Ein Zeugnis der Zeit, das sehr zum Nachdenken anregt
Die Hunde und die Wölfe
Die Autorin Irene Nemirovsky wuchs in Russland auf und floh während der Oktoberrevolution 1917 mit ihren Eltern nach Frankreich. Da sie nie die französische Staatsangehörigkeit erhielt, wurde sie 1942 ...
Die Autorin Irene Nemirovsky wuchs in Russland auf und floh während der Oktoberrevolution 1917 mit ihren Eltern nach Frankreich. Da sie nie die französische Staatsangehörigkeit erhielt, wurde sie 1942 von den Deutschen deportiert. Sie starb in Auschwitz.
Von der Autorin habe ich bereits den hervorragenden Roman “Suite francaise” gelesen, in dem sie die Besetzung Frankreichs durch die Deutschen beschreibt.
In ihrem Buch “Die Hunde und die Wölfe” geht es um die jüdischen Kinder Ada und Ben und Harry, die in Kiew in unterschiedlichen Gesellschaftsschichten aufwachsen. Nach einem Progrom aus ihrer Heimat geflohen, sehen sie sich als Erwachsene in Paris wieder.
Der Erzählstil Nemirovskys gefällt mir weiterhin gut und die Beschreibung der Protagonisten sind sehr detailliert.
Es fiel mir jedoch schwer, eine emotionale Verbindung zu den Figuren aufzubauen. Einerseits war mir die Kultur des unbedingten Aufstiegs und der Abgrenzung sehr fern. Andererseits zeichnet die Autorin oft auch ein sehr kritisches und abfälliges Bild von ihren Charakteren, in dem sie typische Vorurteile ausspricht, die man heute als nicht politisch korrekt bezeichnen würde.
Ada verliebt sich aus der Ferne in den reichen Harry. Ihre Emotionen kann ich nicht nachvollziehen. Er ist passiv und verwöhnt und trotzdem sieht sie ihn als Anführer.
Der Roman hat mich sehr zum Nachdenken gebracht. Die Themen von Abgrenzung und Flüchtlingsstatus sind auch heute wieder sehr aktuell.
Wo ziehen wir Grenzen? Zwischen Gesellschaftsschichten, Kulturen, Religionen, Geschlechtern? Warum haben wir Angst vor dem Fremden, dem Anderen?
Nicht umsonst heißt der Roman “Die Hunde und die Wölfe”.
Die Wölfe als Sinnbild der hungrigen Unterschicht, die sich mit Zähnen und Klauen nach oben kämpfen will. Die Hunde mit dem diamantenbesetzten Halsband sind die verwöhnte, verweichlichte Oberschicht, die sich durch Kultur von den “Wilden” abgrenzt.
In der Kritik an den Klassenunterschieden sehe ich eine Parallele zu “Die Zeitmaschine” von Wells aus dem Jahr 1895. Die Eloi, die im Überfluss leben, sind verweichlicht. Und die hässlichen Morlocks sind scheinbar ihre Sklaven.
In Nemirovskys Roman strebt die Unterschicht nach der Ehe oder Geschäftsbeziehungen mit den höheren Klassen. Und trotzdem verachtet sie die Verweichlichung der Oberen.
Und die Oberschicht wiederum nutzt die Gier und die Skrupellosigkeit der unteren Klassen für ihre Zwecke und findet das Ungebändigte der Frauen reizvoll. Und gleichzeitig verurteilt sie diese als Wilde.
Ausgrenzung - ein wichtiges Thema. Nur im dem Extrem, in dem Nemirovsky es in ihrem Roman schildert, sehe ich es in der heutigen Gesellschaft nicht mehr (noch nicht wieder?). Aber vielleicht sind die Unterschiede jetzt einfach verwischter und die Grenzen subtiler geworden und die Extreme haben sich ins Internet verlagert. Zudem scheinen sich die Klassen stärker vom gesellschaftlichen Status weg auf Körperbilder und Lebensweisen verschoben zu haben.
Es fällt mir schwer, das Buch zu beurteilen. Es war definitiv nicht unterhaltsam oder spannend geschrieben. Die Kultur war mir fremd und ich hatte Mühe mich in die Beweggründe der Figuren hineinzuversetzen, denen Status wichtiger war als Liebe. Trotzdem ist es ein wichtiges Zeugnis der Zeit und regt zum Nachdenken und Diskutieren an.