Ein Haus mit vielen Gesichtern
Ein Lied für die VermisstenDer Einstieg in diesen Roman von Pierre Jarawan ist mir nicht leicht gefallen. Man braucht vorallem Zeit, Konzentration und sollte nicht parallel lesen, wenn man sein neues Buch "Ein Lied für die Vergessenen" ...
Der Einstieg in diesen Roman von Pierre Jarawan ist mir nicht leicht gefallen. Man braucht vorallem Zeit, Konzentration und sollte nicht parallel lesen, wenn man sein neues Buch "Ein Lied für die Vergessenen" zur Hand nimmt.
Pierre Jarawan erzählt in seiner wundervollen poetischen Sprache vom Schicksal des heranwachsenden Amin, der nach dem Tod seiner Eltern bei seiner Großmutter in Deutschland aufwächst. 1994 kehrt sie mit ihm in den Libanon zurück und eröffnet in Beirut ein Café. Er streift zuerst alleine durch die Straßen und Gassen der Stadt, bis er in Jafar einen Freund findet. Amin sieht sich einer Kultur und Herkunft gegenüber, die er in Europa nur teilweise kennengelernt hat. Vorallem aber fehlt ihm der Bezug zum Bürgerkrieg und der Geschichte der Besetzung des Libanons durch die Syrier. Eines weiß er aber mit der Zeit, nämlich dass es in diesem Land nie eine Gewissheit gibt - weder über die Geschichte seiner Familie, noch über die Vergangenheit seines Freundes Jafar....
Man taucht ein in die orientalische Atmosphäre und den teilweise märchenhaften Erzählungen, die oftmals an 1001 Nacht erinnern...wäre da nicht der Krieg und die andauerne Furcht der Menschen. Amins Großmutter hat fast täglich Besuch von Personen, die Amin, mit Ausnahme von Abbas, dem Raupenzüchter, nicht kennt und denen sie mehr Zeit widmet, als ihren Enkelsohn. Ganz anders als in Deutschland, wo sie ein zurückgezogenese Leben führten - die Wohnung nur spärlich eingerichtet, wie eben erst angekommen - und kaum Besuch hatten, lernt Amin eine andere Seite seiner Großmutter kennen, die einmals eine gefeierte Malerin war. Sie schickt ihn ins Nationalmuseum, wo er mehr über die Geschichte des Libanons erfahren und bei den Aufräumarbeiten des zerstörten Gebäudes helfen soll. Dort lernt er Saber Mounir kennen, dem ehemaligen Verantwortlichen der Bibliothek. Von seinen Büchern blieb nur Staub übrig....doch auch darin kann er Geschichten lesen. Amin lernt die Kunst der Hakawati, der Straßenkünstler, die Geschichten erzählen, kennen. Diese Gabe des Geschichten erzählens hat auch Jafar, der damit am Flohmarkt seine Waren verkauft.
"Unser Land ist wie ein Haus mit vielen Gesichtern" - Zitat von Amins Großmutter, Seite 200
Pierre Jarawan erzählt nicht chronologisch, sondern springt in den Zeiten hin und her. Dies macht den Roman vorallem im ersten Teil etwas schwierig zu lesen, denn die Zeitensprünge sind nicht gekenntzeichnet und erfolgen oft wie spontan. Diese Erzählweise hatte ich erst vor kurzem auch bei Saša Stanišić in seinem Roman "Herkunft", wo es mir ebensolche Probleme bereitete. Ich lese zwar viele Romane mit verschiedenen Zeit- und Handlungsebenen und habe damit überhaupt keine Probleme, aber in diesen Geschichten sind sie immer gekenntzeichnet und die Zeitspannen sind länger. Hier wird oftmals auf wenigen Seiten in den Zeiten gewechselt, was ich mühsam fand.
Die Handlung entfaltet sich sehr langsam. Es werden Symbole eingeflochten und Themen angesprochen, die später wiederum aufgegrffen werden.
Wie ein roter Faden zieht sich auch ein besonderes Gemälde, das Amins Mutter während ihres Studiums in Paris gemalt hat, durch die gesamte Geschichte.
Thema ist ebenfalls immer wieder die politische Willkür, die noch immer herrscht. Das Land ist nach wie vor nicht zur Ruhe gekommen. Trotz der düsteren Grundstimmung findet man sich in einer eher märchenhaften Erzählung, die über Freundschaft, Familie und Geheimnisse erzählt.
Eine besondere Stimme gibt der Autor den tausenden Vermissten, dessen Verschwinden nie aufgeklärt wurde. Seit dem Bürgerkrieg sind 17.000 Menschen bis heute spurlos verschunden.
Schreibstil:
Der Schreibstil ist poetisch, erfordert aber höchste Konzentration. Trotz der etwas düsteren Grundstimmung ist die Geschichte vorallem durch ihre märchenhaften Erzählungen stimmig und voller Geheimnisse. Die Freundschaft zwischen Jafar und Amin gibt den Rahmen rund um die Geschichte.
Der Roman ist in drei Teile geteilt, die der Autor bezugnehmend auf den Titel "Ein Lied für die Vermissten" in die erste, zweite und dritte Strophe nennt.
Noch ein Wort zum wunderschönen Cover. Klappt man das Buch auf, kann man erahnen, dass das Gesicht auf dem Titelbild ein Gemälde auf einem Haus ist, das in Beirut steht.
Fazit:
Ein anspruchsvoller Roman über das Finden seiner eigenen Herkunft, von Geheimnissen, Freundschaft und ein Erinnern an die vergessenen Menschen des Bürgerkrieges im Libanon. Man benötigt Zeit und Konzentration für diese Geschichte, damit sie sich richtig entfalten kann. Auch wenn ich ab und zu meine Schwierigkeiten hatte, ist es ein Roman, der durch seine Besonderheit im Gedächtnis bleibt und den ich gerne gelesen habe.