Entfaltet erst im letzten Drittel sein Potential
Jahre aus SeideDie neue Familiensaga von Ulrike Renk hat biografische Züge. Zugrunde liegt das Tagebuch von Ruth Meyer, welches die Autorin zum Anlass nahm und die bewegende Geschichte der jungen Frau niederschrieb.
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Die neue Familiensaga von Ulrike Renk hat biografische Züge. Zugrunde liegt das Tagebuch von Ruth Meyer, welches die Autorin zum Anlass nahm und die bewegende Geschichte der jungen Frau niederschrieb.
Gleich vorweg: Man sollte bedenken, dass dieser erste Band in den Jahren 1926 bis 1938 spielt und Ruth in weiten Teilen des Romans noch ein Kind ist. Es ist ein Trilogieauftakt, der anders ist, als die Bücher in denen es um jüdische Familien geht. In diesen Romanen steigt der Leser meistens um das Jahr 1936 ein, wo die Repressalien gegen die Juden bereits beginnen oder begonnen haben. Hier sind wir viel früher dabei und begleiten Ruth als Kind. Deswegen ist der Einstieg eher ruhig und dies bleibt auch ungefähr die Hälfte des Buches so. Man verfolgt größtenteils den Alltag der Familie Meyer. Als Einstieg in die Trilogie fand ich diese Darstellung der behüteten Kindheit, die erst spät endet, gut gewählt, jedoch war auch mir der Part um Ruths Kindheit etwas zu lang und ereignislos.
Vater Karl ist ein erfolgreicher Schuhverkäufer, der oft die ganze Woche unterwegs ist. Mutter Martha ist Hausfrau und erhält Unterstützung vom Kindermädchen Leni und der Köchin Regina Jansen. Sie möchte ihren Töchtern eine bessere Mutter als ihre eigene sein. Chauffeuer Hans Aretz wird sehr schnell unersetzlich und gehört bald zur Familie. Ruth und ihre kleine Schwester Ilse wachsen sehr behütet auf. Man erfährt wie Ruth nähen lernt, sich mit der Tochter aus dem Nachbarhaus anfreundet und sie durch Rosie auch christliche Bräuche kennenlernt. Es gibt viele Gesellschaften bei Familie Meyer und man sollte beim Lesen nicht hungrig sein, denn gegessen wird viel und gut. Die jüdische Familie ist allseits beliebt und weltoffen. Sie praktiziert den jüdischen Glauben nur am Sabbath und zu Channukah und sie haben Freunde aus unterschiedlichen Schichten und Religionen. Gefallen hat mir der Einblick in die jüdischen Traditonen und wie die Autorin gekonnt den Unterschied (besonders an Weihnachten) zwischen Christen- und Judentum aufzeigt. Hier habe ich viel Neues und Interessantes erfahren.
Der Zwiespalt der jüdischen Bevölkerung, die sich dem steigenden Judenhass gegenüber sieht und wie unterschiedlich die Menschen darauf reagieren, wird hier sehr deutlich dargestellt. Einige sehen die Gefahr sehr schnell, die von der NSDAP ausgeht und bemühen sich rechthzeitig Deutschland zu verlassen. Viele sind aber gutgläubig und wollen lange nicht wahrhaben, was in ihrer Heimat geschieht. Sie können sich die brutale Vorgehensweise, die Vertreibung und die Endlösung nicht vorstellen - was ich absolut nachvollziehen kann. Wir als allwissender Leser kennen die Geschichte, doch ich weiß nicht wie gefährlich ich die Situaion damals eingeschätzt hätte.
Ulrike Renk zeigt sehr genau auf, wie schwierig es für die Judenn war eine Ausreisegenehmigung zu bekommen und wie manche Menschen jahrelang darauf warten mussten.
Die Charaktere sind liebevoll gezeichnet und wachsen einem schnell ans Herz. Ruth ist aufgeweckt und neugierig. Sie ist in der nicht-jüdischen Schule beliebt und geht offen auf jeden zu. Ihre Ausdrucksweise fand ich allerdings nicht immer ihrem Alter angemessen. Ihre kleine Schwester Ilse ist eher ängstlich und schüchtern. Sie bleibt lieber alleine und hat auch nur wenige Freunde.
Auch die Großeltern väterlicherseits, Wilhelmine und Valentin, sowie die sehr kühle Großmutter Emilia, die als strenge und herrische Geschäftsfrau das ganze Gegenteil ihrer warmherzigen Tochter Martha ist, werden sehr lebendig dargestellt. Bis zum kleinsten Nebencharakter hatte ich alle Figuren vor Augen und konnte sie mir gut vorstellen.
Schreibstil:
Der Schreibstil ist eher einfach und dem Alter von Ruth angepasst. Er ist flüssig und obwohl der Roman einige Längen hat, lässt er sich gut lesen. Die eher große Schrift trägt ebenfalls dazu bei.
Ulrike Renk hat sich für ihren Roman viel Zeit genommen und hervorragend recherchiert. Der Umschwung der politischen Lage wird ausgezeichnet wiedergegeben. Die Atmosphäre ist hervorragend eingefangen.
Zu Beginn des Buches gibt es ein Personenregister. Am Ende findet man ein interessantes Nachwort der Autorin, in dem sie erzählt, wie sie auf die Lebensgeschichte von Ruth Meyer gestoßen ist.
Fazit:
Ein noch unspektakulärer Beginn der Reihe, der einigen Längen beinhaltet, jedoch im letzten Drittel sein Potential entfaltet. Für die folgenden Teile erhoffe ich mir mehr Handlung, interessante Wendungen und Spannung. Ich werde sicherlich auch Band 2 lesen, denn ich bin neugierig wie es mit den Meyers weitergeht....