Marie Luise Lehners Roman "Im Blick" verspricht laut Klappentext eine Erzählung "vom Schauen und vom Angeschautwerden, von Rollen, in die Frauen gedrängt werden, und von alltäglicher sexueller Gewalt. Minutiös zeichnet sie die Momente nach, in denen Frauen in unangenehme, oft gefährliche Situationen geraten, und lässt Wut in ihren Figuren aufkeimen. Eine Wut, die groß genug ist, um gegen Sexismus zu kämpfen."
Inhaltlich und formal trifft diese Beschreibung zwar, wurde jedoch nur ansatzweise umgesetzt. Die Autorin lässt die Ich-Erzählerin auf zwei Zeitebenen erzählen. Zum einen sind da Rückblenden in die Jugend mit der besten Freundin Anja, wie sie zusammen aufwachsen, in die Pubertät kommen, erste sexuelle Erfahrungen machen und die Protagonistin sich outet. Zeitlich orientieren sich die Rückbleden an Jahren, beginnend bei zehn Jahren bis hoch in die zwanzig. Trotz der groben Einteilung wirken sie assoziativ, unzusammenhängend und beschreiben plakativ einzelne Situationen, oftmals ohne nähre Beleuchtung. Zum anderen erzählt sie von der On-/Off-Beziehung in der Gegenwart, die einvernehmlichen Sex, Zuneigung, Sicherheit und Geborgenheit thematisieren.
Im ersten Teil des Romans thematisiert die Autorin wichtige Themen, sie beschreibt durch konkrete Situationen, welchen Erwartungen sie und ihre Freundin Anja sich ausgesetzt fühlten, welche Rollen sie einnahmen und einnehmen sollten. Bereits wenn die ersten sexuellen Erfahrungen geschildert werden, fällt auf, dass Sex nicht immer einvernehmlich ist und einige Mädchen überfordert sind. Während die Freundinnen vergewaltigt oder zum Sex gedrängt werden, wählt die Protagonistin, Feministin und links, ihre Sexpartnerinnen selbstbewusst.
Je älter die beiden Mädchen werden, desto mehr sexuelle Übergriffe werden beschrieben, bis es sich ausschließlich um die Aneinanderreihung derer handelt. Dabei spielen Alkohol, Drogen und das Mitgehen mit Fremden trotz Unwohlsein oftmals eine Rolle. Während die Erzählerin ihr Verhalten als Kampf um ihre Freiheit sieht, setzt sie sich diesen Situationen aus, und entwickelt gleichzeitig eine enorme Wut auf die Männer, die sich übergriffig verhalten.
Dabei wird leider nicht kritisch oder reflektiert mit sexuellen Übergriffen und Rollenzuschreibungen umgegangen. Vielmehr vermittelt Marie Luise Lehner das Bild, dass Frauen und Mädchen nicht allein draußen sein oder allein mit einem Mann im Aufzug fahren können. Alle ihre Freundinnen, jedes Mädchen, das sie kennt wurde vergewaltigt oder zum Sex gedrängt. Es entsteht eine enorme, plakative Wut, die sich jedoch nicht auflöst in Kritik, Reflexion und einen bewussten Umgang mit und gegen den Sexismus (im Alltag) und Belästigung. Stattdessen bleibt sie bis zum Schluss bestehen.
Wie zu Beginn angedeutet, scheint die gegenwärtige Liebesbeziehung als Gegenpol zu den Erfahrugen in der Jugend zu stehen, allerdings wird deren Bedeutung an keiner Stelle so dargestellt.
Während die Autorin Machtstrukturen, Geschlechterkonventionen und Grenzüberschreitungen im Alltag anprangert, prangert sie die Männerwelt als Ganzes an, entwickelt Wut und richtet sie in einem aggressiven Tonfall gegen sie. Leider überzeugt mich diese Denkweise des Feminismus so gar nicht, sondern stumpft mich durch den plakativ aggressiven Tonfall und das fehlende Diskussionsangebot eher ab.