man sich doch irgendwann, die Autorin würde mal zum Punkt kommen. Stattdessen wechselt sie das Jahrhundert und wartet mit neuerlichen detaillierten Berichten auf.

Dies ist ein interessantes, unglaublich akribisch recherchiertes Buch zu einem wichtigen Thema, toll erzählt nur leider viel zu ausführlich. Ich habe viel gelernt, aber auch viel überblättert.

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Veröffentlicht am 30.07.2024

allerlei Wiener Geschichten

Der Modesalon des Glücks
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Vor ewigen Zeiten habe ich Eva Ibbotson entdeckt und mochte ihre Bücher sehr. Inzwischen gelten sie wohl als Klassiker und werden vom Kampa Verlag neu aufgelegt. Ich war sehr neugierig, wie ich das Lesen ...

Vor ewigen Zeiten habe ich Eva Ibbotson entdeckt und mochte ihre Bücher sehr. Inzwischen gelten sie wohl als Klassiker und werden vom Kampa Verlag neu aufgelegt. Ich war sehr neugierig, wie ich das Lesen jetzt empfinde, wo sich mein Buchgeschmack doch etwas geändert hat.

Schon auf den ersten Seiten wusste ich wieder, was mir damals so gefallen hat. Eva Ibbotson macht alte Zeiten lebendig und zieht einen hinein. Wir sind in Wien 1911 in Susannas Modesalon. Da trifft sich die Wiener Gesellschaft, vielleicht nicht die allerhöchsten Adelskreise, aber schon jeder, der auf sich hält und ein bisschen Geld hat, ein Hauch Boheme, gestandene Bürger und auch die, die mal Geld hatten gehen noch immer zu Susanna. Die Gräfin Metz zum Beispiel zahlt ihre neue Garderobe mit fragwürdigen Antiquitäten und strapaziert Susannas Geduld.

Hier hat jede Figur eine Geschichte und es kommen wirklich viele zu Susanna, die auch selbst einiges durchstehen musste, bevor sie die wurde, die sie jetzt ist. Auch das ist typisch für Ibbotsons Bücher. Sie spinnt viele Geschichten in ihre Geschichte, die alle interessant sind und ein buntes Gesamtbild mit ganz viel Zeitkolorit ergeben.

Vielleicht ist Susanna die Spur zu schön und begabt, die Spur zu gutmütig und einen Hauch zu hilfsbereit. Das sind aber dann tatsächlich die einzigen Plattitüden, die man in diesem Buch findet. Hier geht es um Menschen mit Ecken und Kanten, um Schicksale und Kuriositäten, und um Wien ohne Kitsch oder Praterseligkeit.

Man braucht ein bisschen Geduld für dieses Buch, aber wenn man bereit ist, sich darauf einzulassen, bekommt man einen wunderbaren historischen Roman, der sich leicht liest, ohne seicht zu werden. Ich habe es sehr gerne gelesen.

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